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Der Grund dafür, dass der Islam in den Niederlanden so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist
natürlich der Mord an Van Gogh und die Drohungen gegen Ayaan Hirsi Ali. Genau wie sie bist du ein
Ungläubiger, der aus der islamischen Welt stammt. Hast du dich je bedroht gefühlt?
Nein, nie. Ich reise viel, sowohl innerhalb der muslimischen wie auch der nichtmuslimischen Welt,
aber ich habe mich noch nie bedroht gefühlt. Der Grund dafür ist wohl, dass auch Menschen, die
mit mir in Bezug auf die Religion nicht übereinstimmen, wissen, dass ich ein Gegner des Imperialismus
bin. Oft kritisiere ich den Imperialismus und seine Auswirkungen besser als die Gläubigen. Aber Hirsi
Ali und Menschen wie sie in den USA und Europa haben einen Beruf daraus gemacht, den Islam anzugreifen. Es
gibt andere wichtige Fragen auf der Welt. Warum konzentrieren sich diese Menschen unaufhörlich auf den
Islam? Durch die Art und Weise, wie sie den Islam angreifen, nähren sie die bestehenden Vorurteile.
Und deshalb werden sie gehasst. Es gibt keinerlei Rechtfertigung oder Entschuldigung für Gewalttaten
gegen diese Menschen. Man muss mit ihnen diskutieren. Aber es ist ein Zeichen der Verzweiflung, dass
Menschen so erregt werden, dass sie Gewalt anwenden.
Glaubst du nicht, dass Gewalt und Drohungen gegen diese Menschen auch bedrohlich sind für
Menschen mit einem muslimischen Hintergrund, die nicht der Norm entsprechen? Für Ungläubige,
Feministinnen, Homosexuelle?
Sicher. Aber man muss wissen, dass die islamische Gemeinschaft sehr verschieden ist. Die Leute
wissen sehr wenig über die muslimische Welt. Ihr Bild von ihr wird zum größten Teil bestimmt
durch Migrantengemeinschaften in Europa, und selbst diese unterscheiden sich untereinander sehr. Das Leben
in der muslimischen Welt ist nicht einförmig; es gibt Gläubige, Ungläubige, Atheisten. Ob
die Ungläubigen sich frei äußern können, ist offensichtlich eine andere Frage. Oft
können sie das nicht, aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Wie dem auch sei, Religion
ist nicht das zentrale Element in der Existenz von Muslimen. Menschen arbeiten, essen, machen Liebe, bilden
Familien. Manche gehen in die Moschee, andere nicht. Genau wie in anderen Teilen der Welt. Der Unterschied
ist allein, dass es in einigen Ländern verboten ist, den Islam zu kritisieren. Aber in der Türkei
ist das z.B. nicht so. In anderen Ländern war es möglich, aber es ist nun schwieriger geworden.
Die Religion erhält wohl eine größere Bedeutung. Für junge Muslime im Westen
ist der Islam in zunehmendem Maße ein zentrales Element ihrer Identität.
Das glaube ich auch. Es ist eine Folge verschiedener Faktoren, aber vor allem von der Leere des
heutigen Kapitalismus. Es gibt keine wirklichen Alternativen. Viele Menschen fühlen dies und wenden
sich der Religion zu, nicht nur Muslime. Menschen, die sich vor zwanzig, dreißig Jahren überhaupt
nicht als religiös betrachteten, wenden sich nun dem Islam, dem Christentum, dem Buddhismus usw. zu.
Warum? Weil der Kapitalismus wie eine Dampfwalze alles plattmacht und die Menschen für sich einen Ort
der Zuflucht schaffen wollen. Weil viele keine politischen und sozialökonomischen Alternativen mehr
sehen, kommen sie auf die Religion zurück. Darum betrachten Menschen in Migrantengemeinschaften ihre
Identität in rein religiösen Begriffen, und darin sehe ich keine gute Entwicklung. Aber ich meine
auch, dass sich dies in den folgenden Generationen verändern wird. Man kann jetzt in dem Ausmaß,
in dem die Leute religiös sind, alle Varianten sehen. Ich glaube nicht, dass der Rückfall in die
Religion universell ist.
