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Das französische und niederländische Nein zur EU-Verfassung haben die Union in eine tiefe
Krise gestürzt. Wie würdest du sie beschreiben?
Keineswegs. Die Krise, die wir jetzt erleben, ist die, die wir seit langem beschreiben: Mit einer
wirtschaftsliberalen Ausrichtung, mit der heutigen Struktur und dem derzeitigen institutionellen
Gefüge der EU kann Europa nicht aufgebaut werden. Ich habe immer diese beiden Aspekte kritisiert: die
wirtschaftliberalen Grundlage und ein System von Regierungsabsprachen, das nationalen Kalkülen der
Regierungen den Vorrang vor dem europäischen Gemeinschaftsinteresse gibt. Der EU-Gipfel Mitte Juni war
nur eine spektakuläre Manifestation dieser beiden Aspekte.
Nicht das Nein hat die EU in die Krise
gestürzt, sondern ein europäisches System, das unfähig ist, ein wirkliches Projekt für
Europa zu entwickeln, das sich mit kleinen Händeln zwischen Regierungen zufrieden gibt, und nicht die
Kraft hat, weitere Fortschritte in der europäischen Integration anzustreben. Das wiegt umso schwerer,
als es eine Erweiterung der Union gegeben hat, welche die Impotenz des institutionellen Gefüges noch
verstärkt und seine Unangemessenheit deutlich zum Audruck bringt.
Unter den europäischen Eliten gibt es jetzt ein starkes Bedürfnis, über die
Zukunft Europas zu diskutieren. Dabei kommen unterschiedliche Optionen zum Vorschein.
Sie haben ein großes Problem. Die Briten und andere Länder in ihrem Gefolge haben ein
extrem reduziertes Verständnis vom Aufbau der EU; sie beharren auf der alten Vorstellung von der EU
als einer Freihandelszone, die nur eine minimale institutionelle Ausstattung kennt. Demgegenüber haben
die anderen Länder, Frankreich und Deutschland vor allem, kein strategisches Projekt für einen
EU-Aufbau.
Wir vertreten, dass wir aus dieser Sackgasse
heraustreten müssen, um eine Lösung zu finden. Das Nein bei den Referenden hat offen kundgetan,
dass Europa nicht aufgebaut werden kann, wenn die Völker nicht beteiligt sind. Diese Frage rückt
jetzt immer stärker ins Zentrum. Die Regierungen haben für den weiteren Aufbau Europas weder
ausreichend Kraft, noch die Projekte noch den politischen Willen dazu. Eine politische Union geht nur, wenn
die Bevölkerungen in der EU sie wollen. Das erfordert aber eine demokratische Debatte um die
großen Fragen der EU-Verfassung, wie wir sie in Frankreich begonnen haben. Dabei werden
unterschiedliche Ansichten vertreten werden, aber es gibt kein anderes Mittel herauszufinden, was die
Bevölkerungen in dieser Sache tun wollen und was nicht.
Die offiziellen Stellen haben die Resultate der Referenden etwa so interpretiert: Die Völker
wollen weniger Europa und mehr nationale Souveränität, sie wollen mehr auf nationaler Ebene
entscheiden. (Allerdings wurde die Wirtschafts- und Währungsunion dabei von den Themen, über die
national entschieden werden sollte, ausgenommen.) Tony Blair stand mit dieser Lesart nicht allein da, er
bekam Unterstützung vom niederländischen Premier Balkenende, aber auch von der CDU in
Deutschland.
Es gibt zwei Aspekte darin.
Großbritannien steht mit seiner minimalistischen Vision vom Aufbau der EU nicht allein das ist
der eine. Der andere ist: Die von dir beschriebene Interpretation ist falsch. Aus der französischen
Kampagne für das Nein ergeben sich zwei Dinge: Wir wollen, dass Europa nur dann interveniert, wenn
seine Intervention notwendig ist, wenn dadurch ein Nutzen hinzukommt. Zum Beispiel sehe ich überhaupt
nicht, worin das öffentliche Interesse an der Richtlinie über die Liberalisierung der
Verkehrssysteme liegen soll, die der zuständige französische EU-Kommissar gerade vorbereitet,
womit die regionalen Verkehrsnetze für den allgemeinen Wettbewerb geöffnet werden. Das ist ein
weiterer Schritt der Liberalisierung, es ist aber auch ein Beispiel dafür, wo die EU nichts
beiträgt zur Verbesserung der lokalen und regionalen Transportnetze.
Europa sollte sich nicht um Dinge
kümmern, wo es keinen Nutzen bringt. Doch es sollte absolut dort über Mittel verfügen, eine
europäische Politik zu machen, wo es Nützliches und Notwendiges beitragen kann. Wir haben z.B.
gefordert, dass es eine echte europäische Sozialpolitik gibt. Wir fordern auch eine Harmonisierung der
Steuersysteme das ist nicht weniger Europa, sondern mehr Europa.
Die Interpretationen des französischen
Nein, die du zitiert hast, sind ein taktisches Manöver, sie benutzen das Nein, um Wasser auf die
eigenen Mühlen minimalistischer Europa-Vorstellungen zu lenken. Das hat mit dem französischen
Nein nichts zu tun.
Schlagen die Befürworter des Nein in Frankreich eine andere EU-Verfassung vor?
