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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2005, Seite 18

Enzo Traverso über Götz Alys ›Hitlers Volksstaat‹

Aus Sorge um das Volkswohl?

In den letzten 15 Jahren hat sich Götz Aly einen bedeutenden Platz in der Geschichtsschreibung über den Holocaust gesichert. Seine Arbeiten sind immer originell und voll neuer Erkenntnisse. Sie nötigen uns, Probleme unter ungewohnten Blickwinkeln anzugehen und erregen leidenschaftliche Debatten. Leider beschränken sie sich nicht darauf, neue Forschungspfade zu erschließen, fast immer haben sie den Mangel, diese ins Extreme zu radikalisieren, weil die Sichtweise einseitig ist und deshalb unvermeidlich zu anfechtbaren Schlussfolgerungen führt. Sein jüngstes Werk (Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005) bildet keine Ausnahme.
Nach Ansicht Alys haben die Historiker, die sich mit der Nazi-Politik während des Krieges befasst haben, deren ökonomische Grundlagen nicht erfasst. An Hand von Recherchen in deutschen und einigen europäischen Archiven, deren Ergebnisse in epischer Breite dargelegt werden, versucht er nachzuweisen, dass es eine politische Ökonomie des Nationalsozialismus, seines europäischen Krieges und des Holocaust gegeben habe. Die Wucht des zusammengetragenen Materials erregt Bewunderung. Wo er jedoch behauptet, diese politische Ökonomie habe die politischen Entscheidungen der Nazis diktiert, Hitlers Krieg und der Holocaust seien die Folge eines wirtschaftlichen Kalküls gewesen und Mittel zum Zweck, einen nationalsozialistischen »Sozialstaat« errichten, überzeugt er nicht. »Die Sorge um das Volkswohl der Deutschen«, schreibt er, »bildete die entscheidende Triebkraft für die Politik des Terrorisierens, Versklavens und Ausrottens« (S.345).

Sozialpolitik statt Ideologie

Aly ruft zunächst den Ersten Weltkrieg in Erinnerung, der die deutsche Gesellschaft zutiefst traumatisiert hatte und Hitler Ende der 30er Jahre umtrieb. Während dieses Krieges war die deutsche Bevölkerung entsetzlich verarmt; das Kaiserreich hatte ihn zum Preis einer enormen Verschuldung des Staates geführt. Das Heer schwoll auf Kosten der Bevölkerung an, und die britische Blockade trieb Hunderttausende von Deutschen in die Hungersnot. Der Zusammenbruch der inneren Front machte die Fortführung des Krieges unmöglich; an seine Stelle traten zu Beginn der Weimarer Republik Inflation und Bürgerkrieg. Für Hitler mussten die Fehler aus den Jahren 1914—18 unbedingt vermieden werden.
Im Gegensatz zur klassischen These, die in Nazideutschland eine chaotische »Polykratie« und ein System sieht, das von zahlreichen Konflikten zwischen entgegengesetzten Machtzentren zerrissen wird, sieht Aly in Hitler einen gewandten Politiker, der stets die Rolle als der große Integrator gespielt hat; ein charismatischer Chef, dem es dank seiner Sozialpolitik stets gelang, in der deutschen Bevölkerung einen Massenanhang zu finden. Mit dem Nationalsozialismus verband sich eine Weltsicht, die streng in Ungleichheit wurzelte und sich auf eine unverrückbare Rassenhierarchie gründete. Das stand jedoch nicht im Widerspruch zu einer »egalitären« Vorstellung der deutschen Rassengemeinschaft. Der Rassismus war nach außen gekehrt, er prägte die Politik des Regimes jenseits der nationalen Grenzen. Innerhalb des deutschen Volkes überwog die Sorge um die Verbesserung der Lebensbedingungen und um einen allgemeinen, staatlich gesicherten Wohlstand.
Dies erklärt laut Aly die massive Zustimmung der Zivilgesellschaft zum Nazi-Regime und seiner Politik bis zum Kriegsende. Anders gesagt wurde Deutschland nicht ideologisch nazifiziert, sondern von der Sozialpolitik der Nazis erobert. Hitler hatte beschlossen, die Lasten des Krieges nicht auf die deutsche Bevölkerung abzuwälzen, er musste sich selbst finanzieren. Aly behauptet, zwei Drittel der deutschen Kriegsausgaben seien durch wirtschaftliche Enteignung und Arisierungspolitik in den eroberten Ländern finanziert worden; 95% der deutschen Bevölkerung hätten keinerlei Kriegssteuern zahlen müssen. Er behauptet sogar, zwischen 1939 und 1945 hätte die große Mehrheit der Deutschen über mehr Finanzmittel verfügt als in den Jahren davor (S.326f.).

