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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2005, Seite 16

Räumung des Gazastreifens

Nach dem Abzug die Annexion

Wegen des sog. »einseitigen Abzugs« aus dem besetzten Gazastreifen gegen den Widerstand rechter jüdischer Siedler wurde Israels Ministerpräsident Ariel Sharon von westlichen Regierungen als Friedensstifter gepriesen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Toufic Haddad, früher Mitherausgeber von Between the Lines, berichtet aus Bethlehem, worum es Sharon bei seinem Rückzugsplan geht.

Sharons Rückzugsmanöver wurde in den USA sowohl von Republikanern wie auch Demokraten als »historische und mutige Aktion« bezeichnet. Der Plan war zuerst Ende 2003 angekündigt worden, als Sharon versprach, »zwischen Israel und den Palästinensern die wirksamste Sicherheitslinie zu ziehen, die möglich ist«. Seitdem hat seine Regierung unermüdlich an der Ausarbeitung der Details gearbeitet, einschließlich der Frage, was mit den 5000 israelischen Siedlern geschehen soll, die in Gaza leben. Im politischen Establishment Israels fand Sharon Zustimmung für seinen Plan — und forderte von der US-Regierung zusätzliche 2,2 Milliarden Dollar Hilfe, um sie auszuführen.
In Wirklichkeit bedeutet Sharons Abzugsplan keine Verlegung von Truppen oder Umsiedlung von Siedlern. Er ist ein breiteres Vorhaben, das die Ära der »Oslo-Abkommen« ersetzen und auf Jahre hinaus einseitig die Natur der künftigen palästinensisch-israelischen Beziehungen bestimmen wird.
So seien vorab einige Mythen zerstreut, die sich um Sharons Plan ranken. Die Besetzung des Gazastreifens wird dadurch nicht beendet, und sie nimmt auch nicht mildere Formen an. Weder übergibt Israel die Kontrolle an eine souveräne Macht noch verspricht es, in Zukunft außerhalb des Gebiets zu bleiben. Tatsächlich wird Israel durch den Plan, wie er vom israelischen Parlament verabschiedet wurde, ermächtigt, die Kontrolle über den Gazastreifen über Land, Luft und Meer aufrechtzuerhalten und »vorbeugende und reagierende Gewaltmaßnahmen gegen Bedrohungen« zu treffen, die »vom Gazastreifen ausgehen«. Im Wesentlichen ist dies eine Lizenz für Israel, seine Politik der verbrannten Erde und der gezielten Tötungen unbegrenzt fortzusetzen.
Somit definiert Israel seine Besetzung des Gazastreifens lediglich neu — entlang von Linien, die für seine militärische Kontrolle günstiger sind, denn das alte Arrangement hatte sich seit dem Beginn der Al-Aqsa-Intifada und der Entwicklung eines gutorganisierten Guerillakampfes gegen die jüdischen Siedler und die israelische Armee im Gazastreifen als ineffektiv erwiesen.
Obwohl sich der Rückzugsplan auf den Gazastreifen zu konzentrieren scheint, richtet er sich vor allem gegen das Westjordanland, dort geht es insbesondere um die Konsolidierung der wesentlichen israelischen Siedlungsblöcke. Diese Blöcke, in denen die Hauptmasse der Siedler lebt, liegen an den wichtigsten Wasserquellen dergesamten Region. Außerdem zerstückeln sie das Westjordanland dauerhaft in eine Reihe von Kantonen.

