SoZSozialistische Zeitung |
Wir dokumentieren eine Rede, die Tariq Ali unmittelbar nach den Londoner
Bombenanschlägen auf der von der Socialist Workers Party (SWP) organisierten Konferenz »Marxism
2005« hielt.
Liebe Freunde, wir versammeln uns in traurigen Zeiten. Bevor ich anfange, über das Thema des
Abends zu sprechen, möchte ich einige Worte darüber verlieren, was wir gegenwärtig erleben.
Wir erleben eine Attacke seitens einer Gruppe
von Terroristen auf gewöhnliche Werktätige in London. Dies ist kein Verhalten, das irgendjemand
auf der Linken unterstützen könnte. Aber warum geschahen diese Angriffe? Das ist die
entscheidende Frage, die alle Medien und die gesamte politische Klasse in diesem Land zu ignorieren suchen.
Sie tun dies, weil die Regierung und die größte Oppositionspartei ganz genau wissen, warum es
geschah. Sie fühlen sich schuldig.
Es geschah zweifellos, weil Tony Blair in
einer Umarmung mit dem US-Präsidenten gefangen ist, aus der er nicht leicht befreit werden kann. Er
hatte beschlossen, eine skeptische Öffentlichkeit in einen Krieg zu führen, den sie nicht
unterstützte.
Die Gegnerschaft zu diesem Krieg hat sich
nicht auf Antikriegsaktivisten oder die Linke beschränkt; sie reichte bis in die höheren
Ränge des Establishments. In der Woche nach dem Fall von Bagdad schrieb ein höherer Beamter des
Außenministeriums, ein Sicherheitsberater für Downing Street, einen Brief an die Financial Times.
Er erklärte, warum der Krieg falsch war, wie wir durch Lügen in den Krieg getrieben wurden und
warum der Krieg Großbritannien selbst in Gefahr brachte.
Londons Bürgermeister Ken Livingstone hat
dieser Tage Winston Churchill zitiert. Warum kommt man nicht auf die Idee, jemand anderen zu zitieren? Gibt
es eine Krise, wird immer wieder auf den Zweiten Weltkrieg rekurriert. Ken selbst sagte einmal, ein Grund
für seine Gegnerschaft zum Krieg sei die Tatsache, dass er das Leben der London Bürger
gefährde. Er hatte Recht damit und er sollte das auch beherzigen.
Wenn man den Leuten keine politische
Erklärung liefert für das, was geschehen ist, bleibt als Erklärung nur das, was der
Premierminister erzählt: Barbaren erheben sich gegen die Zivilisation. Blair sagt es, seine
erbärmlichen Kabinettsmitglieder wiederholen es, sogar Bush hat ein paar Phrasen aufgegriffen.
Wir müssen hier ganz klar sein. Wenn die
Tötung unschuldiger Zivilisten in London barbarisch ist und das ist sie , wie soll man
dann die Tötung von über 100000 irakischen Zivilisten bezeichnen?
In der dominanten Kultur des Westens gibt es
den tief sitzenden Glauben, dass das Leben westlicher Zivilisten irgendwie wertvoller sei als das der
Menschen in anderen Teilen der Welt besonders jener Teile, die vom Westen bombardiert und okkupiert
werden.
Das bringt mich auf das Thema des Abends.
Werden im Irak Kriegsverbrechen begangen? Die Antwort lautet: Ja. Wenn die Medien in Großbritannien
ein Viertel der Berichterstattung, die sie den Bomben in London widmen, darauf verwenden würden zu
berichten, was gewöhnlichen Zivilisten im Irak angetan wird, hätten wir eine gigantische,
unkontrollierbare Antikriegsbewegung.
In vieler Hinsicht ruft der Irak die
Erinnerung an Vietnam wach. Wie heute über den Irak sagten viele Politiker damals über den
Vietnamkrieg: »Er wird bald vorbei sein, bis Weihnachten sind unsere Truppen wieder zu Hause.«
Ältere im Publikum erinnern sich vielleicht an General Westmoreland, den Kommandanten der US-
Streitkräfte in Vietnam. Jedes Jahr sagte er: »Die Jungs sind Weihnachten wieder zu Hause.«
Ein anderer General in Vietnam gab eine
Stellungnahme ab, das den Politikern und seinen Generalskollegen widersprach: »Wenn Sie wollen, dass
wir die Lage hier kontrollieren, dann können wir zehn Jahre hier bleiben.« Zumindest er sagte die
Wahrheit.