Holocaust als Plünderung

Diese Behauptungen scheinen uns anfechtbar. Ohne Zweifel plünderte das Deutsche Reich die eroberten Länder systematisch aus. Aly beschreibt dies in allen Facetten, manchmal mit einer lästigen Verbohrtheit in Details — die Beschaffung von russischem Schinken, französischem Wein und norwegischen Heringen, die Tonnen von Butter, Eiern, Gemüse, Schweinefleisch und Marmelade, die das Oberkommando der in Norwegen aufgestellten Armee 1942 eintrieb. Manchmal drohen in dieser Masse von Zahlen interessantere Informationen unterzugehen, wie die über Tausende von Konvois, die Möbel enteigneter französischer, belgischer und niederländischer Juden nach Deutschland brachten, um sie an ausgebombte deutsche Zivilisten zu verteilen.
In den besetzten sowjetischen Gebieten plante die Wehrmacht die Hungersnot, um die eigenen Soldaten zu ernähren. In seinen öffentlichen Reden hat Göring aus der »Hungerpolitik« kein Geheimnis gemacht; sie sollte systematisch die sowjetischen Kriegsgefangenen, die Juden und große Teile der slawischen Bevölkerungen treffen — über 20 Millionen von ihnen wurden an der Ostfront in den ersten Kriegsjahren die Grundnahrungsmittel vorenthalten (S.205).
Der Holocaust reiht sich nach Ansicht von Aly in diesen Rahmen der allgemeinen Plünderung Europas ein (S.318). Er nennt als Beispiel Griechenland, wo die Deportation der Juden aus Saloniki nach Rhodos, Keos und Kreta eindeutig eine wirtschaftliche Funktion erfüllt habe, weil damit die Besetzung des Landes durch die Wehrmacht nach dem italienischen Debakel 1943 finanziert werden konnte — aus dem Verkauf der enteigneten Güter wurde die örtliche Bevölkerung zufriedengestellt und die deutschen Soldaten ernährt (S.308).
Vor diesem Hintergrund kommt Aly zu einer neuen Bewertung der Verstrickung der Wehrmacht in den Holocaust. Diese habe sich nicht auf die Teilnahme an Mordaktionen beschränkt und sie sei auch nicht allein aus der Zustimmung zu den nazistischen Grundsätzen des Rassenkriegs zu erklären. Es gebe auch strukturelle Gründe dafür: die deutsche Armee war in den Holocaust involviert, weil dieser ihr erlaubte, den Krieg zu führen, er lieferte ihm einen Teil seiner materiellen Subsistenzmittel.
Auch die deutsche Zivilbevölkerung brauchte die Naziideologie nicht zu teilen. Sie konnte ein Regime unterstützen, das sich daran gemacht hatte, Europa zu erobern, ohne Opfer von ihr zu verlangen, im Gegenteil, ihr waren Glück und Wohlstand versprochen (und wurden zum Teil verwirklicht). Aly beschließt sein Werk mit der Umformulierung eines bekannten Aphorismus von Max Horkheimer: »Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom National-Sozialismus und vom Holocaust schweigen.« (S.362.)
In einer Besprechung für die Taz (12.3.2005) hat der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze — Autor eines Buchs über die Wirtschaftspolitik des »Dritten Reichs«, das im nächsten Jahr bei Cambridge University Press erscheinen soll — die These von Götz Aly einer radikalen Kritik unterzogen. Seine Berechnungen seien falsch, weil er die Gesamtheit der geplünderten Ressourcen aus den besetzten Länden auf der einen Seite gegeneinander rechne, die unter den Deutschen zusätzlich erhobenen Kriegssteuern auf der anderen Seite. Tooze schätzt, dass drei Viertel der Kriegsausgaben aus der deutschen Wirtschaft geflossen seien — im Wesentlichen von Versicherungsgesellschaften, Banken und Sparkassen. Die Plünderungen in den besetzten Ländern seien erheblich gewesen (25% aller Kriegsausgaben), aber nicht kriegsentscheidend. Was den Holocaust betrifft, muss Aly selber zugeben, dass die deutsche Wirtschaft davon nur bescheidenen »Nutzen« gehabt habe. Die »Arisierungspolitik« der Nazis hätte ganze 5% der Einnahmen in die Kriegskassen gespült, über die gesamte Dauer des Krieges hinweg (S.313).

