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Es gibt keinen Grund, die Politik von Willy Brandt in Bausch und Bogen
gutzuheißen. Vergessen wir nicht: In seiner Ära, um nur zwei Sachverhalte in Erinnerung zu rufen,
kamen mit Hilfe der SPD Notstandsgesetze und Berufsverbote zustande. Falsch wäre es auch, die SPD so
darzustellen, als wäre sie in ihren altbundesrepublikanischen Zeiten ein Musterbeispiel für
innerparteiliche Demokratie gewesen.
Als Herbert Wehner 1960 in seiner
spektakulären Bundestagsrede den Anschluss der SPD an die außenpolitische Grundposition der
Unionsparteien verkündete, überrumpelte er damals die eigene Partei. Auch der Beschluss des SPD-
Parteivorstands anderthalb Jahre später, den SDS und seine Förderergesellschaft aus dem
sozialdemokratischen Terrain zu verdrängen, zeugte nicht gerade von einer Vorliebe für
innerparteiliche Debattenfreiheit.
Aber die SPD damals, vom Konflikt über
den SDS und die Notstandsgesetze bis zur Auseinandersetzung um das Raketenrüstungsprogramm, musste
sich noch ständig mit innerer Opposition herumschlagen, mit Kritikern in den eigenen Reihen. Paradox
formuliert: Die Ausschlusspraktiken des Parteivorstands zeigten immerhin, dass es innerparteilich lebendig
zuging, dass es Mitglieder, Funktionäre und Mandatsträger gab, die sich ihre eigenen Gedanken
machten und sie in die Diskurse der Partei einbrachten; eben dadurch konnte es für die Parteiobrigkeit
riskant werden.
Das sind Geschichten aus vergangenen Zeiten.
Die SPD heute hat Aufbegehren innerhalb der Strukturen der Partei nicht mehr zu befürchten, jedenfalls
nicht als offen ausgetragenen politischen Disput. Selbstverständlich sind damit innerparteiliche
Rivalitäten, Differenzen im strategischen Kalkül und Konkurrenzen um Parteiämter oder
Mandate nicht verschwunden, aber da geht es um Karrieren, nicht um gesellschaftspolitische Entwürfe.
Innerparteiliche Demokratie ist inzwischen für den SPD-Kanzler kein Problem mehr. Gerhard
Schröder hat es verstanden, die deutsche Sozialdemokratie in eine Partei neuen Typs zu verwandeln,
insofern ist ihm historische Bedeutung zuzusprechen. Wie hat der Mann das geschafft?
Zum Kanzlerkandidaten der SPD wurde
Schröder, weil er sich auf einen Befähigungsnachweis aus der Marketinglehre berufen konnte. Sein
Testlauf in der niedersächsischen Provinz war erfolgreich gewesen, und da konnte die Partei erhoffen,
er werde sich auch im bundesweiten Politmarkt gut verkaufen. Diese Rechnung ging auf. Seitdem herrscht bei
den Profis in der SPD die Meinung vor, einer Partei bekomme es am besten, wenn sie sich rückhaltlos
den Regeln einer massenmedial organisierten Warenwerbung anpasse die SPD als Marketingagentur
für Bewerber um das Kanzleramt oder um die Ämter von Ministerpräsidenten und Ministern.
So eindeutig war parteipolitisches Agieren in
der deutschen Parteiengeschichte bis dahin nicht ausgerichtet gewesen, und dieser Wandel hatte und hat
weitreichende Folgen. Wer will sich denn schon als Verkaufsschädling in Verruf bringen, indem er an
dem Spitzenprodukt des eigenen Unternehmens herummäkelt? Und was soll da noch eine Anhänglichkeit
an die altbackene Idee von innerparteilicher Demokratie?
Die meisten Sozialdemokraten waren 1998
erleichtert, dass mit Schröders Kanzlerschaft die Zeit des Darbens in der Opposition endlich
vorüber war: »Wir sind Kanzler«, ein schönes Gefühl nach den vielen Kohl-Jahren.
Zwar existierte zunächst neben dem SPD-Kanzler noch ein SPD-Parteivorsitzender, zugleich Minister
unter dem Genossen Kanzler, eine Konstellation, die vielleicht innerparteiliche Diskussionen über
Inhalte sozialdemokratischer Politik hätte anregen können.
