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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2005, Seite 17

Tariq Ali über Politik und Bomben

Wären wir nicht in den Irak gegangen…

Wir dokumentieren eine Rede, die Tariq Ali unmittelbar nach den Londoner Bombenanschlägen auf der von der Socialist Workers Party (SWP) organisierten Konferenz »Marxism 2005« hielt.

Liebe Freunde, wir versammeln uns in traurigen Zeiten. Bevor ich anfange, über das Thema des Abends zu sprechen, möchte ich einige Worte darüber verlieren, was wir gegenwärtig erleben.
Wir erleben eine Attacke seitens einer Gruppe von Terroristen auf gewöhnliche Werktätige in London. Dies ist kein Verhalten, das irgendjemand auf der Linken unterstützen könnte. Aber warum geschahen diese Angriffe? Das ist die entscheidende Frage, die alle Medien und die gesamte politische Klasse in diesem Land zu ignorieren suchen. Sie tun dies, weil die Regierung und die größte Oppositionspartei ganz genau wissen, warum es geschah. Sie fühlen sich schuldig.
Es geschah zweifellos, weil Tony Blair in einer Umarmung mit dem US-Präsidenten gefangen ist, aus der er nicht leicht befreit werden kann. Er hatte beschlossen, eine skeptische Öffentlichkeit in einen Krieg zu führen, den sie nicht unterstützte.
Die Gegnerschaft zu diesem Krieg hat sich nicht auf Antikriegsaktivisten oder die Linke beschränkt; sie reichte bis in die höheren Ränge des Establishments. In der Woche nach dem Fall von Bagdad schrieb ein höherer Beamter des Außenministeriums, ein Sicherheitsberater für Downing Street, einen Brief an die Financial Times. Er erklärte, warum der Krieg falsch war, wie wir durch Lügen in den Krieg getrieben wurden und warum der Krieg Großbritannien selbst in Gefahr brachte.
Londons Bürgermeister Ken Livingstone hat dieser Tage Winston Churchill zitiert. Warum kommt man nicht auf die Idee, jemand anderen zu zitieren? Gibt es eine Krise, wird immer wieder auf den Zweiten Weltkrieg rekurriert. Ken selbst sagte einmal, ein Grund für seine Gegnerschaft zum Krieg sei die Tatsache, dass er das Leben der London Bürger gefährde. Er hatte Recht damit und er sollte das auch beherzigen.
Wenn man den Leuten keine politische Erklärung liefert für das, was geschehen ist, bleibt als Erklärung nur das, was der Premierminister erzählt: Barbaren erheben sich gegen die Zivilisation. Blair sagt es, seine erbärmlichen Kabinettsmitglieder wiederholen es, sogar Bush hat ein paar Phrasen aufgegriffen.
Wir müssen hier ganz klar sein. Wenn die Tötung unschuldiger Zivilisten in London barbarisch ist — und das ist sie —, wie soll man dann die Tötung von über 100000 irakischen Zivilisten bezeichnen?
In der dominanten Kultur des Westens gibt es den tief sitzenden Glauben, dass das Leben westlicher Zivilisten irgendwie wertvoller sei als das der Menschen in anderen Teilen der Welt — besonders jener Teile, die vom Westen bombardiert und okkupiert werden.
Das bringt mich auf das Thema des Abends. Werden im Irak Kriegsverbrechen begangen? Die Antwort lautet: Ja. Wenn die Medien in Großbritannien ein Viertel der Berichterstattung, die sie den Bomben in London widmen, darauf verwenden würden zu berichten, was gewöhnlichen Zivilisten im Irak angetan wird, hätten wir eine gigantische, unkontrollierbare Antikriegsbewegung.
In vieler Hinsicht ruft der Irak die Erinnerung an Vietnam wach. Wie heute über den Irak sagten viele Politiker damals über den Vietnamkrieg: »Er wird bald vorbei sein, bis Weihnachten sind unsere Truppen wieder zu Hause.« Ältere im Publikum erinnern sich vielleicht an General Westmoreland, den Kommandanten der US- Streitkräfte in Vietnam. Jedes Jahr sagte er: »Die Jungs sind Weihnachten wieder zu Hause.«
Ein anderer General in Vietnam gab eine Stellungnahme ab, das den Politikern und seinen Generalskollegen widersprach: »Wenn Sie wollen, dass wir die Lage hier kontrollieren, dann können wir zehn Jahre hier bleiben.« Zumindest er sagte die Wahrheit.
Auch die mutwillige Zerstörung von Städten und menschlichem Leben ähnelt dem Vorgehen in Vietnam. Mehr als 100000 Zivilisten sind im Irak getötet worden. Im Gegensatz dazu betrug die Zahl der getöteten Besatzungssoldaten etwa 2000. In Vietnam war das Verhältnis dasselbe. Am Ende des Vietnamkriegs gab es 50000 getötete US- Soldaten und 2 Millionen getötete Vietnamesen.

