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Glaubt man den einschlägigen Statistiken, dann war die Bundesrepublik
in den 90er Jahren eine weitgehend streikfreie Zone. Seit Anfang der 80er Jahre ging die Zahl der
Streiktage pro tausend Beschäftigte kontinuierlich zurück. Ihren Höhe- oder besser Tiefpunkt
erreichte dieser Trend im Jahr 2000, als die Statistik null Streiktage pro tausend Beschäftigte
vermeldete.
Seit 1994/95, als sieben bzw. acht Tage
errechnet wurden, ging es rapide abwärts: drei, zwei, eins und schließlich die Null.
Einige Analysten sowohl von links wie von
rechts vertreten die These, dass der allgemeine Rückgang der Streiks auf die Strukturverschiebungen
bei den abhängig Beschäftigten zurückzuführen sei. Der Rückgang des Anteils der
Arbeiter im produzierenden Gewerbe habe dazu geführt im Dienstleistungsbereich werde generell
weniger gestreikt.
In der BRD z.B. sind inzwischen 66% der
abhängig Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig. Ist das der vielzitierte Abschied vom
Proletariat? Aber selbst das Institut der Deutschen Wirtschaft weist diesen Erklärungsansatz
zurück. Denn in Schweden bspw. halten sich die Zahlen in beiden Bereichen die Waage, in
Österreich lag 2003 der Dienstleistungssektor bei den Streiks sogar weit vor dem produzierenden
Gewerbe. In Frankreich, Großbritannien und Spanien hat die genannte Strukturänderung die
Streikraten seit dem Jahr 1991 im Gegenteil sogar erhöht.
Die Herren vom Institut haben eine andere
Erklärung, und die hat etwas für sich: »Die Gewerkschaften haben sich der Einsicht beugen
müssen, dass in Zeiten der Globalisierung erstreikte höhere Lohnabschlüsse eher schaden als
nützen. Denn die von höheren Arbeitskosten betroffenen Unternehmen sind häufig gezwungen,
die Produktion und damit Jobs ins Ausland zu verlagern.«
Folgt man dieser Argumentation, so müsste
man eigentlich annehmen, dass, bis das internationale Lohnniveau sich annähernd nivelliert hat,
überhaupt nicht mehr gestreikt würde. Aber siehe da: Im Jahr 2002 waren es in der BRD
plötzlich wieder zehn Streiktage und 2003 grob geschätzt zwischen fünf und sechs. (Für
2004 liegen dem Autor noch keine verlässlichen Zahlen vor.)
Dass dieser wenn auch im
internationalen Vergleich eher schwächliche Aufschwung bei den Arbeitskämpfen in der
Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird, ist für die Gewerkschaftslinke und die radikale Linke
insgesamt ein trauriges Kapitel. Nur wenige Streiks wie etwa bei Opel schaffen es bis in die
überregionalen Medien.
Und während bis Anfang der 80er Jahre die
Linke eine ihrer zentralen Aufgaben darin sah, für solche Auseinandersetzungen überregionale
Öffentlichkeit herzustellen und Solidarität zu organisieren, laufen sie heute häufig fast
unbemerkt ab, auch wenn sich z.B. das Labournet und einige linke Publikationsorgane bemühen, diese
Lücke zu füllen.
Dabei sind die Kämpfe, die in einzelnen
Betrieben in den letzten Jahren geführt wurden und werden, es durchaus wert, sich mit ihnen zu
beschäftigen. Sie zeigen einerseits, dass Gegenwehr möglich ist und dass bei konsequentem
Vorgehen etwas Besseres zu erreichen wäre als die üblicherweise von den
Gewerkschaftsführungen ausgehandelten faulen Kompromisse, und andererseits, dass den
Beschäftigten das Wasser bis zum Hals steht.
Allerdings gehört dazu mehr, als ein paar
Warnstreiks und Demonstrationen. Aus den folgenden Beispielen aus jüngster Zeit lassen sich in dieser
Hinsicht einige Schlüsse ziehen.
