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Armut in den Städten und Klimarisiken sind für Millionen Menschen
ein tödlicher Cocktail.
Eine villa miseria außerhalb von Buenos
Aires hat vielleicht das schlimmste fenshui der Welt: Sie ist auf einem früheren See gebaut, einer
giftigen Müllhalde, einem Friedhof und in einer Überflutungszone. Aber eine gefährliche,
gesundheitsbedrohende Lage ist die geografische Definition solcher Ansiedlungen: Sei es ein auf
Pfählen über dem von Exkrementen verstopften Fluss Pasig in Manila gebautes barrio oder das
bustee in Vijayawada, wo die Bewohner ihre Hausnummern auf Möbelstücken befestigt haben, weil die
Häuser alljährlich zusammen mit den Türen von der Flut weggeschwemmt werden.
Die Ansiedler tauschen körperliche
Unversehrtheit und öffentliche Gesundheit ein gegen ein paar Quadratmeter Land und den Schutz vor
Vertreibung. Sie sind die Pioniere von Sümpfen, Flutgebieten, rutschenden Berghängen oder
Müllkippen mit chemischen Abfällen. Bei einem Besuch in Dhaka beschreibt Jeremy Seabrook einen
kleinen Slum »eine Zuflucht für Menschen, die durch Erosion, Wirbelstürme, Fluten,
Hungersnot oder den neueren Urheber von Unsicherheit, die Entwicklung, entwurzelt wurden« , der
zwischen einer Giftfabrik und einem »vergifteten See« liegt. Gerade weil der Ort so
gefährlich und unattraktiv ist, bietet er »Schutz vor den in der Stadt steigenden
Grundstückspreisen«. Solche Orte sind die Nischen der Armut in der Ökologie der Stadt, und
sehr arme Menschen haben kaum eine andere Wahl, als mit der Katastrophe zu leben.
Slums fangen mit einer schlechten Geologie an. Die Peripherie von Johannesburg bspw. ist ein Gürtel
aus gefährlichem, instabilem Dolomitboden, der über Generationen durch Bergbau kontaminiert
wurde. Mindestens die Hälfte der nichtweißen Bevölkerung der Region lebt in inoffiziellen
Siedlungen in Gebieten mit giftigem Abfall und ständigen Erdrutschen. Rio de Janeiros favelas sind auf
unstabilen Böden an Hängen gebaut, die oft mit wahrhaft tödlichen Resultaten nachgeben: 2000
wurden 1966/67 bei Erdrutschen getötet, 200 im Jahr 1988 und 70 zu Weihnachten 2001.
In Caracas sind die Slums, die nahezu zwei
Drittel der Stadtbevölkerung beherbergen, auf unsicheren Abhängen und in engen Schluchten
errichtet, die das seismisch aktive Tal von Caracas umgeben. Ursprünglich hielt die Vegetation den
krümeligen, stark verwitterten Schiefer fest, aber Rodungen haben die dicht besiedelten Abhänge
unstabil gemacht. Das Resultat ist eine außerordentliche Zunahme größerer Erdrutsche von
weniger als einem pro Jahrzehnt vor 1950 zum gegenwärtigen Durchschnitt von zwei oder mehr im Monat.
Die wachsende Bodeninstabilität hat jedoch die Ansiedler nicht daran gehindert, sich an solchen
prekären Stellen niederzulassen.
Im Dezember 1999 wurde das nördliche
Venezuela von einem gewaltigen Sturm heimgesucht. Regen in der Menge eines Jahresdurchschnitts fiel in
wenigen Tagen auf bereits gesättigten Boden: Flutwellen und angespülter Schutt in Caracas und
besonders entlang der Karibikküste auf der anderen Seite des Avila-Gebirges töteten etwa 32000
Menschen, machten 140000 obdachlos und weitere 200000 erwerbslos.
Was für die Region Caracas die Erdrutsche
sind, sind für Manila die häufigen Überflutungen. Gelegen in einer Flutebene, die an drei
Flussbecken grenzt und sintflutartigen Regenfällen und Taifunen ausgesetzt ist, ist Manila ein
natürliches Flutbecken. Nach 1898 gruben die US-Kolonialbehörden Kanäle aus und bauten
Pumpstationen zum Schutz der zentralen Teile der Stadt. Verbesserungen des Systems in den letzten Jahren
wurden jedoch u.a. von gewaltigen Mengen in die Kanäle gepumpten Mülls, der Entwaldung von
Einzugsgebieten sowie vor allem durch den unaufhörlichen Bau von Slumsiedlungen konterkariert.