Eine große Utopie?

Das enorme Zahlenmaterial, das Aly vorlegt, verschafft ihm eine tiefere Kenntnis der Wirtschaftspolitik der Nazis. Er bestätigt damit Analysen, die andere deutsche Historiker, vor allem Martin Broszat, schon vor ihm geleistet haben: auch sie haben die Bedeutung der Sozialpolitik der Nazis unterstrichen. Er bestätigt auch heute in Vergessenheit geratene Interpretationen einiger marxistischer Ökonomen wie Charles Bettelheim oder Ernest Mandel, der die deutsche Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus als eine Mischung aus Sklaverei und Sozialstaat charakterisiert hatte. Diese beiden Elemente sind miteinander nicht unvereinbar; auch die Auslöschung der Juden und Zigeuner konnte einhergehen mit einer Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen für Mitglieder der Volksgemeinschaft.
Unwahrscheinlich ist jedoch seine Schlussfolgerung, die Sozialpolitik sei die Triebkraft des Nazikriegs gewesen, und die Konzentrationslager seien erbaut worden, um die deutsche Wirtschaft durchzurationalisieren. Das kann Aly nicht beweisen. Nachdem die Nazis den Völkermord beschlossen hatten, aus Gründen, die mit ihrer Weltsicht, ihrem biologischen Rassismus, ihrem Antikommunismus und ihrer Gleichsetzung des Lebensraums mit der »jüdisch-bolschewistischen« UdSSR zusammenhingen, versuchten sie, ihn so »rationell« wie möglich durchzuführen, hierbei schlugen sie auch Profit aus der Enteignung der Opfer. Wenn es eine politische Ökonomie des Holocaust gibt, dann erklärt sie nicht das Konzept, nur einige Aspekte seiner Durchführung.
Im Grunde schafft es Aly nie, den Grundwiderspruch zu lösen, der sein Werk von Anfang bis Ende durchzieht: Auf der einen Seite definiert er den Nationalsozialismus als eine der großen »sozial- und nationalrevolutionären Utopien« des 20.Jahrhunderts. Auf der anderen Seite zeichnet er seine Führer als traditionelle Politiker, die um die Zustimmung ihrer Wähler bemüht sind. Wären Hitler, Himmler oder Goebbels klassische Stimmungspolitiker gewesen, wie Aly sie darstellt, hätten sie nicht einen in seinem Ausgang mehr als ungewissen Krieg angezettelt, um Europa zu unterwerfen, und auch nicht das utopische Unterfangen, die ethnische Karte des Kontinents neu zu zeichnen. Sie hätten sich 1938 mit der Annexion Österreichs und des Sudetenlands zufrieden gegeben — denn nach der Vollendung »Großdeutschlands« stand Hitler auf dem Höhepunkt seiner Popularität.
Es ist wahr, dass die Arbeitslosigkeit durch eine Politik der beschleunigten Aufrüstung überwunden wurde und die Kriegswirtschaft zu einem neuen Konflikt trieb. Aber Hitler, Himmler und Goebbels waren keine traditionellen Politiker. Die »Utopie« der Nazis, das hat ein Historiker wie Ian Kershaw gut gezeigt — konnte nur um den Preis einer fortschreitenden, permanenten Radikalisierung verwirklicht werden, die nicht zu stoppen war. Sie mündete zuerst in den Krieg, danach in die systematische Plünderung des europäischen Kontinents, die Versklavung der Slawen und die Vernichtung der Juden. Sie endete schließlich im Untergang des Regimes in einer Verherrlichung der Gewalt.
Alys Untersuchungen enthüllen nicht das Geheimnis des Nazismus; weder erklären sie seine Weltsicht noch sein Gesellschaftsprojekt noch seine Politik im Ganzen. Sie bieten keinen Schlüssel zum Verständnis des Holocaust. Sie helfen aber zum Verständnis dessen, was Hitler unter Volksgemeinschaft verstand und warum dieses Regime sich so lange einer so großen Zustimmung in der deutschen Bevölkerung erfreuen konnte. Man muss die überzogenen Schlussfolgerungen nicht teilen, um die Bedeutung des Werks zu würdigen.

Enzo Traverso

Enzo Traverso ist Professor für Politische Wissenschaften und Zeitgeschichte an der Universität Amiens (Frankreich), Autor mehrerer Bücher über den Faschismus, Auschwitz und das Verhältnis der Linken zur Aufarbeitung des NS-Völkermords. Zuletzt erschienen: Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors (Neuer ISP-Verlag).



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