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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2005, Seite 14

Regimekrise im Iran

Erstmals ein Militär an der Spitze des Staates

Die Präsidentschaftswahlen im Iran am 17.Juni haben das Machtgefüge innerhalb der herrschenden Eliten gefährlich durcheinander gebracht. Ein Militär an der Staatsspitze soll, gestützt auf einen neokonservativen Fundamentalismus, neue Stabilität schaffen.

In der Islamischen Republik sind Wahlen grundsätzlich undemokratische, straff kontrollierte Prozesse. Das Gesetz beraubt viele Bürger, Frauen, religiöse Minderheiten (auch nichtschiitische Muslime) und politische Gegner des religiösen Staates, der Möglichkeit, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Durchgesetzt wird dies in der Praxis durch die unbegrenzte Macht des Wächterrats. Dieser ist ein zwölfköpfiges Gremium, das durch den Obersten Führer, Ayatollah Khamenei, ernannt wird und das Recht auf ein Veto über Wahlen und Gesetze hat, die in seinen Augen mit dem »Islam« nicht kompatibel sind. Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen bestanden nur 8 von 2000 Kandidaten vor der Gnade des Wächterrats.
Dieser Rat hat bislang konsequent jeden Kandidaten abgelehnt, den er als für die herrschenden Kreise unpassend betrachtet. Deshalb sind Wahlen in der Islamischen Republik nicht mehr als ein Ausdruck der Loyalität zu einer der wenigen Personen, die der Wächterrat durch sein Netz hat schlüpfen lassen. Unter solchen Bedingungen drückt Wahlenthaltung eher Protest gegen das Regime aus als Apathie der Wähler.
Jene des Organe des Staates, die periodisch zur Wahl stehen, darunter das Präsidentenamt, sind im Allgemeinen in den Strukturen der Macht von sekundärer Bedeutung. Das politische System dreht sich um einen nicht gewählten zentralen Kern, der aus den höchsten geistlichen Würdenträgern besteht und von einem obersten Führer mit wahrlich unbegrenzter Macht angeführt wird. Dort werden alle wichtigen Entscheidungen getroffen, besonders nach dem Tod Khomeinis, seit Ayatollah Khamenei sein Nachfolger wurde.
Präsident und Regierung haben letztlich eine exekutive Verantwortung, sie spielen eine dienende Rolle. Da die herrschenden Eliten aber in verschiedene Fraktionen gespalten sind, wird das für die Exekutive verantwortliche Individuum wichtig, weil seine Ernennung die Verteilung der öffentlichen Ressourcen und in gewisser Weise die Effizienz der gesamten staatlichen Struktur beeinflussen kann. Deshalb gibt es so heftige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fraktionen um die Kontrolle über die gewählten Organe, v.a. um die Präsidentschaft.
Die wichtigste Funktion von Wahlen in der Islamischen Republik besteht in der Verteilung der Macht unter den verschiedenen herrschenden Fraktionen. Dieser Kampf tobt besonders stark bei akuten internen Krisen, wenn die normalen Verhandlungsprozesse zu keinem »Konsens« führen. Unter solchen Bedingungen werden die Wahlen zu einem Mechanismus der Neuzuteilung von Macht.
Bis zu den letzten Wahlen war die übliche Praxis die, dass alle Fraktionen die Regeln eines internen demokratischen Spiels beachteten. Nachdem anfänglichen Aussonderungsprozess durch den Wächterrat intervenierten die Machtzentren nicht außerhalb des »legalen Rahmens« zugunsten des einen oder anderen Kandidaten, genauer gesagt, sie untergruben nicht allzu offensichtlich den Schein der Legalität.