Mit anderen Worten, die Wohnungskrise hat
sowohl den Charakter als auch das Ausmaß des Flutproblems verändert: das ärmste Fünftel
der Bevölkerung ist regelmäßig Gefahren und dem Verlust des Eigentums ausgesetzt. Im
November 1998 zerstörten bspw. Flutwellen die Häuser von über 300000 Menschen.
Die Beispiele aus Caracas und Manila
illustrieren, wie die Armut die örtlichen geologischen und klimatischen Risiken verstärkt.
Wohlhabende Städte in riskanter Lage wie Los Angeles oder Tokyo können meteorologische oder
geologische Risiken durch massive öffentliche Arbeiten reduzieren: durch Anlegen von Kanälen,
Dämmen oder künstlichen Auffangbecken. Nationale Versicherungsprogramme gegen Überflutung
und Erdbeben sichern den Wiederaufbau im Fall ausgedehnter Schäden.
In der Dritten Welt ist es dagegen unwahrscheinlich, dass Slums, die kein Trinkwasser und keine Latrinen
haben, von kostspieligen öffentlichen Arbeiten profitieren oder im Katastrophenfall von Versicherungen
abgedeckt sind. Die staatliche Intervention kann sogar das Risiko erhöhen. Im November 2001 waren die
Armenviertel Bab el Oued, Frais Vallong und Beaux Fraisier an der Westseite Algiers von verheerenden
Überflutungen und Schlammlawinen betroffen. 36 Stunden lang wuschen sintflutartige Regenfälle
zerbrechliche Hütten von den Hängen und überfluteten niedrig liegende Siedlungen. Mindestens
900 Menschen wurden getötet. Angesichts einer schlampigen offiziellen Reaktion wurden die
Hilfsmaßnahmen stattdessen von der lokalen Bevölkerung, insbesondere der Jugend, in Angriff
genommen. Nach drei Tagen zeigte sich Algeriens Präsident Bouteflika. Wütende Anwohner
skandierten Parolen gegen die Regierung. Bouteflika erklärte, dass die Katastrophe schlichtweg der
Wille Gottes sei. Nichts, so sagte er, könne dagegen getan werden.
Die örtlichen Bewohner wussten, dass dies
Unsinn war. Fachleute wiesen sofort darauf hin, dass die Siedlungen an den Hängen zwangsläufig zu
einer Katastrophe führen mussten: »Es waren schwache, gegenüber heftigem Regen verwundbare
Strukturen. Im ganzen Land sind diese Gebäudekonstruktionen starken Schäden infolge Verwitterung,
unzureichender Reparaturen und Vernachlässigung ausgesetzt.« Ein großer Teil der
Zerstörung war eine direkte Folge des von der Regierung geführten Krieges gegen islamistische
Guerillas. Um Aufständischen keine Zufluchtsorte und Fluchtrouten zu bieten, hatten die Behörden
die Hügel über Bab el Oued entwaldet und die Abwasserkanäle versiegelt. Korrupte
Behörden erteilten auch Genehmigungen für die Errichtung baufälliger Gebäude im
Flussbett, wodurch Bauunternehmer auf Kosten der öffentlichen Sicherheit bereichert wurden.
Mehr noch als Erdrutsche und Flutkatastrophen
geben Erdbeben Auskunft über die urbane Wohnungskrise. Obwohl einige langwellige Erdbeben wie die
Katastrophe von Mexiko-Stadt 1985 einzelne hohe Gebäude befallen, richtet sich die seismische
Zerstörung gewöhnlich gegen Wohnhäuser aus Beton, Schlamm oder Mauerwerk schlechter
Qualität, besonders wenn dies mit Gefällen oder der Aufweichung des Bodens einhergeht.