Auch die mutwillige Zerstörung von
Städten und menschlichem Leben ähnelt dem Vorgehen in Vietnam. Mehr als 100000 Zivilisten sind im
Irak getötet worden. Im Gegensatz dazu betrug die Zahl der getöteten Besatzungssoldaten etwa
2000. In Vietnam war das Verhältnis dasselbe. Am Ende des Vietnamkriegs gab es 50000 getötete US-
Soldaten und 2 Millionen getötete Vietnamesen.
Der große Unterschied bestand darin, dass sich die Menschen, die den Kampf gegen die USA in Vietnam
anführten, als Kommunisten bezeichneten und auch in gewisser Weise Teil dieser Tradition waren. Sie
verstanden, wie wichtig es war, die amerikanische Bevölkerung für die Antikriegsbewegung zu
gewinnen. Im Irak gibt es keine damit vergleichbare Organisation, die den Widerstand anführt. Es gibt
dort nicht nur eine Organisation, sondern viele nationalistische, weltliche und zunehmend
religiöse Organisationen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie man politisch in die globale
Politik eingreift.
Ein Grund dafür, dass wir keine geeinte
Widerstandsorganisation haben, ist die Entscheidung der irakischen KP, sich an der Besatzung zu beteiligen,
anstatt diese zu bekämpfen und dies ist eine Schande.
Der zweite große Unterschied zwischen
Vietnam und dem Irak ist die Tatsache, dass während des Vietnamkriegs die Mehrheit der britischen
Bevölkerung den Krieg unterstützte. Ich erinnere mich noch gut an die Zahlen: auf dem
Höhepunkt unserer Bewegung unterstützten uns 38% der Bevölkerung. In den USA
unterstützte die Mehrheit die Regierung bis zum Schluss. Die Minderheit nahm allerdings von Tag zu Tag
zu und erreichte schließlich die gewöhnlichen GIs. Als die Soldaten mit ihren Uniformen und Orden
gegen den Krieg demonstrierten, manche auf Krücken, erkannte das Establishment, dass es den Krieg
nicht fortsetzen konnte.
Die Vietnamesen unternahmen besondere
Anstrengungen, zu schwarzen US-Soldaten zu sprechen. Ich war in Vietnam und erlebte ihre Propaganda. Sie
fragten: »Warum verteidigt ihr das herrschende System? Was hat es für euch getan?« Die Zahl
der desertierten schwarzen GIs wuchs stetig an und schließlich gab es eine Gruppe namens Black GIs
Against the War. Deren Losung lautete: »Ich geh nicht nach Vietnam, denn Vietnam ist, wo ich bin.
Verdammt, ich geh nicht.« Ihr Bewusstsein schärfte sich, wenn sie in die USA zurückkehrten.
Da fanden sie Rassismus und entsetzliche soziale Verhältnisse vor. 1968 schwappte eine Welle von
Unruhen über die US-amerikanischen Städte. Viele Anführer dieser Krawalle waren schwarze
GIs, die wussten, wie man mit Schusswaffen umgeht.
Im Vietnamkrieg gründeten wir ein
Tribunal über Kriegsverbrechen. Ein Grund war, dass Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell von den
Kriegsverbrechen sprachen, die in Vietnam begangen wurden. Wir wurden von den Medien angegriffen, das sei
bloße Fantasie. Doch sechs Monate später mussten sie zugeben, dass das Massaker von My Lai
stattgefunden hatte, weil der US-Journalist Seymour Hersh die Beweise dafür hatte und sie
veröffentlichte. Plötzlich sprachen alle von Gräueltaten.
