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Der Staatsbürger, dem das öffentliche Interesse vorangeht, und der Bürger als auf sich
gestelltes Individuum, dem die Befriedigung des egoistischen Interesses alles ist, waren für die
bürgerlich-revolutionären Denker der Aufklärung noch nicht im Verhältnis des Widerspruchs
zueinander stehende Begriffe. Zwar kommt die Unterscheidung zwischen dem citoyen und dem bourgeois im
18.Jahrhundert schon vor z.B. bei Rousseau aber sie steht zumeist ganz in Übereinstimmung
mit der harmonistischen Vorstellung, dass gerade das Ausleben der egoistischen Motive der Individuen die
Grundlage für das Sichdurchsetzen jenes »Naturgesetzes« bilde, dessen Ergebnis die
gesellschaftliche Harmonie sein müsse. In dieser Vorstellungsweise lag sowohl die Stärke als auch die
Schwäche des aufklärerischen Humanismus der Zeit der Enzyklopädie.
Im Gegensatz zur feudalen Welt, in der die
Beziehung zwischen den Individuen und Klassen eine ständisch-gebundene war und die gegenseitigen
Verpflichtungen auf einem, allerdings durch ein »traditionelles Recht« beschönigten
Zwangsverhältnis beruhte, agiert in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum als völlig
freier Vertragspartner, dessen Freiheit aus seiner Eigenschaft resultiert, Warenbesitzer wie jeder andere auch
zu sein. Es ist hierbei völlig gleichgültig, ob die Waren, die das um seine Existenz besorgte
Individuum anzubieten hat, Schuhe, Geistesprodukte oder die bloße Arbeitskraft sind. Das bürgerliche
Recht hat sich dieser Tatsache voll angepasst und eine Form entwickelt, die sowohl individualistisch als auch
freiheitlich in dem Sinne ist, dass es sich in die Belange des freien Vertragsabschlusses, wie er millionenfach
»auf dem Markte« zustande kommt, nicht einmischt. Aber diese Respektierung der Freiheit schließt
auch die Anerkennung der Gleichheit der Individuen in sich. Das bürgerliche Recht ist daher
individualistisch, freiheitlich und gleichheitlich in einem. Die bürgerliche Demokratie ist die politische
Inkarnation der kapitalistischen Warenstruktur und ihres Rechtsausdrucks.
Solange die bürgerliche Revolution gegen die
feudale Gesellschaft noch nicht vollzogen war, traten vor allem die französischen Aufklärer des
18.Jahrhunderts für die staatliche Anerkennung des bürgerlichen Rechts und für die
Einführung der Demokratie ein. Beides erschien ihnen als die unerlässliche Garantie für die
unumschränkte Handlungsfreiheit des Individuums, die wiederum jenen Ausgleich der Interessen, und das
bedeutet für sie die aus der Gegensätzlichkeit der Interessen herauswachsende gesellschaftliche
Harmonie, zur Folge haben würde, wie sie dann notwendigerweise allen (!) Gesellschaftsmitgliedern zugute
kommen müsse. Die aufklärerischen Humanisten dachten hierbei keineswegs einseitig ökonomistisch.
Zwar lag ihnen das wirtschaftliche Wohl nicht zuletzt auch der Besitzlosen, die ihrer Meinung nach durch die
künftige freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft zu Eigentum kommen würden, sehr am Herzen. Was
sie aber noch mehr bewegte und als revolutionäre Individualisten bewegen musste, war ihr Traum, dass auf
der Grundlage der wirtschaftlichen Harmonisierung der Gesellschaft sich der Mensch nicht nur der Freiheit und
des Wohlstandes erfreuen, sondern darüber hinaus und unter Ausnützung dieser Gegebenheiten seine
individuellen Kräfte und Anlagen in ungeahnter Weise zur Entfaltung bringen werde. Es ging also letzten
Endes den großen Humanisten und Enzyklopädisten der Aufklärungszeit um die Wiederherstellung der
im Laufe der Geschichte zerstörten menschlichen Individualität, um die Entwicklung dessen, was sie
»Persönlichkeit« nannten.
Ihre optimistische Vorstellung von der
künftigen Entwicklung des Menschengeschlechts litt aber vornehmlich daran, dass sie sich zum
kapitalistischen Eigentum, das sich vor ihren Augen entfaltete und dessen Bewunderer sie
verständlicherweise als Verteidiger des bürgerlichen Aufstiegs gegen den feudalen Verfall sein
mussten, völlig unkritisch verhielten. Ihre Idee von der künftigen Teilnahme aller Menschen am
wirtschaftlichen Wohlstande der Gesellschaft war daher abstrakt und unbestimmt. Ebenso wie sie in der
Arbeitsteilung nur die reichtumsvermehrende Kraft erkannten, aber ihre unmenschliche, weil die Totalität
der Persönlichkeit zerstörende und den Menschen deformierende Wirkung übersahen, genau so
übersahen sie im gesamten die in der Entwicklung des kapitalistischen Betriebs liegenden, für die
große Masse der Arbeitenden verhängnisvollen Folgen. Sie sahen nur die formale Gleichheit des in der
Form des »freien Vertrags« über sich selbst verfügenden Individuums (des Warenbesitzers),
aber nicht, dass »die Republik des Marktes die Despotie der Fabrik deckt« (Paschukanis). Dieses
Sichabfinden mit den unmenschlichen Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung stand in einem offenbaren
Widerspruch zu den optimistisch-humanistischen Vorstellungen, die die Aufklärer um den Menschen woben.