»Lasche Einstellungen gegenüber Planvorschriften und Standards«, betont Geoffrey Payne,
»haben der Stadtarmut in der Türkei jahrzehntelang einen relativ leichten Zugang zu Land
ermöglicht, doch eine ähnliche Haltung zu den Vorschriften zur Verstärkung von Gebäuden
führte zu einer hohen Todesrate und zu massiven Zerstörungen während des Erdbebens von
1999.«
Im 20.Jahrhundert zerstörten Erdbeben
mehr als 100 Millionen Wohnungen, zumeist in Slums, Wohnvierteln oder armen Dörfern. Da die Mehrheit
der Stadtbevölkerung auf der Welt an den aktiven Plattenrändern oder in deren Nähe
konzentriert ist, vor allem an den Küsten des Indischen und des Pazifischen Ozeans, sind mehrere
Milliarden Menschen der Gefahr von Erdbeben, Vulkanen und Tsunamis sowie Sturmfluten und Taifunen
ausgesetzt. Wenngleich das Megaerdbeben von Sumatra und der dadurch ausgelöste Tsunami im Dezember
2004 relativ seltene Ereignisse sind, so sind doch weitere in den kommenden 100 Jahren unvermeidlich. Die
Behörden in Lima sagen voraus, dass mindestens 100000 Strukturen während des für die
nächste Generation erwarteten Erdbebens zusammenbrechen werden. Das seismische Risiko ist in diesen
Städten so ungleich entwickelt, dass linke Geografen den Begriff classquake geprägt haben, um das
ungleiche Muster der Verteilung vergangener wie zukünftiger Zerstörung zu charakterisieren.
Wenn natürliche Risiken durch die Armut in den Städten vervielfacht werden, so werden neue und
vollkommen künstliche Gefahren durch die Interaktion der Armut mit toxischen Industrien, anarchischem
Verkehr und dem Zusammenbruch von Infrastruktur geschaffen. Alle klassischen Prinzipien von
Städteplanung wie die Bewahrung offener Räume und die Trennung schädlicher Landnutzung von
Wohngebieten werden in armen Städten auf den Kopf gestellt.
In seinem Buch über die armen Städte
des Südens führt Jeremy Seabrook den ewigen Katastrophenkalender von Klong Toey an, Bangkoks
Hafenslum, der zwischen Docks, chemischen Fabriken und Schnellstraßen eingeklemmt ist. 1989 vergiftete
eine Explosion Hunderte Anwohner; zwei Jahre später explodierte ein Warenhaus und machte 5500 Menschen
obdachlos viele von ihnen starben später an mysteriösen Krankheiten. Ein Feuer
zerstörte 1992 63 Wohnungen, 1993 waren es bei einem Brand 460 und viele hundert mehr 1994. Tausende
andere Slums, darunter auch einige in reichen Städten, haben eine ähnliche Geschichte wie Klong
Toey. Sie leiden an der Konzentration toxischer industrieller Aktivitäten, die die Mittelschichten
niemals in ihrer Umgebung dulden würden.
Die Weltöffentlichkeit richtet nur dann
ihre Aufmerksamkeit auf solche tödlichen Mischungen von Armut und toxischer Industrie, wenn es mit
zahlreichen Todesfällen zur Katastrophe kommt wie gleich mehrfach im Jahr 1984: Im Februar explodierte
eine Ölpipeline bei São Paulo und über 500 Menschen verbrannten in einer benachbarten favela.
Acht Monate später explodierte eine Gasfabrik in Mexiko-Stadt wie eine Atombombe und tötete
mindestens 2000 Anwohner.
Keine drei Wochen nach der Katastrophe von
Mexiko-Stadt entließ die Union-Carbide-Fabrik in Bhopal, der Hauptstadt von Madhya Pradesh, ihre
tödliche Wolke aus Methylisocyanat: Laut einer Studie von Amnesty International wurden 700010000
Menschen sofort getötet, 15000 weitere starben in den folgenden Jahren an von der Giftwolke
hervorgerufenen Krankheiten. Die Opfer waren die Ärmsten der Armen, zumeist Muslime. Die Fabrik
für die Verpackung von Pestiziden war an einem Ort errichtet worden, der bereits lange vorher
besiedelt worden war. Als sie expandierte und zu der gefährlicheren Herstellung von Pestiziden
überging, wuchsen an ihrer Peripherie Slums aus dem Boden. Bis zu dem Moment, als sie ihre Kinder
sterbend auf den Straßen fanden, hatten die Anwohner keine Vorstellung von der apokalyptischen Gefahr,
die Methylisocyanat darstellt.