Der Wahlbetrug

Was die letzten Wahlen auf den ersten Blick von den vorhergehenden unterscheidet, ist die Tatsache, dass zum ersten Mal die demokratischen Spielregeln zwischen den verschiedenen Fraktionen des Regimes offen missachtet wurden. Die Welt wurde Zeugin eines hochgradig organisierten, das ganze Land umfassenden Wahlbetrugs zugunsten eines Kandidaten, der von der Spitze der Machtpyramide ausging und nicht nur die Weltöffentlichkeit, sondern auch einen großen Teil der herrschenden Elite im Iran überraschte. Ausmaß und Form dieses Prozesses waren derart, dass es nicht übertrieben ist zu sagen, Ahmadinejad hat den Präsidentenpalast durch einen unblutigen Putsch erobert.
Es gibt Anzeichen dafür, dass es eine Art Drehbuch für den Putsch gegeben hat, das 24 Stunden vor dem zweiten Wahlgang in die Tat umgesetzt wurde. Ahmadinejad, der im ersten Wahlgang nur ein mäßiges Ergebnis zu verzeichnen hatte, proklamierte sich in der zweiten Runde zum Herausforderer Rafsanjani, unter heftigem Protest des ehemaligen Parlamentspräsidenten Mehdi Karrubi. Das Wahlteam um Ahmadinejad verteilte fünf Millionen CDs, fast ausschließlich in den Armenvierteln des Landes, die zeigten, wie Rafsanjani mit seiner Familie im Luxus lebte, während Ahmadinejad selbst als einfacher Mann dargestellt wurde, der den größten Teil seines Gehalts den Armen schenkte. Im zweiten Wahlgang waren die 1,5 Millionen Mann starke Milizen aufgefordert, ein jeder zehn Menschen zur Wahlurne zu bringen. Der Chef der Revolutionären Garde, Zolqadr, stellte diese Operation gegenüber den Milizen als notwendigen Akt der Selbstverteidigung des Iran gegenüber ausländischen Mächten und Extremisten im Innern dar.
Die Wahlen fanden in einer Periode einzigartiger Entwicklungen in der Region statt. Im Mittleren Osten ist der Iran in einer sehr starken Position, hauptsächlich dank der militärischen Interventionen seiner langjährigen Feinde, USA und Großbritannien. Das Taliban-Regime (gegen das der Iran in den späten 90er Jahren beinahe Krieg geführt hätte) ist besiegt, viele Verbündete des Iran sind als regionale Warlords wieder an der Macht.
Doch den größten Erfolg erzielt das iranische Regime im Irak. Ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, erlebte es nicht nur die Beseitigung des weltlichen Baath-Regimes — ein Nachbar, den die iranischen Machthaber mehr hassten als Israel und die USA —, sondern auch den Aufstieg seiner Schützlinge, der schiitischen Parteien im Irak. Das ist einer der Gründe — zusammen mit dem Chaos, das durch die militärische Okkupation des Irak geschaffen wurde, warum das Regime im Iran bei den letzten Wahlen selbstbewusst genug war, ungekannte Risiken einzugehen.
Bei den Präsidentschaftswahlen im Juni gab es acht Kandidaten: Mustafa Moin, Minister für Hochschulbildung in der vorhergehenden Regierung, und Mohsen Mehralizadeh vertraten die Reformer; der Pragmatiker Hashemi Rafsanjani wurde in letzter Minute aufgestellt und galt als Kompromisskandidat, dem die meisten Aussichten gegeben wurde; Mehdi Karrubi repräsentierte die Gesellschaft des Militanten Klerus. Die vier anderen Kandidaten kamen aus dem Lager der Konservativen, darunter ein ehemaliger Polizeichef und ein Vertreter Khameneis im Nationalen Sicherheitsrat.
Das Ergebnis der Wahlen war, dass zum ersten Mal seit Bestehen der Islamischen Republik faktisch alle Machtorgane und -institutionen vollständig unter die Kontrolle der Konservativen gelangt sind. Oberflächlich gesehen ist die politische Macht jetzt homogen und konzentriert sich an der Spitze in den Händen ihres Obersten Führers, Ayatollah Ali Khamenei. Doch anscheinend richtete sich der Staatsstreich hinter den Wahlkulissen nicht allein gegen die Reformer, sondern auch gegen die Mehrheit der bestehenden Gruppierungen innerhalb der herrschenden Oligarchie.

Khamenei geschwächt?