Im Sommer 2002 kündigte die Konzernleitung (Eigentümer ist der RWE-Konzern) einen Stellenabbau
an, es wurde ein Sozialplan vereinbart. Aber Ende des Jahres sollte der Standort plötzlich komplett
geschlossen werden 770 Beschäftigte waren betroffen. Nach ergebnislosen Verhandlungen kam es im
März 2003 zur Urabstimmung, nach Warnstreikaktionen wurde am 28.März der unbefristete Streik
ausgerufen, der bis zum 7.Mai andauerte. Die Stilllegung konnte aber letztendlich nicht verhindert werden,
es wurde in der Schlichtung ein Sozialplan mit einem Volumen von über 40 Millionen Euro vereinbart.
Im Jahr 2003 kündigte der Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer die Schließung seines
Berliner Werks an. Pikant war die Angelegenheit u.a. deshalb, weil das Unternehmen in den Jahren zuvor
Strukturhilfen erhalten hatte mit dem Versprechen, den Standort wenigstens teilweise zu erhalten. Daraufhin
besetzten die Beschäftigten in einer Blitzaktion am 11. und 12.Juli den Betrieb. Die Schließung
konnte damit zunächst verhindert werden, aber Ende 2004 kam schließlich doch das endgültige
Aus für den Standort.
2003 wollte die EU-Kommission ihre sog. »Port Package«-Richtlinie, nach der Besatzungen ihre
Schiffe künftig selbst be- und entladen sollen, durchsetzen. Das scheiterte: Europaweit wurde
gestreikt, so auch im Hamburger Hafen, und Schiffe, die von einem bestreikten Nordseehafen zu anderen nicht
bestreikten umgeleitet wurden, wurden dort ebenfalls nicht entladen. Koordiniert wurde das Ganze von der
Europäischen Transportarbeiterföderation.
Dann unternahm die EU 2004 einen zweiten
Anlauf. Die Reaktion erfolgte prompt: Allein in deutschen Häfen legten Ende November 2004 3000
Beschäftigte zeitweise ihre Arbeit nieder. Ähnliche Aktionen gab es in Dänemark,
Griechenland, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Derzeit liegt eine nochmals
verschärfte Version der Richtlinie in den Ausschüssen des Europaparlaments.
900 Millionen Umsatz, 4500 sichere Arbeitsplätze das war die traditionsreiche Armaturenfirma
Grohe vor dem Verkauf. 1998 verkaufte die Eignerfamilie das Unternehmen an einen britischen Investor. Der
schlachtete das Unternehmen finanziell aus, die Eigenkapitalquote sank von 50 auf 6%, und anschließend
wurde weiterverkauft. Die neuen Eigentümer, Texas Pacific und die Schweizer Großbank Credit
Suisse First Boston, haben die Schulden mit übernommen und wollen nun schleunig sanieren. 3000 der
bisher noch 4500 Jobs in Deutschland müssten dafür in den nächsten zwei Jahren gestrichen
werden, kalkulierten die Unternehmensberater von McKinsey. Statt bisher nur 15% müssten künftig
80% der Wertschöpfung in Niedriglohnländern erfolgen.
Von den vier deutschen Werken, neben Lahr noch
je eines im sauerländischen Hemer, in Porta Westfalica und in Herzberg in Brandenburg, soll bis Ende
2007 lediglich die Konzernzentrale mit Entwicklungs- und Designzentrum übrig bleiben. Die Belegschaft
wehrt sich, es gab (gegen den Widerstand von Betriebsrat und IG Metall) eine Großdemonstration in Lahr
und ein Solidaritätskreis wurde gegründet. Streiken darf man in Deutschland gegen
Betriebsstilllegungen juristisch gesehen nicht aber stattdessen wurde eine zweitägige
»Betriebsversammlung« veranstaltet.
Die Heines-Klinik in Bremen ist in mehrerlei Hinsicht exemplarisch. Der gewerkschaftliche
Organisationsgrad im Gesundheitsbereich war generell immer sehr niedrig, Streiks gab es über
Jahrzehnte praktisch nicht. Als die Bremer Privatklinik im Rahmen der Deregulierung des Krankheitsmarkts
von international operierenden Hedgefonds übernommen wurde, sollte sie entsprechend der Renditevorgabe
von 8% zugerichtet werden: Ausstieg aus dem BAT und Lohnabsenkung.