Oslo beerdigt

Wegen dieser Siedlungen ist die Schaffung eines unabhängigen, territorial zusammenhängenden palästinensischen Staates in diesen Gebieten — das vorgebliche Ziel des Osloer »Friedensprozesses« — bloß ein Hirngespinst. Das steht auch ausdrücklich im Text des Rückzugsplans; er verspricht, dass »Israel die zentralen jüdischen Siedlungsblöcke, Städte, Sicherheitszonen und anderen Ländereien, die zu behalten Israel interessiert ist, annektieren wird«. Zum ersten Mal seit der Annexion von Ost-Jerusalem kurz nach dem Krieg von 1967 wird das israelische Parlament der Annexion besetzten palästinensischen Landes zustimmen.
Dies erklärt, warum die Aufmerksamkeit auf den Gazastreifen konzentriert wird. Sie soll von den massiven Ghettos abgelenkt werden, die im Westjordanland errichtet werden — in Form von Mauern, Militärbasen und enormen Checkpoints, die als Kreuzungspunkte zwischen diesen Ghettos und der äußeren Welt fungieren.
Nicht weniger wichtig (aber allzu oft ignoriert) sind die Auswirkungen, die der Plan auf die palästinensischen Bürger Israels haben wird. Große Teile der US-»Hilfe« für die Durchführung des Rückzugsplans werden dafür verwandt, israelische Juden in der Negev und in Galiläa anzusiedeln — den beiden Hauptgebieten, in denen palästinensische Bürger innerhalb Israels konzentriert sind.
Israel hat diese Gemeinschaft stets diskriminiert und unterdrückt, seit sich ihre Angehörigen als »Nichtjuden« in einem jüdischen Staat wiederfanden — von der Gründung Israels 1948 über die Enteignung der großen Mehrheit der Palästinenser. Aber diese Unterdrückung hat sich im Gefolge der Al-Aqsa- Intifada drastisch gesteigert — bis dahin, dass Israel nun dazu übergeht, politische Vertretungen von Palästinensern im Parlament zu verbieten, massive Kampagnen von Häuserzerstörungen organisiert und die jüdischen Siedlungen in und um palästinensische Dörfer verstärkt. Es sind exakt dieselben Techniken, die in den besetzten Gebieten im Westjordanland angewandt werden.
Schließlich zielt Sharons Plan darauf ab, die Grundgedanken des Osloer »Friedensprozesses« beiseite zu schieben — aus zionistischer Perspektive ist er vollständig gescheitert. In anderen Worten, die Annahme, es sei möglich, vermittelt über »palästinensische Partner« eine palästinensische Zustimmung für Israels koloniale Ambitionen zu erhalten (was nichts mit der Erlangung eines dauerhaften und gerechten Friedens zu tun hat), hat sich dauerhaft erledigt.
Sharons Berater Dov Weisglass drückt es so aus: »Der Rückzug ist tatsächlich Formaldehyd. Er liefert die Menge Formaldehyd, die nötig ist, damit es keinen politischen Prozess mit den Palästinensern geben wird«, und die Israel befähigt, »sich bequem in einer Interimssituation aufzuhalten, die uns so weit wie möglich von politischem Druck fernhält«.
Mit der Vollendung des Rückzugs — der in Israel bewusst als eine traumatische Erfahrung inszeniert wird, von der niemand »vernünftigerweise« verlangen kann, dass Israel sie einmal wiederholt — bricht eine neue Ära an. Sie wird geprägt sein von einer konsolidierten Karte palästinensischer Ghettos, die von einer stetig zunehmenden Expansion von Siedlungen auf beiden Seiten der Grünen Linie im Westjordanland bedrängt werden — jedesmal begleitet von einer enormen israelischen Repression, wenn Palästinenser versuchen, gegen ihr Schicksal Widerstand zu leisten.
Hier wird die »Road Map« der US- Regierung eine Rolle spielen — als ein »politischer Prozess«, der die Zulässigkeit israelischer Aktionen kodifiziert, bis eine faktisch grenzenlose Serie »politischer, sozialer und Anti-Terror-Reformen« von den palästinensischen Behörden verwirklicht wird. Die Einleitung dieser neuen Ära — langfristiges Szenario eines permanenten Krieges, der auf nichts weniger zielt als auf die Zerschlagung der palästinensischen nationalen Bewegung — ist weitaus bedeutender als der »Rückzug« aus Gaza selbst.
Der internationalen (v.a. US-amerikanischen) Solidaritäts- und Antikriegsbewegung kommt bei der Aufdeckung der Wahrheit hinter dem Rückzugsplan eine besondere Aufgabe zu. Der Aufbau einer Massenbewegung, der den Kampf Palästinas mit dem Kampf gegen die Besetzung des Irak verbindet, ist die beste Hoffnung gegen die unheilvolle Perspektive, die diese Politik uns allen in Aussicht stellt.

Toufic Haddad, Bethlehem

http://socialistworker.org (Übersetzung: Hans- Günter Mull)

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