Zweifellos gehören Ahmadinejad und seine Anhänger zum konservativen Flügel des herrschenden Blocks. Doch unter den verschiedenen konservativen Zirkeln gehört Ahmadinejad zu den Gruppen, die »radikale Neokonservative« genannt werden. Er hat z.B. die »Allianz der Erbauer des Islamischen Iran« mitbegründet. In den letzten Jahren haben diese Gruppen, ermutigt und unterstützt vom Obersten Führer, Khamenei, vor allem bei den Sicherheitsorganen und beim Militär Wurzeln gefasst. Sie vertreten populistisch-islamistische und wertezentrierte Losungen, was sie von den anderen Konservativen unterscheidet. Es steht auch fest, dass bei den Verhandlungen zwischen den ultrakonservativen Fraktionen vor den Wahlen Ahmadinejad nicht für alle akzeptabel war und die Konservativen mit vier Kandidaten in die Wahlen gingen.
In Folge der Juni-Wahlen hat zum ersten Mal ein Mann des Militärs und kein Mullah die Exekutive übernommen. Dies vervollständigt den Trend zur militärischen Kontrolle der wichtigsten Staatsorgane, der mit dem Ende des Iran-Irak-Kriegs einsetzte und sich in den letzten acht Jahren verstärkt hat. Dass dies eine qualitative Neuerung ist, kann nicht genug betont werden. Sie kann bedeuten, dass sich das Verhältnis von Kaserne und Moschee in der Theokratie entscheidend verändert.
Das offene Eingreifen des Apparat der obersten Führung, d.h. Khameneis Entourage, in die »Wahlen«, die Schlüsselrolle des Militärs und des paramilitärischen Apparats bei der Organisierung der Abstimmung und schließlich der Machtantritt eines populistischen Neokonservativen — all dies steht im Gegensatz zu den Normen der bisherigen politischen Kultur. So überrascht es nicht, dass diese Vorgänge eine bisher ungekannte Protestwelle der herrschenden Eliten auslösten. Sie können ohne weiteres das Verhältnis zwischen den herrschenden Fraktionen aus dem Gleichgewicht bringen und insbesondere Khamenei weiter isolieren. Seine Position in der klerikalen Oligarchie, die die wirkliche Macht in den Händen hält, kann dadurch geschwächt werden.
Es grenzt nicht an Fantasterei sich vorzustellen, dass die »Versammlung der Experten«, die den Obersten Führer wählt und ihrerseits vom hohen Klerus gewählt wird, Khameneis Eignung in Frage stellen könnte, obgleich sie von Konservativen kontrolliert wird. Rafsanjanis jüngster Vorschlag, den Obersten Führer durch einen »Rat der Führung« zu ersetzen, könnte mit Unterstützung anderer einflussreicher Kleriker durchaus aufgegriffen werden.
Warum also wurde unter dem Deckmantel der Wahlen eine riskante politische Säuberung durchgeführt? Was sind die möglichen Folgen?

Dreifache Bedrohung

In der neunten Präsidentschaftswahl hat die Krise des Regimes die Form eines aggressiven Kampfs um die Macht angenommen. Dieser fand zu einem Zeitpunkt statt, wo die Existenz des Regimes aus drei Richtungen ernsthaft bedroht wird.
Im Inland kann sich das Regime seiner Kontrolle über den Machtapparat nicht mehr sicher sein; es isoliert sich zunehmend und sieht sich einer ansteigenden Welle von Unzufriedenheit und Protesten gegenüber. Gleichzeitig wird ihm auf regionaler und globaler Ebene mit Bushs Projekt eines Regimewechsels die Schlinge um den Hals gelegt. Schließlich haben fraktionelle Auseinandersetzungen innerhalb des Regimes es unmöglich gemacht, dass die herrschenden Eliten länger vereint entscheiden und handeln.
Diese Krise hat natürlich strukturelle Ursachen, die ihre Wurzeln in der widersprüchlichen Struktur der Macht in der Islamischen Republik haben. Sie ist dem Regime sozusagen in die Wiege gelegt und hat sich in den letzten zwanzig Jahren stetig verschlimmert, insbesondere nach dem Übergang zu einer neoliberalen Politik und der Anwendung von Strukturanpassungsprogrammen. Die Politik von Bush nach dem 11.September 2001 hat die Krise weiter vertieft, das Regime steht heute vor realen Gefahren.
Über die Jahre und als Antwort auf die Regimekrise bildeten sich unter den Herrschenden verschiedene politisch-ideologische Lager heraus — selbst ernannte Reformer gegen Konservative. Erstere glauben, dass das Regime ohne »Reformen« nicht überleben kann, wobei sie unterschiedliche Auffassungen vertreten, welche Reformen es sein sollen. Manche wollen die Reformen auf das Verhalten des Staates gegenüber der Bevölkerung beschränken. Andere treten für Reformen der Machtstrukturen selbst ein, z.B. für eine Stärkung der gewählten gegenüber den ernannten Organen. (Der Wächterrat ist so ein ernanntes Organ.) Sie möchten auch die internationalen Beziehungen normalisieren.
Der konservative Block verfolgt eine andere Strategie, mit der Krise fertig zu werden: Er will mehr und mehr Macht an der Spitze konzentrieren und mittels Polizei und Armee nackte Repression ausüben. Alle Strömungen innerhalb dieses Blocks lehnen Veränderungen in der institutionellen Machtstruktur ab.
Seit dem Tod Khomeinis haben die Konservativen alle Schlüsselpositionen der Macht besetzt. Dazu gehören alle Organe, die unter dem Befehl des Obersten Führers stehen — die Streitkräfte, die Geheimdienste und die Justiz.
Doch die despotische und zutiefst reaktionäre Natur der verschiedenen Cliquen im ultrakonservativen Block begrenzt ihre Fähigkeit, mit Krisen fertig zu werden. Mit dem Scheitern der Reformer, die ihre soziale Basis nicht an sich binden konnten und unfähig waren, als Sicherheitsventil für das gesamte Regime zu fungieren und zumindest einen teilweisen Schutz vor den Drohungen der USA zu bieten, befanden sich die Konservativen in einer neuen Verlegenheit. Sie hatten nur zwei Möglichkeiten: Kompromisse einzugehen und das herrschende politische System Schritt für Schritt aufzugeben, oder eine hochriskante Konfrontation einzugehen und die Folgen zu tragen. Vor dieser Entscheidung spalteten sie sich in verschiedene Fraktionen: die »Allianz der Erbauer des Islam«, die »Prinzipienfesten Reformer« u.a.
Diese neuen Gruppierungen, die man islamistische Neokonservative nennen könnte, eroberten sich ihren Platz im politischen Spektrum durch die Bekämpfung aller anderen Fraktionen: die Reformer (Anhänger von Khatami), die Pragmatiker (Anhänger von Rafsanjani) und die traditionellen Konservativen. In ihren Augen hatten sie alle versagt und die Krise so verschärft, dass sie das Regime bedrohte. Den Neokonservativen schien eine kühne und radikale Lösung unvermeidbar. Deshalb folgte auf eine langsame Konsolidierung der Macht stillschweigend ein Staatsstreich.

