SoZSozialistische Zeitung |
Wir erleben gegenwärtig einen Prozess von historischer Tragweite. Mit Schröders nur schlecht kaschiertem
Rücktritt und der wahrscheinlichen Abwahl der »rot-grünen« Koalition auch auf Bundesebene endet nicht nur eine wahlpolitische Epoche.
Der parlamentarische Niedergang der SPD beschleunigt auch den Transformationsprozess der sozialdemokratischen Parteiorganisation von einer politisch-
bürokratischen Mitglieder- zu einer Wahl-, Dienstleistungs- und Karrieremaschine, die der US-amerikanischen Demokratischen Partei sehr viel näher
steht als der europäischen Nachkriegssozialdemokratie. Der Austritt von bisher fast 200000 alten Mitgliedern und der Neuformierungsprozesse eines kleinen
Teils dieser Mitglieder zu einer neuen linken, sich aus den sozialdemokratischen Traditionen speisenden, aber über diese hinausgehenden Partei wird in
Wechselwirkung mit der erneuten Transformation der postsozialistischen PDS die innenpolitischen Koordinaten Deutschlands auf die nächsten Jahre hinaus mit
prägen.
Auch wenn dieser Prozess ein von Traditionen und vorherrschenden Strukturen und Kräften
determinierter ist, er ist auch als solcher ein naturgemäß offener Prozess, von dem nicht feststeht, wie er sich weiter entfaltet.
Altes stirbt ab und Neues entsteht. Und alles andere als untypisch ist in solchen neuen Bewegungen,
dass sie in ihrer Anfangsphase von alten Begriffen und Persönlichkeiten repräsentiert und dominiert werden. Gregor Gysi und Oskar Lafontaine sind
solche Persönlichkeiten. Als Vertreter einer alten politischen Zeit werden sie zu Symbolen des neuen Aufbruchs. Der entscheidende Unterschied zwischen
beiden ist, dass Gysi gleichsam gegen seinen Willen aus der politisch und gesundheitlich bedingten Rente wieder auftaucht, während Lafontaine einen
wirklichen und dynamischen Transformationsprozess durchzumachen scheint.
Es war Lafontaine, der sich demonstrativ in die erste Reihe der Anti-Hartz/Schröder-Proteste
gestellt, sich mit den Opfern der herrschenden Politik gemein gemacht und den politischen Vereinigungsprozess der beiden Linksparteien wesentlich befördert
hat. Es war Lafontaine, der seine alten Verbindungen zum Establishment gekappt und die Grenzen seines alten politischen Reformismus gesprengt hat, als er begann,
das für einen wirklichen innenpolitischen Politikwechsel nötige Massenbewusstsein anzustacheln und in einen Organisationsprozess gesellschaftlicher
Gegenmacht fließen zu lassen. Oskar Lafontaine hat den gordischen Knoten gelöst, der ihn zeitlebens an die Strukturen des oligarchischen Parteienstaats
gefesselt hat. Es bleiben durchaus kritische Fragen an ihn, aber wenn sich in dieser Republik derzeit etwas bewegt, dann ist das Oskar Lafontaine. Das macht ihn so
gefährlich für die regierende Kaste.
Gerade weil er aus der herrschenden »Reform«logik heraus argumentiert und wie kein
anderer aufzuzeigen imstande ist, dass es wirtschafts- und sozialpolitische Alternativen zum Kurs der großen Koalition gibt, die nicht per se den Rahmen des
herrschenden Systems zu sprengen brauchen, spiegelt Lafontaine nicht nur jene neue Bewegung in ihren Stärken wie Halbheiten wieder. Gerade deswegen kann
er auch seine charismatische Rolle entfalten und wird entsprechend ehrlich und inbrünstig von den Regierenden und ihren Apologeten gefürchtet und
gehasst.
Was für diese historisch auf dem Spiel steht, ist nämlich viel. Was auf dem Spiel steht
ist die Zukunftsfähigkeit jener liberalen Variante des Neoliberalismus, für die Schröder und Fischer symbolisch stehen. Der Neoliberalismus hat
viele Gesichter und das letzte Jahrzehnt war, nicht nur in Deutschland, das Jahrzehnt des »progressiven« Neoliberalismus.
Im »progressiven« Neoliberalismus können sich soziale Aufsteiger und politische
Spontis als Staatschefs gefallen, Gewerkschafter zu »Genossen der Bosse« werden und konsumfreudige Citoyens sich ihre ökologischen
Häuser, gesunde Nahrung und den gleichgeschlechtlichen Trauschein leisten. Der zu entrichtende Preis dieses Deals, die Radikalisierung des Neoliberalismus in
Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Verarmung und zunehmende Ausbeutung der »gefährlichen Klassen« (und die nachhaltige
Entpolitisierung der konsumfreudigen Alltagskultur), schien sie nicht zu betreffen. Mit umso mehr Vehemenz reagieren die Profiteure dieses letzten Jahrzehnts nun
gegen die Opfer ihres historischen Kompromisses.
Sie bedienen sich eines wohl erprobten diskursiven Schnittmusters. Wer nach direkten Vorbildern
für die gegenwärtige Hetzkampagne gegen Lafontaine und »seine« Linkspartei sucht, findet sie im Selbstzerstörungsprozess der
radikalen Linken während der ersten Hälfte der 90er Jahre. Damals, im Angesicht einer epochalen Niederlage, begann die linke Abwendung vom
Sozialen zum (Anti-)Nationalen. Damals vermischten sich Linksradikalismus und Postmodernismus zu jener neuen zynischen Intelligenz, die im Sozialen nur
Nationales, im Linkssein nur Rechtssein und in jedweder Politik nur Verdruss zu sehen vermag. Wenn heute Lafontaine von rechten wie linken Liberalen unisono zum
Inbegriff des Nationalsozialisten gemacht wird, so findet sich genau dieses Schnittmuster seit Jahren in Zeitschriften wie Konkret und Jungle World. Auch die
Methoden sind dieselben: Zitate und Zitatfetzen werden hemmungslos aus ihrem Zusammenhang gerissen und zum Zwecke übelster Denunziation in ihrer
Bedeutung vollkommen verdreht.