Andererseits sind sich die Slumbewohner der Gefahren wohl bewusst, die der wilde Verkehr bietet, der die
Straßen der meisten Städte der Dritten Welt verstopft. Das rasche Wachstum der Städte ohne
entsprechende soziale Investition in ein entsprechendes Verkehrssystem hat den Verkehr zu einer Katastrophe
für die Volksgesundheit gemacht. Trotz einer albtraumhaften Verstopfung steigt der motorisierte
Verkehr in den sich entwickelnden Städten sprunghaft an. 1980 betrug der Anteil der Dritten Welt am
weltweiten Besitz von Motorfahrzeugen nur 18%; 2020 wird die Hälfte der dann angenommenen 1,3
Milliarden Pkw, Lkw und Busse zusammen mit Hunderten Millionen Motorrädern und Mopeds
die Straßen ärmerer Länder verstopfen.
Die Bevölkerungsexplosion der Automobile
wird von machtvollen Kräften der Ungleichheit angetrieben. Die Verkehrspolitik in den meisten
Städten ist ein Teufelskreis, in dem die verfallende Qualität des öffentlichen Verkehrs den
privaten Autoverkehr verstärkt und umgekehrt. Das Resultat ist ein reines Gemetzel. Mehr als eine
Million Menschen zwei Drittel davon Fußgänger, Radfahrer und Mitfahrende werden
jedes Jahr in der Dritten Welt bei Unfällen im Straßenverkehr getötet. »Menschen«,
so ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO), »die nie in ihrem Leben ein Auto besitzen
werden, tragen das größte Risiko.«
Die allgemeinen Kosten für
Todesfälle und Verletzte im Straßenverkehr werden laut WHO auf »fast das Doppelte der
gesamten weltweiten Entwicklungshilfe für Entwicklungsländer« geschätzt. Die WHO
betrachtet den Straßenverkehr als eines der schlimmsten Gesundheitsrisiken für in Städten
lebende Arme und sagt voraus, dass Unfälle im Straßenverkehr im Jahr 2020 die dritthäufigste
Todesursache sein werden.
China, wo Pkw gerade den Fahrrädern und
Fußgängern die Kontrolle über die städtischen Straßen entreißen, wird leider
den Weg weisen: Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2003 wurden dort fast 250000 Menschen bei
Verkehrsunfällen getötet oder schwer verletzt.
Die zügellose Motorisierung verschlimmert
natürlich auch den Albtraum der Luftverschmutzung in den Städten der Dritten Welt. Myriaden alter
Pkw, klappriger Busse und längst ausgedienter Lkw ersticken die Städte mit ihren tödlichen
Abgasen, während die schmutzigen Zweitaktmotoren, die kleine Fahrzeuge antreiben, zehnmal soviel
Feinstaubpartikel ausstoßen wie moderne Pkw. Laut einer kürzlich erfolgten Studie ist die
verpestete Luft am tödlichsten in den wuchernden Megastädten Mexiko (300 Ozonsmogtage im Jahr),
São Paulo, Delhi und Peking. Mumbais Luft zu atmen entspricht dem Konsum von zweieinhalb
Zigarettenschachteln pro Tag, und das Centre for Science and the Environment in Delhi warnte jüngst
davor, dass Indiens Städte zu »tödlichen Gaskammern« würden.
Die Armen in den Städten der Dritten Welt
leiden an einer doppelten Belastung: an den durch Umweltverschmutzung hervorgerufenen Infektionskrankheiten
und am Stress. Bei geschätzten eine Milliarde Slumbewohner auf dem Planeten (die Zahl soll sich bis
2030 verdoppeln) schafft die Armut in den Städten auch neue Krankheitsökologien und eröffnet
Seuchen wie AIDS und Vogelgrippe neue Bahnen. Mehr noch als in der Ära von Karl Marx und Charles
Dickens ist der Slum das globale Gesundheits- und Umweltproblem par excellence. Er ist auch die
größte Herausforderung für die menschliche Solidarität.
Mike Davis
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