SoZSozialistische Zeitung |
Es hätte kein Sozialforum in Russland gegeben, hätten nicht im
Januar und Februar Russlandweit soziale Proteste stattgefunden. Diese wiederum waren eine Reaktion auf das
Gesetz 122, das die Abschaffung lebenswichtiger Subventionen für die Bevölkerung zum Gegenstand
hat. Die Teilnehmenden am Sozialforum haben sich deshalb mehrfach bei der Regierung, insbesondere bei
Staatspräsident Putin dafür bedankt, dass »sie uns alle zusammengebracht haben«.
Das ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit, denn
noch vor kurzem war es undenkbar, dass man dem politischen Kontrahenten zuhörte, auch wenn er das
kapitalistische System noch so sehr geißelte. Schon allein deshalb kann das Sozialforum mit seinen
mehr als 1000 Anwesenden Anarchisten, unterschiedliche Kommunisten, Grüne, Sozialdemokraten,
Linksliberale und sonstige schwer Einzuordnende als enormer Erfolg gewertet werden.
Das Gesetz 122 streicht die unentgeltliche
Nutzung öffentlicher Transportmittel für Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Das ist in dreifacher
Hinsicht zu verurteilen: Vielfach sind diese Veteranen arm. Das Selbstverständnis eines Volkes wird
angegriffen und Geschichte umbewertet.
Die am Forum Teilnehmenden stellten daher
wiederholt eindeutig klar, dass der militärische Sieg der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus
für ihr individuelles Selbstverständnis wesentlich ist.
Darüber hinaus trifft das asoziale Gesetz
seit Anfang des Jahres insbesondere die kommunale Wohnungswirtschaft und die Bildung. Im Rahmen des
Sozialforums wurde deshalb ein insbesondere von jungen Menschen besuchtes Bildungsforum veranstaltet; die
Versammlung von sozialen Bewegungen erklärte die kommunale Wohnungswirtschaft zum Kampagnenschwerpunkt
2005. Das Forum »Bildung für alle« will Ausgangspunkt einer Bewegung mit gleichem Namen
sein, zu der regionale Konferenzen und ein Netzwerk von Linken in der Volksbildung gehören.
Wie wichtig es ist, dass sich die anwesenden
Komitees zur Verteidigung der Bürger- und Arbeitsrechte auf eine systematische regionale und nationale
Zusammenarbeit verständigt haben, illustriert die offiziell bei durchschnittlich 26,7% liegende
Preissteigerung für Leistungen der kommunalen Wohnungswirtschaft im 1.Quartal 2005. Die Preise sollen
in den nächsten Monaten noch weiter um 4050% steigen! Man bedenke: Mehr als 20% der
abhängig Beschäftigten erhalten einen Lohn, der unter dem Existenzminimum liegt. Die Mehrheit von
ihnen sind Ärzte, Lehrerinnen, Kunst- und Kulturschaffende. 40% der Beschäftigten sind arm, 20%
der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, die viel zu niedrig angesetzt ist.
Angesichts dieser extremen sozialen Probleme
und der in der Bevölkerung vorherrschenden Verzweiflung und Ohnmacht nötigen die auf dem Forum
vorgestellten fantasievollen Beispiele sozialen Widerstands zu lernwilligem Respekt. Dazu gehören
politische Aufklärung in der Straßenbahn oder auch die nachahmenswerte Forum-Zeitung Dajosch (Du
gibst), die sich als Ratgeberin und Kontaktvermittlerin für Aktive und solche, die es werden wollen,
versteht sie veröffentlicht derartige Erfahrungen.
Leider wurden sie auf dem Forum recht wenig
diskutiert. Eher drehte sich die Debatte um die »jetzt vorzubereitende sozialistische
Revolution«. Die so komplizierte Frage, wie ein gemeinsames Interesse vom Neoliberalismus Betroffener
artikuliert werden kann, wurde oftmals sehr vorschnell beantwortet. Das veranlasste den ukrainischen
Sozialisten Kusmin, eindringlich die sehr unmittelbaren Folgen und Gefahren »orangefarbener
Revolutionen« zu erklären, was ihm zwar die Unterstützung des russischen
Sozialforumsaktivisten Kiwa Maidanik einbrachte, aber kaum die gebotene Nachdenklichkeit.
Maidanik nannte fünf Hauptgefahren
für das weitere Erstarken neoliberaler Herrschaft: Die Entwicklung von Imperien, die Rolle des
Imperiums USA in der Welt, die Aufrechterhaltung der Auslandsschulden armer Länder, die
Passivität der Massen und die »ewigen Wahrheiten« der Linken.
Letztere werden auch in Russland noch viel zu
sehr gepflegt und leider häufig auch mit nationalistischen Tönen verknüpft. Doch das wird
nicht (mehr) einfach hingenommen, schon gar nicht von sich als »grün« bezeichnenden
Streiterinnen für soziale Gerechtigkeit und demokratischen Sozialismus, die gegenwärtig eine
Kampagne gegen die Privatisierung der Wälder organisieren. Auch seitens der Anarchisten kam deutlich
vernehmbarer Protest, gewürzt mit sympathischem Witz. Beim Ruf »Es leben die Roten!« zogen
sie mit schwarzen Fahnen durch den Raum. Und als der Vorsitzende des Tschernobyl-Komitees Nationalismus
versprühte, riefen sie »Unser Vaterland ist die Menschheit«, was im Russischen ein
rhythmischer Reim ist.
Hoffentlich gelingt es ihnen, erfolgreich zu
helfen, dass beim 2.Russischen Sozialforum die in Russland zahlreichen Migrantinnen und Migranten erlebbar
vertreten sind und auch gehört werden. Ein solches 2.Forum könnte ein weiterer, vielleicht sogar
noch größerer Erfolg werden, wenn es gelingt, die zahlreichen Absprachen zu Aktionen, Kampagnen
und Vernetzungen zu realisieren. Den »Schwarzarbeiterinnen der Revolution«, wie der Grüne
Schubin die Organisatorinnen des Forums nannte, und den Linken in Europa wäre das nur zu
wünschen.
Judith Dellheim
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