SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2005, Seite 22

Erstes Russisches Sozialforum

Neue Zusammenarbeit

Es hätte kein Sozialforum in Russland gegeben, hätten nicht im Januar und Februar Russlandweit soziale Proteste stattgefunden. Diese wiederum waren eine Reaktion auf das Gesetz 122, das die Abschaffung lebenswichtiger Subventionen für die Bevölkerung zum Gegenstand hat. Die Teilnehmenden am Sozialforum haben sich deshalb mehrfach bei der Regierung, insbesondere bei Staatspräsident Putin dafür bedankt, dass »sie uns alle zusammengebracht haben«.
Das ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit, denn noch vor kurzem war es undenkbar, dass man dem politischen Kontrahenten zuhörte, auch wenn er das kapitalistische System noch so sehr geißelte. Schon allein deshalb kann das Sozialforum mit seinen mehr als 1000 Anwesenden — Anarchisten, unterschiedliche Kommunisten, Grüne, Sozialdemokraten, Linksliberale und sonstige schwer Einzuordnende — als enormer Erfolg gewertet werden.
Das Gesetz 122 streicht die unentgeltliche Nutzung öffentlicher Transportmittel für Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Das ist in dreifacher Hinsicht zu verurteilen: Vielfach sind diese Veteranen arm. Das Selbstverständnis eines Volkes wird angegriffen und Geschichte umbewertet.
Die am Forum Teilnehmenden stellten daher wiederholt eindeutig klar, dass der militärische Sieg der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus für ihr individuelles Selbstverständnis wesentlich ist.
Darüber hinaus trifft das asoziale Gesetz seit Anfang des Jahres insbesondere die kommunale Wohnungswirtschaft und die Bildung. Im Rahmen des Sozialforums wurde deshalb ein insbesondere von jungen Menschen besuchtes Bildungsforum veranstaltet; die Versammlung von sozialen Bewegungen erklärte die kommunale Wohnungswirtschaft zum Kampagnenschwerpunkt 2005. Das Forum »Bildung für alle« will Ausgangspunkt einer Bewegung mit gleichem Namen sein, zu der regionale Konferenzen und ein Netzwerk von Linken in der Volksbildung gehören.
Wie wichtig es ist, dass sich die anwesenden Komitees zur Verteidigung der Bürger- und Arbeitsrechte auf eine systematische regionale und nationale Zusammenarbeit verständigt haben, illustriert die offiziell bei durchschnittlich 26,7% liegende Preissteigerung für Leistungen der kommunalen Wohnungswirtschaft im 1.Quartal 2005. Die Preise sollen in den nächsten Monaten noch weiter um 40—50% steigen! Man bedenke: Mehr als 20% der abhängig Beschäftigten erhalten einen Lohn, der unter dem Existenzminimum liegt. Die Mehrheit von ihnen sind Ärzte, Lehrerinnen, Kunst- und Kulturschaffende. 40% der Beschäftigten sind arm, 20% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, die viel zu niedrig angesetzt ist.
Angesichts dieser extremen sozialen Probleme und der in der Bevölkerung vorherrschenden Verzweiflung und Ohnmacht nötigen die auf dem Forum vorgestellten fantasievollen Beispiele sozialen Widerstands zu lernwilligem Respekt. Dazu gehören politische Aufklärung in der Straßenbahn oder auch die nachahmenswerte Forum-Zeitung Dajosch (Du gibst), die sich als Ratgeberin und Kontaktvermittlerin für Aktive und solche, die es werden wollen, versteht — sie veröffentlicht derartige Erfahrungen.
Leider wurden sie auf dem Forum recht wenig diskutiert. Eher drehte sich die Debatte um die »jetzt vorzubereitende sozialistische Revolution«. Die so komplizierte Frage, wie ein gemeinsames Interesse vom Neoliberalismus Betroffener artikuliert werden kann, wurde oftmals sehr vorschnell beantwortet. Das veranlasste den ukrainischen Sozialisten Kusmin, eindringlich die sehr unmittelbaren Folgen und Gefahren »orangefarbener Revolutionen« zu erklären, was ihm zwar die Unterstützung des russischen Sozialforumsaktivisten Kiwa Maidanik einbrachte, aber kaum die gebotene Nachdenklichkeit.
Maidanik nannte fünf Hauptgefahren für das weitere Erstarken neoliberaler Herrschaft: Die Entwicklung von Imperien, die Rolle des Imperiums USA in der Welt, die Aufrechterhaltung der Auslandsschulden armer Länder, die Passivität der Massen und die »ewigen Wahrheiten« der Linken.
Letztere werden auch in Russland noch viel zu sehr gepflegt und leider häufig auch mit nationalistischen Tönen verknüpft. Doch das wird nicht (mehr) einfach hingenommen, schon gar nicht von sich als »grün« bezeichnenden Streiterinnen für soziale Gerechtigkeit und demokratischen Sozialismus, die gegenwärtig eine Kampagne gegen die Privatisierung der Wälder organisieren. Auch seitens der Anarchisten kam deutlich vernehmbarer Protest, gewürzt mit sympathischem Witz. Beim Ruf »Es leben die Roten!« zogen sie mit schwarzen Fahnen durch den Raum. Und als der Vorsitzende des Tschernobyl-Komitees Nationalismus versprühte, riefen sie »Unser Vaterland ist die Menschheit«, was im Russischen ein rhythmischer Reim ist.
Hoffentlich gelingt es ihnen, erfolgreich zu helfen, dass beim 2.Russischen Sozialforum die in Russland zahlreichen Migrantinnen und Migranten erlebbar vertreten sind und auch gehört werden. Ein solches 2.Forum könnte ein weiterer, vielleicht sogar noch größerer Erfolg werden, wenn es gelingt, die zahlreichen Absprachen zu Aktionen, Kampagnen und Vernetzungen zu realisieren. Den »Schwarzarbeiterinnen der Revolution«, wie der Grüne Schubin die Organisatorinnen des Forums nannte, und den Linken in Europa wäre das nur zu wünschen.

Judith Dellheim

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