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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2005, Seite 17

100 Jahre Jean-Paul Sartre

Ein französischer Mythos

Seit Voltaire kürt die intellektuelle Welt in Frankreich »große Schriftsteller« — wahlweise als Vertreter des nationalen Gewissens, Verteidiger einer großen Sache, Freiheitskämpfer, Widerstandskämpfer gegen Unterdrückung und Tyrannei.

Victor Hugo symbolisierte die Opposition gegen das Zweite Kaiserreich, er kämpfte gegen die Todesstrafe, setzte sich für die Sache Garibaldis ein, verteidigte John Brown, träumte von einem Europa der Genies und der Freiheit und rief Paris zur Hauptstadt der Völker aus. Auf ihn folgte Emile Zola, Kopf der Kampagne für Dreyfus, auf ihn Anatole France, der Sozialist geworden war und trotz Nobelpreis die russische Revolution begrüßte. André Gide nach ihnen hatte schon nicht mehr dieselbe Statur. Der Rückgang der Revolution in der UdSSR löschte diese Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg schied die Zweiteilung der Welt die Intelligenz in zwei Lager, das eine so kompromittiert wie das andere. Jede ehrenwerte Sache, die gegen das eine verteidigt wurde, wurde in den Schmutz gezogen durch die Mängel desjenigen, auf das man sich stützte. Keine Rede mehr vom Bewusstsein, das sich über die Lage der Klasse erhob. Konnte Sartre die Rolle ausfüllen, zu einer Zeit, wo Louis Aragon und André Malraux zu stark gezeichnet waren, der eine von seiner Mitgliedschaft in der KP, der andere vom aufsteigenden Gaullismus?
Für eine ganze Schicht jugendlicher Intellektueller, die sich von der Résistance angezogen fühlte, konnte Sartre als jemand erscheinen, der über dem Streit stand. Er umgab sich mit der unentbehrlichen Aura der Résistance, obgleich bei näherem Hinsehen oberflächlich und obwohl seine Anprangerung der Tyrannei in den Fliegen der Zweideutigkeiten nicht entbehrte. Plötzlich fand er sich von beiden Seiten angegriffen, fand gleichlautende Bezichtigungen der Unmoral gegen ihn gerichtet, die ihm nützten, als es galt, die moralische Ordnung des Vichy-Regimes hinter sich zu lassen.
Sein literarisches Vorkriegswerk war unbeachtet geblieben. Es wurde erst später gelesen. Das Sein und das Nichts hatte wenige Leser, und nur Berufsphilosophen kannten dessen Wurzeln bei Husserl und Heidegger. Niemandem schien der Widerspruch aufzufallen zwischen der Behauptung, der »Existenzialismus [sei] ein Humanismus« und dem »Ekel«, der sein Werk durchtränkt. Sein Denken bewegte sich in einem labilen Gleichgewicht zwischen schwarzem Menschenhass und der übersteigerten Spannung existenzieller Freiheit; es stand damit in perfekter Übereinstimmung mit dem Pessismus einer Generation, die die Besetzung, nach den raschen Desillusionierungen der Libération, angeekelt hinter sich gelassen hatte. Sartre bot die Utopie eines rein persönlichen »Engagements« ohne eine andere Verantwortung als die gegen sich selbst. »Wir mussten der Nachkriegszeit eine Ideologie geben«, schreibt Simone de Beauvoir in In den besten Jahren. Das konnte Sartre liefern… weniger als zehn Jahre hindurch.