Heute gibt es öffentlich zugängliche
Informationen darüber, dass US-Soldaten irakische Gefangene erschießen. Gefragt, warum sie dies
tun, antworten sie: »Wir waren nett zu ihnen: sie waren verwundet und wir haben sie von ihrem Elend
erlöst.« Sie haben Gefangene in Abu Ghraib gedemütigt, und das ist bekannt, aber sie haben
auch Folterzentren in Jordanien, Pakistan und Ägypten, dorthin schicken sie die Gefangenen, damit sie
von Spezialisten gefoltert werden. Wir wissen, dass sie es zur Regel machen, auf Gefangene zu urinieren, um
sie zu demütigen.
So verhalten sich Kolonialisten. Sie kennen
keinen anderen Weg, denn es gibt keinen anderen Weg, wenn man ein anderes Land besetzt. Es ist die Logik
kolonialer Besatzung. Es gibt eine Kontinuität im Handeln von Imperien.
Ich erinnere mich an die französische
Besatzung Algeriens. Die Franzosen nannten die Algerier dreckige Terroristen, weil sie Cafés in Algier
in die Luft sprengten. Die algerische Befreiungsfront FLN pflegte zu antworten: »Wir tun, was wir tun
müssen, um euch aus unserem Land zu jagen. Wenn ihr nicht wollt, dass wir die Cafés in die Luft
jagen, in denen ihr mit euren Freunden sitzt, gebt uns ein paar Kampfbomber und wir bombardieren eure
Kasernen.«
Während des Vietnamkriegs beschuldigten
die Amerikaner die Vietnamesen, dass sie Bomben in der Hauptstadt Saigon hochgehen ließen. Aber der
Widerstand musste dies tun, um das Land unregierbar zu machen. Das ist keine feine Sache. Aber es ist der
Charakter der Besatzung, der die Natur des Widerstands bestimmt das stimmt für jeden einzelnen
Fall.
Wir in der Antikriegsbewegung sollten nicht
die Nerven verlieren, wenn solche Dinge geschehen wie die Anschläge in London. Die Leute, die sie
ausführten, sind nicht Teil unserer Welt, aber sie sind wütend geworden durch das, was sie
gesehen haben. Eins der Argumente, die wir hören, lautet: »Als der 11.September passierte, hatten
wir den Irak nicht angegriffen.« Aber diese Attacke auf das US-Imperium kam von Leuten, die nahezu
dessen frühere Angestellte waren Leute, die mit den USA in Afghanistan zusammengearbeitet
hatten. Und sie sagten, warum sie die Anschläge ausführten wegen der US-Präsenz in
Saudi-Arabien. Es ist die westliche Präsenz in der arabischen Welt, die diese Probleme verursacht.
Solange es keine politische Lösung gibt, wird der Terror weitergehen.
Ich sehe, dass George Galloway heute abend im
Publikum ist. Ich möchte George Galloway öffentlich etwas sagen: Deine Anwesenheit im Unterhaus
ist eine der größten Waffen, über die wir in diesem Land verfügen. Ich weiß, wie
die Medien in diesem Land über Menschen herziehen. Mit mir taten sie es in den 60er Jahren, mit Arthur
Scargill während des Bergarbeiterstreiks, mit Ken Livingstone, als er für den Greater London
Council kandidierte, mit Tony Benn, als er sich um den Vorsitz der Labour Party bewarb, und jetzt ist
George ihr Opfer.
Darauf dass die Sun ein Bild von George
veröffentlichte mit der Schlagzeile, er sei die übelste Person in Großbritannien, sollte er
stolz sein. Es zeigt, dass sie auf unsere Argumente keine Antwort haben.
Unsere Argumente dass es eine
Verbindung gibt zwischen den Anschlägen und dem Krieg im Irak sind mehr oder weniger common
sense auf den Straßen Großbritanniens. Leute, die uns vielleicht nicht mögen, sagen:
»Wenn wir nicht in den Irak gegangen wären, hätten sie uns womöglich nicht
bombardiert.«
Deshalb schließt sich das Establishment
hinter der Vorstellung zusammen, das alles habe nichts mit dem Irak zu tun. Aber es hat mit dem Irak zu
tun, und wenn wir uns nicht zurückziehen, kann es wieder geschehen.
www.socialistworker.co.uk (Übersetzung: Hans-
Günter Mull)
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