Dieses Mal hatten die Betreiber sich
verrechnet: Nach Warnstreikaktionen im Januar 2005 und einem rasanten Anstieg des gewerkschaftlichen
Organisationsgrads auf rekordverdächtige 60% kam es zu einem fast neunwöchigen Streik. Zwar
arbeitete ein Teil der Beschäftigten weiter und es wurden Streikbrecher aus anderen Einrichtungen des
Konzerns sowie über Personalagenturen herangekarrt, aber drei Stationen blieben dauerhaft geschlossen.
Am 1.4. schließlich endete der
Arbeitskampf nach Schlichtung und Urabstimmung mit einem weitgehenden Erfolg: Einheitliche Grundlage
für die Bezahlung in der Klinik wird der BAT, bereits abgesenkte Verträge werden auf BAT-Niveau
angehoben, die Arbeitszeit bleibt bei 38,5 Stunden je Woche, betriebsbedingte Kündigungen werden bis
zum Juli 2007 ausgeschlossen. Der Wermutstropfen: Weihnachts- und Urlaubsgeld werden durch eine
Sonderzahlung ersetzt, die teilweise vom wirtschaftlichen Erfolg der Privatklinik abhängig sein wird.
Letzterer Punkt war wohl auch der Hauptgrund für die mit 60% ziemlich niedrige Zustimmung zum Ergebnis
bei der Urabstimmung.
Mehrere tausend Arbeitsplätze will der Elektrotechnik-Konzern Alstom vernichten. Besonders stark
betroffen ist das Werk in Käfertal mit derzeit 2000 Beschäftigten, obwohl der Standort schwarze
Zahlen schreibt. Der geplante Abbau von 900 Stellen in Mannheim-Käfertal heißt Vernichtung jedes
zweiten Arbeitsplatzes im zentralen Bereich Kraftwerke. Dahinter steckt die Absicht der Zerschlagung des
gesamten Werkes. Die dann verbleibenden Abteilungen könnten alleine nicht weiter bestehen.
Bereits 2003 gab es massiven und
erfolgreichen Widerstand gegen die Pläne des französischen Konzerns: Seit Bekanntgabe der
Abbaupläne im Frühjahr 2003 hatte sich die Gegenwehr der Alstom-Kollegen gegen die Abbaupolitik
gesteigert. Mehrere Arbeitsniederlegungen, gemeinsame »Besuche« von Aufsichtsratsitzungen,
Demonstrationen in der Mannheimer Innenstadt und eine internationale Aktion in Paris zusammen mit den
französischen Kollegen von Alstom führten zunächst zu einem »Waffenstillstand«.
Die erneute Schließungsdrohung beantworteten die Beschäftigten mit einer mehrtägigen
»Betriebsversammlung«, die derzeit Gegenstand eines Arbeitsgerichtsverfahrens ist.
Die Reihe der angeführten Beispiele ließe sich beliebig verlängern: Danaher/NEFF
(Antriebstechnik), Kone (Rolltreppen), KKR/Demag (Kranbau), in den meisten Fällen geht es um
Standortschließungen, Produktionsverlagerungen und Lohndrückerei. Das Problem dabei ist, dass das
sehr eingeschränkte deutsche Streikrecht in diesen Fällen keine Arbeitsniederlegungen erlaubt.
Deshalb führen die oben angeführten
Zahlen zu den Streiktagen teilweise in die Irre. Denn die Mehrzahl der Kämpfe, die derzeit
geführt werden, richtet sich gegen die Folgen des Aufkaufs bzw. der Ausschlachtung von Unternehmen
durch international operierende Finanzgruppen/Fonds oder Großkonzerne. Aufgrund des restriktiven
deutschen Streikrechts kommt es in diesen Fällen nur selten zu dann »wilden«
Streiks, wenn nicht wie bei Alstom oder Grohe längerdauernde »Betriebsversammlungen« an
deren Stelle treten (die dann in der Statistik nicht auftauchen).