Idealistischer Philosoph

Dem sartreschen Gleichgewicht, am Rande der sozialen und politischen Bipolarität, fehlten nicht die Stolpersteine. Hatte er nicht Anfang 1945 eine offizielle Einladung des US-Außenministeriums zu einer zweimonatigen Reise in die USA angenommen, um wenig später in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Les Temps Modernes Balzac, Flaubert und Proust wegen »Nicht-Engagements« zu geißeln — eine literarische Ästhetik, die ihn in arge Nähe zum »sozialistischen Realismus« brachte?
Es war Michel Leiris, damals ein enger Freund von Sartre und einer der ersten Redakteure von Les Temps Modernes, der im Dezember 1947 in seinem Journal gut die Situation umschrieb, in der sie damals lebten: »Widerspruch, in dem ich mich befinde. In der Innenpolitik, kann ich sagen, bin ich im Großen und Ganzen mit der Arbeiterklasse solidarisch. In der Außenpolitik fühle ich mich den Angelsachsen (mindestens den Engländern) weit mehr verbunden als den Russen. Das wäre noch gar nichts, auch wenn diese doppelte Sympathie in einer Welt, die als in zwei Blöcke gespalten beschrieben wird, etwas Unbequemes haben kann: auf der einen Seite der amerikanische (oder kapitalistische) Block, auf der anderen Seite der russische (oder proletarische) Block. Bei näherem Hinsehen wird der Widerspruch noch auf die Spitze getrieben: Wenn ich mich von England angezogen fühle, dann weil dieses Land für mich Symbol für eine gewisse Lebensart ist, untrennbar verbunden mit einem gewissen Lebensstandard … Ein Lebensstandard der, wie man es auch dreht und wendet, die Zustimmung zu bestimmten, strikt bürgerlichen Werten impliziert: und sei es nur jener Begriff der Ehre, den man zum Beispiel in den Romanen von Joseph Conrad findet. Der Teufelskreis wird perfekt, wenn ich zum Abschluss hinzufüge, dass es eben jener ›Ehrenkodex‹ ist, der bewirkt, dass ich meine, mich von der Arbeiterklasse nicht entsolidarisieren zu können, selbst wenn die Kommunisten sie in Fehler führen.«
Sartre gibt es nicht zu, aber es ist eben jenes Unverständnis der politischen und sozialen Realitäten, verbrämt von zwei dominierenden, einander entgegengesetzten Ideologien, welche die Schwankungen seiner eigenen kleinen Ideologie als idealistischer Philosoph erklärt.
Horkheimer in New York hatte es abgelehnt, ihn zu treffen; er sagte zu Norbert Guterman, das sei »ein Ganove« und »ein Erpresser in der Welt der Philosophie«. In Paris denunzierten die Intellektuellen der KP seine »metaphysische Pathologie«. Jean Kanapa, der sein Schüler gewesen war, enthüllte dass dieser Schriftsteller, »der alles gelesen hat«, Marx nicht gelesen hat. Umso weniger hatte er Trotzki gelesen. Diese Ignoranz erklärt seine beständige Gleichsetzung von Marxismus und Kommunismus mit dem Stalinismus. Auch seine verachtende Zurückweisung des Trotzkismus, den er in altem Hass, sichtbar seit Die Mauer, mit dem Surrealismus verband.
Mit dem Ende der in Jalta und Potsdam geschmiedeten Heiligen Allianz trieb ihn sein Wunsch, »an der Seite der Arbeiterklasse zu stehen«, zu einer ersten »realpolitischen« Rechtfertigung des Stalinismus. 1948 ist in Die schmutzigen Hände der Stalinist Hoederer der wahre Revolutionär, der als Realist akzeptiert, sich die Hände schmutzig zu machen, während Hugo als unverbesserlicher Idealist dargestellt wird, ein »Romantiker«. Im selben Sinne ist La Mort dans l‘Ame geschrieben: der Stalinist Brunet ist die wirklich »positive Person« im Roman, während der Existenzialist Mathieu (ein Double von Sartre) sinnlos für eine Sache stirbt, an die er nicht glaubt. Übrigens lässt sich an diesem Schluss des 3.Bands von Die Wege der Freiheit die Ursache selbst erkennen, weshalb das Werk unvollendet blieb: Unbewusst mündet es in die existenzielle Sackgasse des sartreschen Existenzialismus.
Sartre sucht nach einem dritten Weg zwischen den Supermächten. Er wird meinen, den Generalstab dafür unter den Intellektuellen, den verlorenen Soldaten der Résistance, des Trotzkismus, der sozialistischen Linken gefunden zu haben: Claude Bourdet, David Rousset, Gilles Martinet. Die Gruppe nennt sich Rassemblement démocratique révolutionnaire (RDR). Doch unter dem Eindruck des Kalten Kriegs schwenkte das RDR, das zahlreiche ehemalige Halbstalinisten zählt, plötzlich zu einem radikalen Antistalinismus und suchte Unterstützung, auch finanzielle, bei den US-amerikanischen Gewerkschaften. Sartre wandte sich von der Gruppe ab, sie löste sich auf. Sie hatte keine zwei Jahre überdauert.