Die Politik der Neokonservativen

In den letzten Jahren ist es den Neokonservativen gelungen, viele Staatsorgane zu infiltrieren, ihre Rivalen auszubooten, viele Stadtverwaltungen, das Parlament und nun den Präsidentenstuhl zu erobern.
Sie streben ein neues Gleichgewicht an, das die inneren und äußeren Krisen reduzieren und das Überleben des Systems sichern soll. Ihr Ziel ist ein mächtiger, zentralisierter, prinzipienfester Staat, von Korruption gesäubert, basierend auf einer erneuerten Unterstützung der unteren Schichten der Gesellschaft und des Militärs, mit Atomwaffen ausgestattet, und das alles finanziert mit Öldollars.
Damit glauben sie, den inneren und äußeren Herausforderungen entgegentreten zu können, ohne strukturelle Änderungen durchzuführen, bei gleichzeitiger Bewahrung der ideologischen und autoritären Natur des Regimes.
Der Unterschied zu den traditionellen Konservativen liegt darin, dass sie erstens, um neue Unterstützung für das Regime zu gewinnen, ihre Priorität auf die verarmten Massen legen, zweitens für einen »interventionistischen« Staat eintreten, der das ganze Leben des Landes kontrolliert, im Unterschied zu den traditionellen Konservativen, die einer Privatisierungspolitik anhängen. Drittens konzentrieren sie ihre Propaganda stärker auf die soziale Gerechtigkeit und das Wohlergehen der Armen als auf islamische Werte und Frage von wahr oder falsch in religiösen Dingen.
Die Gruppe der Neokonservativen entwickelt sich zwar noch, die Umrisse ihrer Politik lassen sich allerdings schon skizzieren. Sie bieten zwei zentrale Lösungen an:
Die Zentralisierung der Macht an der Spitze; eine politische, organisatorische und finanzielle Säuberung der exekutiven Organe des Staates.
Der Versuch, eine neue politische Bewegung zu schaffen, um die soziale Basis des Regimes in den städtischen und dörflichen Armutsbezirken wiederzubeleben, die in den letzten 15 Jahren zunehmend brüchig geworden ist. Tatsächlich versuchen sie, die Unzufriedenheit über die Wirtschaftspolitik des Regimes auszunutzen.
Entlang dieser Linie konnte eine unausgesprochene Allianz mehrerer neokonservativer Gruppen unter der Führung von Khamenei und seiner Umgebung die jüngsten Wahlen nutzen, um die letzte Bastion der Reformer und Pragmatiker zu besetzen. Der Boden ist nun bereitet für die absolute Herrschaft des Obersten Führers. Dazu hatte schon Ayatollah Khomeini aufgerufen, konnte das Ziel aber wegen der tiefen Widersprüche in der Machtstruktur des Regimes, nicht erreichen

Ardeshir Mehrdad/ Mehdi Kia

www.zmag.org (Übersetzung: Hans-Günter Mull).

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