Nehmen wir nur das wichtigste Argument der Denunzianten, den von Lafontaine benutzten
»Fremdarbeiter«-Begriff. In einer freien Rede hatte Lafontaine davon gesprochen, dass der Staat »verpflichtet (ist), zu verhindern, dass
Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen«. Er
erklärte hier aber nicht die Opfer herrschender Politik, die Migranten und Arbeitslosen, zur Ursache des Problems, um mit deren Ausgrenzung von den
wirklichen Klassenkämpfen abzulenken. Er wandte und wendet sich vielmehr explizit und nachweislich gegen Unternehmermacht und neoliberales
Politikkartell man lese nur seine Bücher und höre seine Reden.
Presse und Politik haben diesen Kontext schlicht verschwiegen und sich stattdessen auf den
ambivalenten Begriff als solchen gestürzt, ihn was historisch falsch ist zum »Nazi-Jargon« gestempelt und Lafontaine
schließlich dafür angegriffen, dass er sich nicht offen entschuldigt habe.
Neu-linke »political correctness« vermischt sich hier mit alt-linker »Kritik und
Selbstkritik« zum Zwecke des subalternen Kotaus, ohne auf Fakten und Kontexte Rücksicht zu nehmen. Lafontaine benutzte den Begriff eben nicht, um
»mit Attacken auf ›Fremdarbeiter‹« (Frankfurter Rundschau) Politik zu machen, sondern eindeutig im Kontext seiner Attacken auf
Unternehmer, die Arbeitsmigranten gezielt und unter schlimmsten Arbeitsbedingungen als Lohndrücker benutzen. Man muss jemanden schon falsch verstehen
wollen, um ambivalente Begriffe aus ihrem umso eindeutigeren Zusammenhang Forderungen nach gleichen Löhnen für gleiche Arbeit, nach
Mindestlöhnen und Sozialstandards herauszulösen.
Solchen Kampagnen geht es aber nicht darum, sachlich zu klären, was jemand gesagt oder
gemeint hat. Es geht darum, Tatbestände zuallererst herzustellen, d.h. die Angegriffenen zu Reaktionen zu provozieren, die man dann erneut gegen sie
verwenden kann. Aus Lafontaines ungeschickter Verteidigung, dass die Nazis »nicht in erster Linie fremdenfeindlich, sondern rassistisch (waren)«, und
dass dies »ein großer Unterschied« sei, macht der linksliberale Zyniker Micha Brumlik in der Frankfurter Rundschau stellvertretend
für viele andere , Lafontaine behaupte damit »in nun wahrhaft neonazistischer Weise, dass die Nationalsozialisten ja gar nicht fremdenfeindlich,
sondern eben (nur?) rassistisch gewesen seien«.
Hier haben wir es vermeintlich mit jenem Haider-Phänomen zu tun, die gesellschaftlich
tabuierte rechtsradikale Gesinnung durch Anspielungen oder verbale Vagheiten zu offenbaren. Jörg Lau, auch einer jener (links-)liberalen Feuilletonisten mit
linker Vergangenheit, hat diesen Ton in der Zeit (»Oskar Haider«) angestimmt, bevor ihn dann Daniel Cohn-Bendit, Jürgen Trittin und die anderen
üblichen Verdächtigen nicht minder geifernd aufgegriffen haben. Man muss jedoch bloß genau hinschauen, was solche Leute zum Beweis
auffahren und man versteht, dass hier verbale Aufgeblasenheit sachliche Argumentation vollkommen verdrängt hat.
Die Benutzung eines ambivalenten Begriffs und die Verweigerung eines »mea culpa«
stempeln Lafontaine also vermeintlich zum Populisten und dies heißt im bürgerlichen Denken offensichtlich immer auch zum
Nationalsozialisten, sprich: Neofaschisten. Und abermals geben »Linke« intellektuelle Schützenhilfe. Für Rudolf Walther, früher
unter dem Namen Ludi Lodovico Brumliks Genosse im Sozialistischen Büro, heute dessen postmoderner Genosse im liberalen Feuilleton, ist ebenfalls
in der Frankfurter Rundschau Populismus die »Aktivierung, Dramatisierung und Politisierung von Ressentiments gegenüber religiösen,
ethnischen, nationalen, sprachlichen und sozialen Minderheiten«. Mangelnde begriffliche Schärfe auch die Kapitalisten sind eine soziale (und
nationale und sprachliche, gelegentlich sogar ethnische und religiöse) Minderheit und welcher wirkliche Linke könnte die bekämpfen ohne die
Aktivierung, Dramatisierung und Politisierung von Ressentiments, sprich: Klassenhass offenbart, wie weit sich solche Leute von linkem Denken bereits
entfernt haben. Wer solchen »Populismus« ablehnt, lehnt linke politische Bewegung als solche ab.
Es gibt in dieser Republik viel Anlass, rassistischer und nationalistischer Stimmungsmache
entschieden entgegenzutreten. Mindestens ebensoviel Anlass gibt es aber auch, Sachverhalte und Kontexte aufzuklären und nicht auf hegemoniale
Diskursstrategien hereinzufallen. Der Hauptfeind emanzipativer Politik steht mindestens bis zu den Wahlen nicht rechtsaußen, er steht in der
liberalen Mitte.
Christoph Jünke
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