Weggefährte des Stalinismus

Nach seinem Rückzug auf das Feld der Literatur wird Sartre von der KP umworben. Für eine neue Phase von über zehn Jahren ist er jetzt »der Weggefährte« Nr.1. Die großen antititoistischen Schauprozesse in den osteuropäischen Ländern lassen ihn stumm. Der Tod Stalins beseitigt bei ihm letzte Zweifel, sofern er noch welche hatte. 1954 unternimmt er die obligate Reise in die Sowjetunion, staunt, wie es üblich ist, und geht selbst soweit, die alsbaldige Überholung des französischen Lebensstandards vorauszusagen.
Wird ihm die ungarische Revolution 1956 die Augen öffnen? Er hat die erste sowjetische Intervention verurteilt, darüber vergessen seine Schmeichler heute, dass er die zweite begrüßte. Er rechtfertigte das im Artikel »Stalins Phantom« in der Dezember-Januar-Ausgabe 1956/57 von Les Temps Modernes. Darin lieferte er eine theoretische Begründung für seine Unterstützung des Stalinismus: »Es gab keinen anderen Sozialismus, außer im platonischen Himmel.« Damals schreibt er Nekrassow, ein offen stalinistisches Werk.
Auf diesem Weg verliert er fast alle seine Freunde aus den ersten Jahren von Les Temps Modernes. Doch die radikale politische Opposition, die er einnahm, und die Beziehungen, die er über die Literatur mit führenden Persönlichkeiten der Dritten Welt knüpfte, ermöglichen schließlich, dass er wieder Fuß fasst, als der Algerienkrieg ausbricht. Paradoxerweise sind es die Surrealisten, die er stets nur geschmäht hat, im Bund mit jugendlichen Oppositionellen in der KP, die ihm die Plattform liefern, von der aus er in die Höhen des »großen französischen Bewusstseins« gehoben werden wird. Jean Schuster, politischer Sprecher der Surrealistengruppe, und Dionys Mascolo, im Begriff mit dem Stalinismus zu brechen, sind die beiden Autoren vom ersten Entwurf des »Manifests der 121« — für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Algerienkrieg. Die Unterschrift Sartres, der mittlerweile internationales Renommé erlangt hat, mehr durch seine Reisen und Begegnungen — u.a. mit Castro, Tito, Mao und Chruschtschow — als durch seine Werke, macht das Manifest zu einer Kriegsmaschine, gegen die die Repression nicht ankommt; nur Beamte kann sie drangsalieren. Die gesamte Crème der französischen Intelligenz unterzeichnete damals: André Breton, Nathalie Sarraute, Alain Resnais, Simone Signoret, Edouard Glissant, Pierre Boulez… Sich hinwegsetzend über das Gekeifere der Presse und aller Kräfte der Reaktion fand De Gaulle das Wort: »Man kann Voltaire nicht gefangennehmen.« Der General und Staatspräsident hatte seine Regelung für diesen desaströsen Krieg bereits im Kopf, bislang ist es noch sein Geheimnis. Dennoch, die Intervention des großen Mannes der Rechten hat den großen Mann der Linken auf den Thron gehoben.
Einige Jahre lang trägt Sartre diesen Ehrenpurpur. Das ist seine dritte Periode, die kürzeste. Er schreibt ein Vorwort zu Frantz Fanon und zu Paul Nizan, die von François Maspéro neu aufgelegt werden. Er macht sich zum Champion der Revolutionen in der Dritten Welt. Er schreibt Die Worte, eine Art kurzer Autobiografie seiner Entwicklung, die seine Prägung durch die Kindheit beschreibt. Es ist ohne Zweifel sein bestes Buch.

