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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2005, Seite 21

Gloria Múñoz Ramírez: 20 + 10. Das Feuer und das Wort, Münster: Unrast Verlag, 2004, 264 Seiten, 18 Euro

Das Feuer und das Wort

WWährend meiner Ausbildung war ich überzeugt, dass die Waffen die Hauptrolle spielen würden. Doch nach den ersten Tagen des Jahres 1994, als wir zu erkennen gegeben hatten, wer wir sind und warum wir kämpfen, ist alles anders geworden«, berichtet Noé, Erster Hauptmann Insurgente der Infanterie der EZLN. »Aber«, so Noé, »selbst in diesem friedlichen Kampf mit der Zivilgesellschaft haben wir nie die Waffen abgelegt, weil wir wissen, dass sie Sicherheit bedeuten. Wenn wir mit friedlichen Mitteln keinen Erfolg haben, werden wir auch weiterhin bereit sein, zu den Waffen zu greifen.« Noé ist einer der vielen Zapatisten, die in 20 + 10. Das Feuer und das Wort zu Wort kommen.
Das Buch fasst die Geschichte der zapatistischen Befreiungsbewegung EZLN in Chiapas, Mexiko, zusammen, es erschien in Mexiko anlässlich des doppelten Jubiläums zum 20.Jahrestag der Gründung der Organisation (November 1983) und dem 10.Jahrestag seit Beginn des Krieges (1.Januar 1994). Seit Ende 2004 liegt es in deutscher Übersetzung vor. Geschrieben wurde es von der Journalistin Gloria Múñoz Ramírez, die ab 1997 sieben Jahre mit den Zapatistas lebte.
Im ersten Teil des Buches berichten Hauptmann Noé und verschiedene andere Zapatistas der ersten Stunde in kurzen Interviews aus der Anfangszeit und über ihre Eindrücke und Überlegungen vor dem Aufstand 1994. Ein — nicht systematischer — Blick zurück auf die ersten zehn Jahre, also vor dem öffentlichen Auftreten der EZLN. Zunächst geht es um persönliche Erinnerungen an Subcomandante Pedro, EZLN-Kämpfer der ersten Generation, der direkt in den Morgenstunden des 1.Januar 1994 im Kampf gegen die mexikanischen Bundesarmee fiel. Anschließend berichten neun Zapatistas, teils aus militärischen, teils aus zivilen Strukturen, über die Mühen und Hoffnungen der ersten Phase und wie sie das bisher Erreichte im Rückblick sehen.
Die Erzählungen fügen sich zu einem Bild über die gesellschaftliche Verankerung der EZLN in jener Aufbauphase zusammen. Interessante Innenansichten eines politischen und sozialen Prozesses, die bisher noch nicht in der vorliegenden Form öffentlich dargelegt wurden. Wer die Ereignisse in Chiapas seit dem Aufstand 1994 aufmerksam verfolgt hat, wird vor allem an diesem ersten Teil viele interessante Aspekte finden. Vor allem wird in diesem Teil deutlich, wie die ungewöhnliche Entwicklung der EZLN verlief. Als Guerilla entstanden und zehn Jahre lang auf konventionellen Krieg vorbereitet, dauerte ihr offener Krieg mit bewaffneten Auseinandersetzungen tatsächlich nur wenige Tage. Den Zapatistas gelang es in der folgenden Zeit ohne Waffeneinsatz, politische und mediale Räume zu erobern und breite Sympathien und Hoffnungen zu wecken.
In einem zweiten Teil wird die öffentliche Geschichte der EZLN erzählt — vom Aufstand am 1.1.1994 bis zur Einrichtung der eigenen regionalen Verwaltung »Juntas der guten Regierung« im August 2003, in einzelnen Kapiteln, Jahr für Jahr. Sehr deskriptiv gehalten wird hier zwar ein hervorragender Überblick geboten, jedoch weder Analyse betrieben noch auf Hintergründe eingegangen. Wer nicht die Gelegenheit hatte, die Ereignisse Aufmerksam mit zu verfolgen, bekommt eine gute Zusammenfassung serviert, allen anderen wird die Erinnerung aufgefrischt.
Bedeutend ist dies vor allem bezüglich der im August 2003 neu errichteten Verwaltungsstrukturen, die im deutschsprachigen Raum auf wenig mediale Beachtung gestoßen und daher weitgehend unverstanden geblieben sind. Für die zapatistische Basis war das allerdings einer der wichtigsten Schritte der vergangenen 20 Jahre. Sie »sieht schon den Horizont«, wie es in der EZLN-Hymne heißt.
Im dritten und letzten Teil gibt Subcomandante Marcos in einem langen Ferninterview — er hat die Antworten auf vorformulierte Fragen auf Band gesprochen — Auskunft über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der zapatistischen Bewegung und zieht eine recht positive Bilanz. Wie gewohnt mit viel Witz und Selbstironie.
Nicht nur das Marcos-Interview, sondern das gesamte Buch 20 + 10. Das Feuer und das Wort wurde von der Leitung der EZLN »autorisiert«. So ist es sehr interessant, aber auch aktiver Teil der zapatistischen Mythenbildung. Daher findet sich z.B. auf die Frage »Warum kamen die ersten Gründungsmitglieder der EZLN nach Chiapas und woher kamen sie?« keine Antwort. Die Zapatistas waren plötzlich da, einfach so.
Mit dem Wissen, nicht nur ein parteiisches Buch, sondern eines aus der Perspektive der EZLN zu lesen, ist es aber dennoch ein rundum gut zu lesendes bedeutendes zeithistorisches und politisches Dokument. Für Einsteiger wie Fortgeschrittene, für Zweifler wie Verehrer der zapatistischen Bewegung gleichermaßen geeignet.

Dario Azzellini

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