Das wunderbare Menschenbild, das die
bürgerlichen Humanisten malten, zerschellte nach der Revolution an den inneren Widersprüchen der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die bürgerliche Klasse, längst einem einseitig-
praktizistischen Egoismus verfallen, hat es verstanden, auch die Masse der bürgerlichen Ideologen in ihre
Niederungen zu ziehen. Über das 18.Jahrhundert wird als über das »vernünftlerische«,
»unhistorische« und im »Aufkläricht« versinkende Zeitalter gehöhnt, um sich desto
besser gegen dessen Humanismus abschirmen zu können.
Das Erbe des alten bürgerlichen Humanismus
hat nicht das heutige Bürgertum, sondern der wissenschaftliche Sozialismus und seine politische
Verkörperung, die sozialistische Bewegung angetreten. Wir unterstreichen diese Behauptung gegen die
stalinistischen Verfälscher der sozialistischen Lehre, die eine solche Kontinuität zwischen dem alten
bürgerlichen und modernen sozialistischen Humanismus verleugnen. So scharf in theoretisch-methodischer
Beziehung der »alte Materialismus« durch Marx kritisiert wird, so wahr ist es doch, dass das
Menschenbild, das er geprägt hat, in die Grundvorstellung des marxistischen Sozialismus übergegangen
ist.
Hier sei nur darauf hingewiesen, dass der
Marxismus sich keineswegs mit der Lösung des ökonomischen Problems allein, wie vielfach angenommen
wird, begnügt, sondern diese Lösung nur als allgemeine, wenn auch unerlässliche Voraussetzung
für die »Verwirklichung des Menschen« betrachtet. Wenn Marx z.B. an John Bellers (einem
Quäker des ausgehenden 17.Jahrhunderts) lobt, er habe bereits den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und
Erziehung in kritischer Weise erkannt, wenn er mit Engels die verheerende Wirkung der Arbeitsteilung im
kapitalistischen Betrieb immer wieder schärfstens kritisiert, und wenn er in völliger
Übereinstimmung mit Schiller im Kapital vom Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte als
Ausdruck des Zusichkommens des Menschen und der Wiederherstellung seiner »Totalität« spricht, so
wird es klar, dass es hierbei um nichts anderes als um die Freiheit und Befreiung der allseitig
entwicklungsfähigen menschlichen Individualität, um das Menschsein des Menschen im höchsten und
besten Sinne, geht.
Marx sagt einmal, dass unsere Gesellschaft eine
Klasse von Menschen hervorgebracht hat, »welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist,
also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann«. Damit hat er
nicht minder den großen bürgerlichen Aufklärern der Vergangenheit aus dem Herzen gesprochen. Er
hat aber auch nachgewiesen, dass nur »innerhalb der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen, worin die
originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist«, das über die Jahrhunderte hinweg
wirkende große humanistische Ideal verwirklicht werden kann.
Das Ziel des Sozialismus kann nicht die Vermenschlichung der Arbeit sein, genauso wenig wie sein Ziel die
Verbesserung der Löhne oder die Besserstellung der Arbeiterklasse sein kann. Das alles sind nur
Übergangsstufen, Notbehelfe, Halbheiten. Eine moderne Fabrik stellt niemals eine »normale« oder
»humane« Umgebung für den Menschen dar, mag die Arbeitszeit auch noch so herabgesetzt,
mögen die Räume und die Maschinen noch so sehr den Bedürfnissen des Menschen angepasst werden.
Der Prozess der Vermenschlichung des Menschen wird erst vollendet sein, wenn die Arbeit abgestorben ist und der
schöpferischen Praxis Platz gemacht hat, die einzig darauf ausgerichtet ist, universell entwickelte
Menschen hervorzubringen.
Lange Zeit wurde der homo faber, der Werkzeuge
produzierende Mensch, als der wirkliche Schöpfer der Zivilisation und der menschlichen Kultur angesehen.
Der holländische Historiker Huizinga dagegen hat ohne Bedenken einen dieser Tradition entgegengesetzten
Weg eingeschlagen, als er im homo ludens, im spielenden Menschen, den wahren Schöpfer der Kultur sah.
