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In den letzten 15 Jahren hat sich Götz Aly einen bedeutenden Platz in
der Geschichtsschreibung über den Holocaust gesichert. Seine Arbeiten sind immer originell und voll
neuer Erkenntnisse. Sie nötigen uns, Probleme unter ungewohnten Blickwinkeln anzugehen und erregen
leidenschaftliche Debatten. Leider beschränken sie sich nicht darauf, neue Forschungspfade zu
erschließen, fast immer haben sie den Mangel, diese ins Extreme zu radikalisieren, weil die Sichtweise
einseitig ist und deshalb unvermeidlich zu anfechtbaren Schlussfolgerungen führt. Sein jüngstes
Werk (Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005)
bildet keine Ausnahme.
Nach Ansicht Alys haben die Historiker, die
sich mit der Nazi-Politik während des Krieges befasst haben, deren ökonomische Grundlagen nicht
erfasst. An Hand von Recherchen in deutschen und einigen europäischen Archiven, deren Ergebnisse in
epischer Breite dargelegt werden, versucht er nachzuweisen, dass es eine politische Ökonomie des
Nationalsozialismus, seines europäischen Krieges und des Holocaust gegeben habe. Die Wucht des
zusammengetragenen Materials erregt Bewunderung. Wo er jedoch behauptet, diese politische Ökonomie
habe die politischen Entscheidungen der Nazis diktiert, Hitlers Krieg und der Holocaust seien die Folge
eines wirtschaftlichen Kalküls gewesen und Mittel zum Zweck, einen nationalsozialistischen
»Sozialstaat« errichten, überzeugt er nicht. »Die Sorge um das Volkswohl der
Deutschen«, schreibt er, »bildete die entscheidende Triebkraft für die Politik des
Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens« (S.345).
Aly ruft zunächst den Ersten Weltkrieg in Erinnerung, der die deutsche Gesellschaft zutiefst
traumatisiert hatte und Hitler Ende der 30er Jahre umtrieb. Während dieses Krieges war die deutsche
Bevölkerung entsetzlich verarmt; das Kaiserreich hatte ihn zum Preis einer enormen Verschuldung des
Staates geführt. Das Heer schwoll auf Kosten der Bevölkerung an, und die britische Blockade trieb
Hunderttausende von Deutschen in die Hungersnot. Der Zusammenbruch der inneren Front machte die
Fortführung des Krieges unmöglich; an seine Stelle traten zu Beginn der Weimarer Republik
Inflation und Bürgerkrieg. Für Hitler mussten die Fehler aus den Jahren 191418 unbedingt
vermieden werden.
Im Gegensatz zur klassischen These, die in
Nazideutschland eine chaotische »Polykratie« und ein System sieht, das von zahlreichen Konflikten
zwischen entgegengesetzten Machtzentren zerrissen wird, sieht Aly in Hitler einen gewandten Politiker, der
stets die Rolle als der große Integrator gespielt hat; ein charismatischer Chef, dem es dank seiner
Sozialpolitik stets gelang, in der deutschen Bevölkerung einen Massenanhang zu finden. Mit dem
Nationalsozialismus verband sich eine Weltsicht, die streng in Ungleichheit wurzelte und sich auf eine
unverrückbare Rassenhierarchie gründete. Das stand jedoch nicht im Widerspruch zu einer
»egalitären« Vorstellung der deutschen Rassengemeinschaft. Der Rassismus war nach außen
gekehrt, er prägte die Politik des Regimes jenseits der nationalen Grenzen. Innerhalb des deutschen
Volkes überwog die Sorge um die Verbesserung der Lebensbedingungen und um einen allgemeinen, staatlich
gesicherten Wohlstand.
Dies erklärt laut Aly die massive
Zustimmung der Zivilgesellschaft zum Nazi-Regime und seiner Politik bis zum Kriegsende. Anders gesagt wurde
Deutschland nicht ideologisch nazifiziert, sondern von der Sozialpolitik der Nazis erobert. Hitler hatte
beschlossen, die Lasten des Krieges nicht auf die deutsche Bevölkerung abzuwälzen, er musste sich
selbst finanzieren. Aly behauptet, zwei Drittel der deutschen Kriegsausgaben seien durch wirtschaftliche
Enteignung und Arisierungspolitik in den eroberten Ländern finanziert worden; 95% der deutschen
Bevölkerung hätten keinerlei Kriegssteuern zahlen müssen. Er behauptet sogar, zwischen 1939
und 1945 hätte die große Mehrheit der Deutschen über mehr Finanzmittel verfügt als in
den Jahren davor (S.326f.).