Alle sind damit einverstanden, dass es in allen europäischen Ländern eine breite Debatte
über die großen Linien des Aufbaus der EU geben soll. Meiner Meinung nach es gibt andere
müßte dies die Voraussetzung für einen verfassungsgebenden Prozess sein, der in eine
gewählte Konstituierende Versammlung mündet, die ihrerseits einen Grundlagentext erarbeitet.
Andere Kräfte wie die KP fordern lieber Neuverhandlungen unter dem Druck der Debatte in der
Bevölkerung zwar, aber geführt von den aktuellen Regierungen. Ich finde, das ist keine gute Idee.
Europa ist eine zu ernste Sache, als dass man sie den Staatsoberhäuptern überlassen sollte. Ich
habe auch den Eindruck, dass die erste Position in Europa an Boden gewinnt.
Nun sind die politischen Traditionen in Europa sehr unterschiedlich. In Deutschland z.B. hat man
uns einen konstituierenden Prozess stets vorenthalten mit Ausnahme der Weimarer Verfassung, die aus
der Novemberrevolution hervorging.
Sicher, aber die Debatte über Europa wird
eine Gelegenheit bieten, alle diese Fragen neu aufs Tapet zu bringen. Das muss Teil der Demokratiedebatte
sein, die wir in ganz Europa verbreiten wollen. Die Frage, die sich uns allen stellt, lautet: Sind die
Bevölkerungen bereit, in Europa ein politisches Machtzentrum zu errichten, das einer demokratischen
Kontrolle unterworfen ist, oder ziehen sie das ohnmächtige Geschacher zwischen den Regierungen vor,
zum Preis des Verzichts auf europäische Handlungsfähigkeit? Wollen wir ein Europa ohne Haushalt,
ohne Wirtschaftspolitik, ohne Sozialpolitik, ohne Steuerpolitik, das bei jeder größeren
Gelegenheit sein politisches Unvermögen unter Beweis stellt?
Ich befürworte den Sprung hin zu einem
europäischen politischen Machtzentrum. Aber ich weiss nicht, was das französische oder deutsche
oder dänische Volk denkt. Nur die politische Debatte kann das zeigen.
Eine solche Debatte lässt sich leichter führen, wenn man das Recht hat, über die
Verfassung abzustimmen. Besteht nicht die Gefahr dass dort, wo eine Bevölkerung dieses Recht nicht
hat, die Debatte reichlich abstrakt wird? Zumal jetzt, wo die ausstehenden Volksabstimmungen auf Eis gelegt
wurden?
Nein. Ich glaube nicht, dass es möglich
ist, eine umfassende Debatte in der Bevölkerung über die EU zu entfachen, wenn diese sich allein
um institutionelle Fragen dreht. Das sind Spezialistenfragen. Man muss umgekehrt ausgehen von den Aufgaben,
die eine EU haben soll. Wenn wir z.B. sagen, wir brauchen eine europäische Politik zur Bekämpfung
der Erwerbslosigkeit, wir brauchen europaweit soziale Rechte, dann sind das praktische Dinge, über die
die Menschen diskutieren können. Die institutionellen Kompetenzen der EU ergeben sich aus ihren
Aufgaben. Wenn die Regierungen sich aussuchen können, welche soziale Regelungen sie übernehmen
wollen, dann passiert es wie in Großbritannien, als die Grundrechtecharta diskutiert wurde. Damals
sagte Premier John Major: »Ich werde die Charta nicht unterzeichnen. Dann habt ihr die sozialen
Regelungen und ich die Arbeitsplätze.«
Eine europäische Gemeinschaft und mehr
noch eine europäische politische Union lassen sich nicht aufbauen, wenn die Länder dieselben
Rechte auf Zugang zum Gemeinsamen Markt haben, aber nicht dieselben Verpflichtungen. Ich bin dafür,
dass wir die britische Regierung zur Einhaltung sozialer Regelungen verpflichten. Dasselbe gilt für
die Steuerharmonisierung. Dazu braucht es Zuständigkeiten, die es heute nicht gibt. Dazu muss man in
diesen Bereichen den Zwang zur Einstimmigkeit aufgeben und zu Mehrheitsentscheidungen kommen.
Was meinst du, was das Europäische Sozialforum in dieser Situation tun kann?
Ich bin nicht ausreichend an diesem Prozess beteiligt. Ich habe es sehr bedauert, dass 2003 in
Paris die Debatte über Alternativen so dürftig war. In der Hauptsache hat man sich in Kritik
geübt. Dasselbe gilt im Übrigen für den größten Teil der französischen
Publikationen über die EU-Verfassung. Es ist höchste Zeit, dass wir jetzt mit den Alternativen
anfangen.
Die Sensibilität dafür wächst.
In einer Erklärung, die der Generalsekretär des EGB, John Monks, zum EU-Gipfel vorbereitet hatte,
fordert er neben dem sozialen Europa auch eine breite öffentliche Debatte, welches Europa wir wollen.
Als am Donnerstag vor dem EU-Gipfel die französische Delegation nach Brüssel reiste, wurde sie
vom luxemburgischen Außenminister, stellvertretend für den EU-Ratschef Junker, empfangen und
informiert, auch er wolle diese Forderung unterstützen.* Unter diesen Umständen hätte ein
Europäisches Sozialforum die Aufgabe, als stärkstmöglicher Verstärker für konkrete
Vorschläge für Alternativen zu dienen.
*Zeitgleich demonstrierten in Paris an die 5000 Menschen, in mehreren anderen französischen
Städten jeweils einige hundert, in Luxemburg 300400. In Brüssel organisierte das Kollektiv
für das Nein abends eine Kundgebung.
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