Ein Aspekt der heutigen orientalistischen Darstellung von Muslimen ist, dass sie als Menschen
geschildert werden, die mit dem Koran nur unkritisch und dogmatisch umgehen können, während
andere Gläubige, vor allem die Christen, als fähig betrachtet werden, eine moderne Interpretation
ihres heiligen Buches zu liefern.
Das ist in der Tat eine irrsinnige, aber weit verbreitete Vorstellung. Deshalb betone ich die
Diversität in der muslimischen Welt. In Polen spielte die Kirche seinerzeit eine bedeutende Rolle im
Kampf gegen das stalinistische Regime. Im Westen wurde ihre Rolle enthusiastisch begrüßt. Warum
wird mit zweierlei Maß gemessen? Viele Menschen in der muslimischen Welt betrachten einen Angriff auf
den Islam als unannehmbar. Viele, und ich kenne einige von ihnen, die durchaus nicht religiös sind,
sagen: »Ja, ich bin ein Muslim.« Das ist eine Folge davon, wie die USA es zum Teil unakzeptabel
gemacht haben, ein Muslim zu sein.
Ihr lebt selbst in einem Land, in dem die
Religion äußerst dominierend war. Der protestantische Fundamentalismus ist eine der schlimmsten
Formen des Fundamentalismus. Protestantische Fundamentalisten aus England und den Niederlanden haben in
Nordamerika einen Genozid begangen; sie haben die einheimische Bevölkerung im Namen des Fortschritts
ausgerottet etwas, was Muslime noch nicht getan haben.
Überall, wo man das Wiederaufleben der Religion, von der du sprichst, sieht unter
Muslimen im Westen, unter amerikanischen Christen… , stellt man fest, dass konservative
Vorstellungen über Sexualität eine große Rolle spielen.
Das ist immer so gewesen. Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus die Menschen dazu treibt,
konservative Vorstellungen von Sexualität zu haben, doch der Kapitalismus will, dass sie in
Kernfamilien, von einander isoliert, aufwachsen. Wenn die Religion zu einem zentralen Bestandteil der
Identität eines Menschen wird, dann will er anders sein als seine Umgebung. Er kann dies, indem er
eine konservative sexuelle Moral predigt, sich gegen Homosexualität ausspricht, indem er behauptet,
dass Frauen minderwertig seien. Bei der Bildung der eigenen Identität spielt die Frage der
Sexualität eine große Rolle. Die Menschen sind ständig auf der Suche nach Unterscheidungen,
und die trifft man am bequemsten in der Religion.
Gibt es in der muslimischen Welt eine Zukunft für die feministische Bewegung und in den
muslimischen Gemeinschaften hier im Westen?
Sicher. Es hat bspw. eine sehr effektive Bewegung in Pakistan gegeben gegen die islamische
Gesetzgebung, die 1977 während der Diktatur eingeführt wurde. Im ganzen Land organisierten sich
Frauen, machten Demonstrationen und kritisierten die Sharia. Ägypten, Marokko, Nigeria und Tunesien
kannten feministische Bewegungen. Die Staaten reagierten hierauf dadurch, dass sie entweder selbst
fundamentalistische Bewegungen schufen, wie in Pakistan, oder mit solchen zusammenarbeiteten, wie in
Ägypten. Im Tausch gegen eine konservative und frauenfeindliche Politik versprachen die
Fundamentalisten, den Staat nicht länger anzugreifen.
Im Westen müssen in Zukunft feministische
Strömungen entstehen, die gleichzeitig explizit antiimperialistisch sind. Dann wird es möglich
sein, junge muslimische Frauen für den Feminismus zu gewinnen. Leider existiert der Feminismus im
Westen kaum als eine politische Bewegung.
Im Rahmen der Betonung von Unterschieden sprichst du in The Clash of Fundamentalisms von einem
»offiziellen Multikulturalismus«.
Ja, darin liegt die Ursache für die Suche nach Unterschieden. Wenn man nach
Großbritannien schaut, stellt man fest, dass die Religion gefördert wird durch die
Regierung und vor allem durch Blair. Selbst nach dem 11.September wird die Bildung religiöser
Körperschaften, bspw. religiöser Schulen, gefördert. Innerhalb des »offiziellen
Multikulturalismus« werden Unterschiede zwischen den Menschen als Tugend angesehen. Zum Teil ist dies
ja auch so die Menschen sind verschieden. Aber als Sozialist weiß ich auch, dass es sich lohnt,
sich zu vereinigen. Ich glaube, dass unter jungen Menschen mehr Übereinstimmungen als Unterschiede
bestehen. Ich bin optimistisch: Die Betonung der religiösen Trennlinien wird in Europa nicht lange
dauern, vielleicht dreißig oder vierzig Jahre.