Diese Behauptungen scheinen uns anfechtbar. Ohne Zweifel plünderte das Deutsche Reich die eroberten
Länder systematisch aus. Aly beschreibt dies in allen Facetten, manchmal mit einer lästigen
Verbohrtheit in Details die Beschaffung von russischem Schinken, französischem Wein und
norwegischen Heringen, die Tonnen von Butter, Eiern, Gemüse, Schweinefleisch und Marmelade, die das
Oberkommando der in Norwegen aufgestellten Armee 1942 eintrieb. Manchmal drohen in dieser Masse von Zahlen
interessantere Informationen unterzugehen, wie die über Tausende von Konvois, die Möbel
enteigneter französischer, belgischer und niederländischer Juden nach Deutschland brachten, um
sie an ausgebombte deutsche Zivilisten zu verteilen.
In den besetzten sowjetischen Gebieten plante
die Wehrmacht die Hungersnot, um die eigenen Soldaten zu ernähren. In seinen öffentlichen Reden
hat Göring aus der »Hungerpolitik« kein Geheimnis gemacht; sie sollte systematisch die
sowjetischen Kriegsgefangenen, die Juden und große Teile der slawischen Bevölkerungen treffen
über 20 Millionen von ihnen wurden an der Ostfront in den ersten Kriegsjahren die
Grundnahrungsmittel vorenthalten (S.205).
Der Holocaust reiht sich nach Ansicht von Aly
in diesen Rahmen der allgemeinen Plünderung Europas ein (S.318). Er nennt als Beispiel Griechenland,
wo die Deportation der Juden aus Saloniki nach Rhodos, Keos und Kreta eindeutig eine wirtschaftliche
Funktion erfüllt habe, weil damit die Besetzung des Landes durch die Wehrmacht nach dem italienischen
Debakel 1943 finanziert werden konnte aus dem Verkauf der enteigneten Güter wurde die
örtliche Bevölkerung zufriedengestellt und die deutschen Soldaten ernährt (S.308).
Vor diesem Hintergrund kommt Aly zu einer
neuen Bewertung der Verstrickung der Wehrmacht in den Holocaust. Diese habe sich nicht auf die Teilnahme an
Mordaktionen beschränkt und sie sei auch nicht allein aus der Zustimmung zu den nazistischen
Grundsätzen des Rassenkriegs zu erklären. Es gebe auch strukturelle Gründe dafür: die
deutsche Armee war in den Holocaust involviert, weil dieser ihr erlaubte, den Krieg zu führen, er
lieferte ihm einen Teil seiner materiellen Subsistenzmittel.
Auch die deutsche Zivilbevölkerung
brauchte die Naziideologie nicht zu teilen. Sie konnte ein Regime unterstützen, das sich daran gemacht
hatte, Europa zu erobern, ohne Opfer von ihr zu verlangen, im Gegenteil, ihr waren Glück und Wohlstand
versprochen (und wurden zum Teil verwirklicht). Aly beschließt sein Werk mit der Umformulierung eines
bekannten Aphorismus von Max Horkheimer: »Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher
Deutscher nicht reden will, der sollte vom National-Sozialismus und vom Holocaust schweigen.« (S.362.)
In einer Besprechung für die Taz
(12.3.2005) hat der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze Autor eines Buchs über die
Wirtschaftspolitik des »Dritten Reichs«, das im nächsten Jahr bei Cambridge University Press
erscheinen soll die These von Götz Aly einer radikalen Kritik unterzogen. Seine Berechnungen
seien falsch, weil er die Gesamtheit der geplünderten Ressourcen aus den besetzten Länden auf der
einen Seite gegeneinander rechne, die unter den Deutschen zusätzlich erhobenen Kriegssteuern auf der
anderen Seite. Tooze schätzt, dass drei Viertel der Kriegsausgaben aus der deutschen Wirtschaft
geflossen seien im Wesentlichen von Versicherungsgesellschaften, Banken und Sparkassen. Die
Plünderungen in den besetzten Ländern seien erheblich gewesen (25% aller Kriegsausgaben), aber
nicht kriegsentscheidend. Was den Holocaust betrifft, muss Aly selber zugeben, dass die deutsche Wirtschaft
davon nur bescheidenen »Nutzen« gehabt habe. Die »Arisierungspolitik« der Nazis
hätte ganze 5% der Einnahmen in die Kriegskassen gespült, über die gesamte Dauer des Krieges
hinweg (S.313).