Der Marxismus, der durch die gesamte
gegenwärtige Anthropologie und zum Großteil auch durch die freudsche Psychologie eine glänzende
Bestätigung erfahren hat, erlaubt es, diese beiden Auffassungen, die zwei grundlegende Aspekte der
Menschheitsgeschichte widerspiegeln, zu vereinen. Ursprünglich war der Mensch homo faber und homo ludens
zugleich. Der homo faber hat weder die nötigen Hilfsquellen noch die Muße zum Spiel, zur freien
Schöpfung und zur spontanen, uneigennützigen Anwendung seiner Fähigkeit, also zu dem, was gerade
das Merkmal der menschlichen Praxis ist. Der homo ludens dagegen wird immer mehr durch die privilegierten, d.h.
die besitzenden und die von diesen unterhaltenden Klassen verkörpert. Aus eben diesem Grund wird er zum
Opfer einer besonderen Entfremdung. Sein Spiel verwandelt sich immer mehr und mehr in ein trauriges Spiel und
bleibt dies selbst in den großen Jahrhunderten des gesellschaftlichen Optimismus (bspw. dem 16. und dem
19.Jahrhundert). Vom Zwang der Routinearbeit befreit und zurückgekehrt in den Schoß der Gemeinschaft,
wird der sozialistische Mensch wieder zum homo faber und zum homo ludens zugleich. Er verwandelt sich zunehmend
in den homo ludens, doch ist er gleichzeitig auch homo faber. Bereits heute bemüht man sich, in bestimmte
Arbeiten ein Moment des »Spiels«, ins Spiel aber ein Moment »ernsthafter Arbeit«
einzuführen. Die Abschaffung der Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes bedeutet gleichzeitig einen
neuen Aufschwung der wichtigsten Produktivkraft: der schöpferischen Kraft des Menschen. Die materielle
Uneigennützigkeit wird durch eine schöpferische Spontaneität gekrönt, in der sich das Spiel
des Kindes, der Elan des Künstlers und das Heureka des Gelehrten vereinen.
Für die Bourgeoisie ist Besitz
gleichbedeutend mit Freiheit. In einer »atomistischen« Gesellschaft von Warenbesitzern ist diese
Definition auch weitgehend richtig. Allein der (ausreichende) Besitz befreit die Individuen von dem Zwang, die
eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können, von der Verdammung zur Zwangsarbeit. Aus diesem
Grund setzen sich sowohl bürgerliche Philanthropen als auch Demagogen für das Hirngespinst der
»Entproletarisierung« durch »Eigentumsstreuung« ein.
Vulgärmarxisten haben einen berühmten,
auch von Engels aufgegriffenen Satz Hegels, demzufolge Freiheit »Einsicht in die Notwendigkeit« ist,
aus seinem Zusammenhang gerissen und in einem Sinne interpretiert, dass der sozialistische Mensch genau den
gleichen »ehernen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten« ausgesetzt sei wie der Mensch im
Kapitalismus mit dem einzigen Unterschied, dass sich der sozialistische Mensch dieser Gesetze bewusst
sei und versuche, sie »zu seinen Gunsten auszunützen«. Diese positivistische Variante des
Marxismus hat nichts gemein mit der wirklichen humanistischen Tradition von Marx und Engels, mit der
Kühnheit ihrer Analyse und der Tiefe ihres in die Zukunft gerichteten Blicks. Marx und Engels haben mehr
als einmal wiederholt, dass das Reich der Freiheit dort beginnt, wo das der Notwendigkeit endet. Selbst in der
sozialistischen Gesellschaft bleibt die Fabrikarbeit eine traurige Notwendigkeit; die wirkliche Freiheit
entfaltet sich nur in den Mußestunden. In dem Maße, wie die Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes
abstirbt, wird sie durch eine schöpferische Praxis universell entwickelter und gesellschaftlich
integrierter Persönlichkeiten ersetzt. Je mehr sich der Mensch von seinen Bedürfnissen befreit, indem
er sie befriedigt, desto mehr »weicht das Reich der Notwendigkeit dem Reich der Freiheit«.
Die menschliche Freiheit ist weder ein
»freiwillig gutgeheißener« Zwang noch die Summe instinktiver und schrankenloser Handlungen, die
das Individuum erniedrigen würden. Sie ist die Selbstverwirklichung des Menschen, die nichts anderes
darstellt als ein ewiges Werden und Vergehen, eine fortwährende Bereicherung all dessen, was menschlich
ist, eine universelle Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten und Anlagen. Sie ist weder die absolute
Ruhe noch das »vollkommene Glück«; sie ist vielmehr, nach Jahrtausenden menschenunwürdiger
Konflikte, der Beginn des wirklichen »menschlichen Dramas«. Sie ist eine Hymne zum Ruhme des
Menschen, gesungen von Menschen, die sich ihrer Grenzen bewusst sind und aus diesem Bewusstsein den Mut
schöpfen, sie zu überwinden.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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