Warum?
Zynisch ausgedrückt: weil der Kapitalismus blind ist gegenüber Geschlecht, Hautfarbe oder
Religion. In dem Maße, wie er wächst und sich ausbreitet, wird er alle Kennzeichen der Menschen
beseitigen. So ist es stets gelaufen.
Ist die Linke fähig, eine Alternative aufzeigen?
Die Linke ist gegenwärtig sehr schwach. Was die radikale Linke betrifft, so bin ich nicht
optimistisch. In Großbritannien gehöre ich [dem linken Bündnis] Respect nicht an. Ich habe
in einigen Punkten Differenzen mit ihnen. Die Art und Weise, in der Respect vorgeht, ist reiner
Opportunismus. Ich bin gewiss für die Zusammenarbeit mit muslimischen Gruppen, aber Ziel von
Sozialisten muss es sein, religiöse Menschen für den eigenen Standpunkt zu gewinnen und nicht in
ihr Lager überzugehen.
Man sollte also auf weniger unkritische Weise zusammenarbeiten?
Allerdings. Wie es Respect macht, wird es nicht funktionieren. Man muss ein neutrales Terrain
finden, das als Basis für eine Diskussion dienen kann. Man darf nicht schon von vornherein den eigenen
Standpunkt aufgeben oder verschleiern. Viele der Gruppen, mit denen eine Zusammenarbeit besteht, haben sehr
konservative und reaktionäre Wurzeln. In den Ländern, aus denen sie kommen, wie z.B. Ägypten
oder Indonesien, sind sie stets Gegner der Linken gewesen.
Zu den Problemen, vor denen Antirassisten und Sozialisten stehen, gehört, dass wir
einerseits Solidarität mit diskriminierten Minderheiten üben wollen, andererseits aber
konservativen Denkmustern, die z.T. von diesen Minderheiten vertreten werden, kritisch
gegenüberstehen.
Die Aufgabe für Sozialisten ist klar: Die muslimischen Gemeinschaften müssen verteidigt
werden gegen Dämonisierung und Repression, gegen die weit verbreitete Vorstellung, dass der
Terrorismus dem Islam eigen ist. Dies muss alles heftig bekämpft werden. Aber gleichzeitig darf man
über den sozialen Konservatismus in diesen Gemeinschaften nicht hinweggehen und ihn nicht
verschweigen. Man muss versuchen, diese Menschen für die eigenen Ideen zu gewinnen.
Ich möchte ein Beispiel geben: Das letzte
Kapitel in meinem Buch ist ein offener Brief an junge Muslime. Nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte,
etwa ein Jahr später, erhielt ich einen Brief von einigen jungen Muslimen. Diese dachten, dass sie der
Anlass für diesen Brief gewesen wären, weil sie Bemerkungen gemacht hatten, die in dem Brief
erwähnt werden. Sie waren erstaunt, dass sie ernst genommen worden waren, und hatten auch viel
untereinander diskutiert. Das führte dazu, dass zwei von ihnen Mitglieder der Scottish Socialist Party
wurden.
Ziel muss sein, die Stellung der
Jüngeren, die progressiv und säkular ausgerichtet sind, zu stärken. Das ist sehr wichtig. Es
sind viele progressive Menschen in den muslimischen Gemeinschaften zu finden, aber infolge der
Atmosphäre dort können sie begreiflicherweise nicht nach außen treten. Das sind die
Menschen, die die säkularen Kräfte bilden müssen und die man unterstützen muss. Vor
allem unter jungen Frauen kann man diese Menschen finden. Wir können sehr viel dabei gewinnen, wenn
wir sie nicht ignorieren, wozu aber die extreme Linke in Frankreich neigt. Die französische extreme
Linke ist das Spiegelbild zum britischen Opportunismus. Sie hat kaum nennenswerten Kontakt zur muslimischen
Gemeinschaft und betrachtet dies nicht als Priorität. Beide Richtungen irren sich wir
müssen einen Mittelweg finden.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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