Parasitäre Ideologie

Von seinen unlösbaren Widersprüchen erholt er sich nicht mehr. Einerseits akzeptiert er, sowjetische Dissidenten zu unterstützen, dann wieder sorgt er unter tschechischen Studierenden für Skandal, weil er den »sozialistischen Realismus« verteidigt. Die Studierenden hatten nicht gemerkt, dass dies die Ästhetik aller seiner literarischen Schöpfungen nach dem Krieg war.
1968, dessen studentische Akteure Marxisten oder Libertäre sind, beginnt sein politischer und theoretischer Niedergang, begleitet vom körperlichen Verfall. An die Stelle seiner stalinistischen oder mit dem Stalinismus sympathisierenden Weggefährten (mehr oder weniger Parasiten) treten einige maoistische Abenteurer, Parasiten auch sie, die sich seiner als Schutzschild bedienen. Es lässt es mit sich machen. In diesen letzten Jahren konzentriert er sich auf die Niederschrift von Der Idiot der Familie, ein unvollendetes Monsterwerk, das sicher auch nicht zu vollenden ist, über seine Hassliebe zu Flaubert.
Dem Anschein zum Trotz ist Sartre am Ende, sein Mythos schläft ein und wird erst posthum wieder erweckt, erst in unserer Zeit, die das Scheitern der »Neuen Philosophen« und kulturelle Umbrüche bringt.
Sein letztes theoretisches Werk, die Kritik der dialektischen Vernunft, sollte der Schlussstein seines entscheidenden Beitrags zum Denken seiner Zeit sein — es wurde ein weiteres Monster. Er hat darin die Theorie aufgestellt, es gebe in einer Epoche lediglich eine einzige Philosophie — Kant z.B. am Ende des 18.Jahrhunderts. Er wollte gern Marx als Philosophen des 20.Jahrhunderts akzeptieren, aber korrigiert durch Sartres Existenzialismus. Er hat vom historischen und dialektischen Materialismus nichts verstanden. Ihm dies zu beweisen, dazu reichte Althusser im Jahr 1966, bei einer Debatte an der Ecole Normale. Der Existenzialismus ist nicht mehr geworden als eine parasitäre Ideologie des orientierungslosen Kleinbürgertums zur Zeit der Blockspaltung.
Bezeichnenderweise bleibt nichts von der Literatur, die er schrieb. Von seinen Theaterstücken werden nur noch die beiden Stücke aus der Kriegszeit aufgeführt, vor allem Geschlossene Gesellschaft. Von den Prosastücken liest man nur noch Die Worte und Der Ekel. Die Zeit wird wieder Ordnung in die Hierarchie der französischen Literaturwerte bringen und dem zum Recht verhelfen, dem Sartre sich widersetzt hat. So Boris Vian, der aus der Redaktion von Les Temps Modernes vertrieben wurde; in den 70er Jahren wurde er »entdeckt« und ist einer der beliebtesten Autoren der Jugend geworden. Jean Malaquais hat einst mit Les Javanais den Prix Renaudot gegen Sartres Mauer gewonnen. Sein späteres Werk Planète sans visa wurde dann regelrecht verschwiegen. Heute steht er wieder in der hohen Achtung, die er verdient. Und das sind nur Beispiele.

Michel Lequenne

Michel Lequenne ist 1921 in Le Havre geboren. In der Nachkriegszeit Mitarbeit in verschiedenen Verlagen und Zeitschriften, zuletzt an Politis und Critique Communiste. Er veröffentlichte jüngst ein Buch über Christoph Kolumbus. (Übersetzung: Angela Klein.)




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