‘I won‘t go to Vietnam‘

Der große Unterschied bestand darin, dass sich die Menschen, die den Kampf gegen die USA in Vietnam anführten, als Kommunisten bezeichneten und auch in gewisser Weise Teil dieser Tradition waren. Sie verstanden, wie wichtig es war, die amerikanische Bevölkerung für die Antikriegsbewegung zu gewinnen. Im Irak gibt es keine damit vergleichbare Organisation, die den Widerstand anführt. Es gibt dort nicht nur eine Organisation, sondern viele — nationalistische, weltliche und zunehmend religiöse — Organisationen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie man politisch in die globale Politik eingreift.
Ein Grund dafür, dass wir keine geeinte Widerstandsorganisation haben, ist die Entscheidung der irakischen KP, sich an der Besatzung zu beteiligen, anstatt diese zu bekämpfen — und dies ist eine Schande.
Der zweite große Unterschied zwischen Vietnam und dem Irak ist die Tatsache, dass während des Vietnamkriegs die Mehrheit der britischen Bevölkerung den Krieg unterstützte. Ich erinnere mich noch gut an die Zahlen: auf dem Höhepunkt unserer Bewegung unterstützten uns 38% der Bevölkerung. In den USA unterstützte die Mehrheit die Regierung bis zum Schluss. Die Minderheit nahm allerdings von Tag zu Tag zu und erreichte schließlich die gewöhnlichen GIs. Als die Soldaten mit ihren Uniformen und Orden gegen den Krieg demonstrierten, manche auf Krücken, erkannte das Establishment, dass es den Krieg nicht fortsetzen konnte.
Die Vietnamesen unternahmen besondere Anstrengungen, zu schwarzen US-Soldaten zu sprechen. Ich war in Vietnam und erlebte ihre Propaganda. Sie fragten: »Warum verteidigt ihr das herrschende System? Was hat es für euch getan?« Die Zahl der desertierten schwarzen GIs wuchs stetig an und schließlich gab es eine Gruppe namens Black GIs Against the War. Deren Losung lautete: »Ich geh nicht nach Vietnam, denn Vietnam ist, wo ich bin. Verdammt, ich geh nicht.« Ihr Bewusstsein schärfte sich, wenn sie in die USA zurückkehrten. Da fanden sie Rassismus und entsetzliche soziale Verhältnisse vor. 1968 schwappte eine Welle von Unruhen über die US-amerikanischen Städte. Viele Anführer dieser Krawalle waren schwarze GIs, die wussten, wie man mit Schusswaffen umgeht.
Im Vietnamkrieg gründeten wir ein Tribunal über Kriegsverbrechen. Ein Grund war, dass Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell von den Kriegsverbrechen sprachen, die in Vietnam begangen wurden. Wir wurden von den Medien angegriffen, das sei bloße Fantasie. Doch sechs Monate später mussten sie zugeben, dass das Massaker von My Lai stattgefunden hatte, weil der US-Journalist Seymour Hersh die Beweise dafür hatte und sie veröffentlichte. Plötzlich sprachen alle von Gräueltaten.
Heute gibt es öffentlich zugängliche Informationen darüber, dass US-Soldaten irakische Gefangene erschießen. Gefragt, warum sie dies tun, antworten sie: »Wir waren nett zu ihnen: sie waren verwundet und wir haben sie von ihrem Elend erlöst.« Sie haben Gefangene in Abu Ghraib gedemütigt, und das ist bekannt, aber sie haben auch Folterzentren in Jordanien, Pakistan und Ägypten, dorthin schicken sie die Gefangenen, damit sie von Spezialisten gefoltert werden. Wir wissen, dass sie es zur Regel machen, auf Gefangene zu urinieren, um sie zu demütigen.