Insgesamt handelt es sich bei so gut wie allen
betrieblichen Kämpfen, die derzeit geführt werden, um reine Abwehrkämpfe, es geht nicht, wie
etwa in den wilden Streiks Anfang der 70er Jahre, um Lohnerhöhungen und/oder Arbeitsbedingungen. Eine
wirkliche Waffe stellen Streiks nur in den Fällen dar, in denen der Betrieb nicht einfach verlagert
und/oder geschlossen werden kann.
Das erklärt den relativen Erfolg des
Arbeitskampfs in der Heines-Klinik und die Problematik in allen anderen erwähnten
Arbeitskämpfen. Insofern haben heute paradoxerweise die »schweren Bataillone« der
Gewerkschaftsbewegung in den produzierenden Branchen gegenüber den Beschäftigten im
Dienstleistungsbereich teilweise die schlechteren Karten: Krankenhäuser und Personenverkehr lassen
sich nun einmal nicht in Billiglohnländer verlagern.
Die berüchtigte Dienstleistungsrichtlinie
der EU (Bolkestein) ist die logische Antwort der Kapitalseite auf diese Binsenweisheit: Wenn man nicht
verlagern oder die Löhne ausreichend drücken kann, holt man sich Beschäftigte zu
Dumpinglöhnen heran.
Der Kampf der Hafenarbeiter allerdings weist
auch einen der möglichen Wege aus dieser Situation: Hier wurde der Internationalisierung der
Kapitalstrategie erfolgreich eine Internationalisierung des Widerstands entgegengesetzt.
Aber in den meisten Branchen hinkt die
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung dem Grad der Internationalisierung der großen Kapitalgruppen weit
hinterher, sowohl in ihrer Organisation wie in ihren Forderungsstrukturen. Wenn wie exemplarisch
bei Grohe geschehen auf den Bahamas oder sonst wo angesiedelte Fondsgesellschaften beschließen,
Betriebe auszuschlachten, so hindert sie daran schlicht gar nichts, auch kein Streik. In Fällen wie
Alstom oder vor ein paar Jahren Babcock, wo Niederlassungen in verschiedenen Ländern gegeneinander
ausgespielt werden sollen, kann allerdings die Internationalisierung des Widerstands durchaus Erfolg
versprechend sein.
Dass die bundesdeutschen Gewerkschaften in
dieser Gesamtsituation, in der ihre bisher schärfste Waffe, der Streik, stumpf zu werden droht oder
es bereits ist, hilflos erscheinen, hat einen guten Grund. Wer jahrzehntelang sämtliche
Widerstandsformen, die über den Rahmen der Legalität hinausgehen, gescheut hat wie der Teufel das
Weihwasser und stattdessen auf Sozialpläne und Lohnzugeständnisse gesetzt, der hat auf die Folgen
der Globalisierung keine adäquaten Antworten.
Es gibt entgegen dem äußeren Anschein keine »Klassenruhe«. Das Problem ist nicht der
mangelnde Widerstandswille der Betroffenen in den von Arbeitsplatzabbau, Schließung und Lohndumping
betroffenen Betrieben. Im Gegenteil: die Kampfbereitschaft wächst.
Das Problem ist einerseits die mangelnde
öffentliche Unterstützung, vor allem auf der politischen und medialen Ebene und zum anderen, viel
wesentlicher, dass die Kampfformen und Forderungen hinter der Entwicklung der Kapitalstrategie weit
hinterherhinken. Auf der Tagesordnung bei allen oben angeführten Beispielen stünden nicht Streik,
Schlichtung und Sozialplan, sondern erstens Internationalisierung des Widerstands einschließlich der
Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit weltweit und zweitens das, was die Beschäftigten
der Uhrenfabrik LIP in Frankreich schon vor dreißig Jahren und die verschiedener argentinischer
Betriebe in den letzten fünf Jahren praktizierten: Besetzung der Betriebe und Weiterführung der
Produktion in Selbstverwaltung. Aber das steht natürlich nicht im Gesetzbuch.
Ernst A. Kluge
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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