Aber dieser Stolperstein auf dem Weg zum
Kanzlerwahlverein war rasch weggeräumt. »Auf den Kanzler kommt es an« ohne
lästige Fragerei nahm anschließend der SPD-Parteitag zur Kenntnis, dass Gerhard Schröder nun
nebenbei auch der Partei vorsitzen werde. Was dann folgte, war die systematische Schröderisierung der
deutschen Sozialdemokratie, vollendet in der zweiten Amtsperiode des Kanzlers.
Die Agenda 2010 mitsamt den Hartz-Gesetzen
wurde der Partei auferlegt, sie stand im Widerspruch zu den Erwartungen, die sich mit der
sozialdemokratischen Programmatik und den Aussagen der SPD im Wahlkampf verbunden hatten. Eine Debatte
über diese gesellschaftspolitische Weichenstellung weg vom Sozialstaat fand in der
Partei nicht statt. Kritiker gerieten schnell ins Abseits, denn es galt ja, die Kanzlerschaft abzusichern.
Konzeptionell vorbereitet wurde das
»Reform«-Werk der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung abseits der Partei und auch
abseits ihrer Bundestagsfraktion; der Kanzler bediente sich dafür selbstgeschaffener, in der
Verfassung nicht vorgesehener Kommissionen, deren Ergebnisse dann von Partei und Fraktion abzunicken waren.
Als Instrumente zur Disziplinierung der SPD-
Bundestagsabgeordneten wurde das Verlangen nach einer »Kanzlermehrheit« eingeführt.
Bedenkenträger unter den SPD-Parlamentariern durften ihre Einwände höchstens zu Protokoll
geben, bei der Abstimmung selbst hatten sie die Regierungsvorlage zu bejahen. Wie hätte sich unter
diesen Bedingungen eine innerparteiliche Auseinandersetzung entwickeln können?
Der Unwille von Mitgliedern und Sympathisanten
der SPD suchte sich andere Bahnen: Massenhaft, aber zumeist stillschweigend verließen Sozialdemokraten
die Partei, die sie nicht mehr als die ihre erkennen konnten, und bei den Landtagswahlen verlor die SPD von
Mal zu Mal viele Wähler.
Einen solchen Absturz hatte die Partei in der
Geschichte der Bundesrepublik noch nie erlebt. Bei einer einigermaßen funktionierenden
innerparteilichen Demokratie wäre ein Aufruhr in der SPD die selbstverständliche Folge gewesen.
Den gab es nicht. (Immerhin versuchten einige gewerkschaftlich orientierte Sozialdemokraten, das Soziale an
ihrer Partei einzuklagen, sahen sich dann aber bald vor die Tür gesetzt; daraus entwickelte sich die
WASG.)
Zum Zwecke der Schadensbegrenzung in seiner
Gefolgschaft übertrug der Kanzler den Parteivorsitz an Franz Müntefering, wiederum ohne einen
Prozess innerparteilicher Diskussion und Willensbildung.
Nach dem Desaster der SPD bei der Landtagswahl
in NordrheinWestfalen fasst der Kanzler, assistiert von Franz Müntefering, den Entschluss, den
Regierungskrempel hinzuwerfen, um ihn nach den Neuwahlen möglichst wieder an sich zu nehmen. Die
Partei wurde nicht gefragt, was sie denn davon hielte. Aber eine solche Frage wäre auch ohne Sinn
gewesen, denn der Kanzler war ja gerade dabei, zur Rechtfertigung seines Coups der SPD-Bundestagsfraktion
und der Partei sein Misstrauen auszusprechen. Und auch das nahm die SPD lautlos hin.
Resümierend lässt sich über die
Umwandlung der SPD in Schröder-Zeiten sagen: Als Mitgliederpartei mit Selbstbewusstsein ist die SPD
gecancelt. Von Anhängern des Konzepts einer innerparteilichen Demokratie ist sie weitgehend
gesäubert. Sie ist nun eine Mischung von Wahlverein und Marketingagentur, und ihr Personal muss stets
darauf achten, sich nicht Ungnade beim jeweiligen Kanzler(kandidaten) oder bei den jeweiligen
Ministerpräsidenten(kandidaten) zuzuziehen. Da ist Gerhard Schröder, um es in seiner einstigen
Juso-Sprache zu sagen, auch im Hinblick auf die Partei eine systemtranszendierende Reform gelungen. Der gar
nicht mehr rheinische Kapitalismus wird es ihm zu danken wissen.
Arno Klönne
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