So verhalten sich Kolonialisten. Sie kennen keinen anderen Weg, denn es gibt keinen anderen Weg, wenn man ein anderes Land besetzt. Es ist die Logik kolonialer Besatzung. Es gibt eine Kontinuität im Handeln von Imperien.
Ich erinnere mich an die französische Besatzung Algeriens. Die Franzosen nannten die Algerier dreckige Terroristen, weil sie Cafés in Algier in die Luft sprengten. Die algerische Befreiungsfront FLN pflegte zu antworten: »Wir tun, was wir tun müssen, um euch aus unserem Land zu jagen. Wenn ihr nicht wollt, dass wir die Cafés in die Luft jagen, in denen ihr mit euren Freunden sitzt, gebt uns ein paar Kampfbomber und wir bombardieren eure Kasernen.«
Während des Vietnamkriegs beschuldigten die Amerikaner die Vietnamesen, dass sie Bomben in der Hauptstadt Saigon hochgehen ließen. Aber der Widerstand musste dies tun, um das Land unregierbar zu machen. Das ist keine feine Sache. Aber es ist der Charakter der Besatzung, der die Natur des Widerstands bestimmt — das stimmt für jeden einzelnen Fall.
Wir in der Antikriegsbewegung sollten nicht die Nerven verlieren, wenn solche Dinge geschehen wie die Anschläge in London. Die Leute, die sie ausführten, sind nicht Teil unserer Welt, aber sie sind wütend geworden durch das, was sie gesehen haben. Eins der Argumente, die wir hören, lautet: »Als der 11.September passierte, hatten wir den Irak nicht angegriffen.« Aber diese Attacke auf das US-Imperium kam von Leuten, die nahezu dessen frühere Angestellte waren — Leute, die mit den USA in Afghanistan zusammengearbeitet hatten. Und sie sagten, warum sie die Anschläge ausführten — wegen der US-Präsenz in Saudi-Arabien. Es ist die westliche Präsenz in der arabischen Welt, die diese Probleme verursacht. Solange es keine politische Lösung gibt, wird der Terror weitergehen.
Ich sehe, dass George Galloway heute abend im Publikum ist. Ich möchte George Galloway öffentlich etwas sagen: Deine Anwesenheit im Unterhaus ist eine der größten Waffen, über die wir in diesem Land verfügen. Ich weiß, wie die Medien in diesem Land über Menschen herziehen. Mit mir taten sie es in den 60er Jahren, mit Arthur Scargill während des Bergarbeiterstreiks, mit Ken Livingstone, als er für den Greater London Council kandidierte, mit Tony Benn, als er sich um den Vorsitz der Labour Party bewarb, und jetzt ist George ihr Opfer.
Darauf dass die Sun ein Bild von George veröffentlichte mit der Schlagzeile, er sei die übelste Person in Großbritannien, sollte er stolz sein. Es zeigt, dass sie auf unsere Argumente keine Antwort haben.
Unsere Argumente — dass es eine Verbindung gibt zwischen den Anschlägen und dem Krieg im Irak — sind mehr oder weniger common sense auf den Straßen Großbritanniens. Leute, die uns vielleicht nicht mögen, sagen: »Wenn wir nicht in den Irak gegangen wären, hätten sie uns womöglich nicht bombardiert.«
Deshalb schließt sich das Establishment hinter der Vorstellung zusammen, das alles habe nichts mit dem Irak zu tun. Aber es hat mit dem Irak zu tun, und wenn wir uns nicht zurückziehen, kann es wieder geschehen.

www.socialistworker.co.uk (Übersetzung: Hans- Günter Mull)



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