Das enorme Zahlenmaterial, das Aly vorlegt, verschafft ihm eine tiefere Kenntnis der Wirtschaftspolitik
der Nazis. Er bestätigt damit Analysen, die andere deutsche Historiker, vor allem Martin Broszat,
schon vor ihm geleistet haben: auch sie haben die Bedeutung der Sozialpolitik der Nazis unterstrichen. Er
bestätigt auch heute in Vergessenheit geratene Interpretationen einiger marxistischer Ökonomen
wie Charles Bettelheim oder Ernest Mandel, der die deutsche Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus als
eine Mischung aus Sklaverei und Sozialstaat charakterisiert hatte. Diese beiden Elemente sind miteinander
nicht unvereinbar; auch die Auslöschung der Juden und Zigeuner konnte einhergehen mit einer
Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen für Mitglieder der Volksgemeinschaft.
Unwahrscheinlich ist jedoch seine
Schlussfolgerung, die Sozialpolitik sei die Triebkraft des Nazikriegs gewesen, und die Konzentrationslager
seien erbaut worden, um die deutsche Wirtschaft durchzurationalisieren. Das kann Aly nicht beweisen.
Nachdem die Nazis den Völkermord beschlossen hatten, aus Gründen, die mit ihrer Weltsicht, ihrem
biologischen Rassismus, ihrem Antikommunismus und ihrer Gleichsetzung des Lebensraums mit der
»jüdisch-bolschewistischen« UdSSR zusammenhingen, versuchten sie, ihn so
»rationell« wie möglich durchzuführen, hierbei schlugen sie auch Profit aus der
Enteignung der Opfer. Wenn es eine politische Ökonomie des Holocaust gibt, dann erklärt sie nicht
das Konzept, nur einige Aspekte seiner Durchführung.
Im Grunde schafft es Aly nie, den
Grundwiderspruch zu lösen, der sein Werk von Anfang bis Ende durchzieht: Auf der einen Seite definiert
er den Nationalsozialismus als eine der großen »sozial- und nationalrevolutionären
Utopien« des 20.Jahrhunderts. Auf der anderen Seite zeichnet er seine Führer als traditionelle
Politiker, die um die Zustimmung ihrer Wähler bemüht sind. Wären Hitler, Himmler oder
Goebbels klassische Stimmungspolitiker gewesen, wie Aly sie darstellt, hätten sie nicht einen in
seinem Ausgang mehr als ungewissen Krieg angezettelt, um Europa zu unterwerfen, und auch nicht das
utopische Unterfangen, die ethnische Karte des Kontinents neu zu zeichnen. Sie hätten sich 1938 mit
der Annexion Österreichs und des Sudetenlands zufrieden gegeben denn nach der Vollendung
»Großdeutschlands« stand Hitler auf dem Höhepunkt seiner Popularität.
Es ist wahr, dass die Arbeitslosigkeit durch
eine Politik der beschleunigten Aufrüstung überwunden wurde und die Kriegswirtschaft zu einem
neuen Konflikt trieb. Aber Hitler, Himmler und Goebbels waren keine traditionellen Politiker. Die
»Utopie« der Nazis, das hat ein Historiker wie Ian Kershaw gut gezeigt konnte nur um den
Preis einer fortschreitenden, permanenten Radikalisierung verwirklicht werden, die nicht zu stoppen war.
Sie mündete zuerst in den Krieg, danach in die systematische Plünderung des europäischen
Kontinents, die Versklavung der Slawen und die Vernichtung der Juden. Sie endete schließlich im
Untergang des Regimes in einer Verherrlichung der Gewalt.
Alys Untersuchungen enthüllen nicht das
Geheimnis des Nazismus; weder erklären sie seine Weltsicht noch sein Gesellschaftsprojekt noch seine
Politik im Ganzen. Sie bieten keinen Schlüssel zum Verständnis des Holocaust. Sie helfen aber zum
Verständnis dessen, was Hitler unter Volksgemeinschaft verstand und warum dieses Regime sich so lange
einer so großen Zustimmung in der deutschen Bevölkerung erfreuen konnte. Man muss die
überzogenen Schlussfolgerungen nicht teilen, um die Bedeutung des Werks zu würdigen.
Enzo Traverso
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