SoZSozialistische Zeitung |
»Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu
kümmern, was sie angeht« schrieb Paul Valery. Der Parlamentarismus bildet dabei ein wesentliches
Moment. Wer sich von einer »neuen Kraft« im Parlament etwas erwartet, tut gut daran, seine
Hoffnungen dazu ins Verhältnis zu setzen.
Parlamentarische Politik lebt von der Annahme ihrer Protagonisten, die Verhältnisse seien
nicht gestaltbar, aber steuerbar. Parlamentarische Politik verortet sich wesentlich im Horizont der
Distinktion zwischen den Polit-Konkurrenten. Dies legt dem politisierenden Verstand nahe, die realen
kapitalismusspezifischen Ursachen, Grenzen und Zwecke politischen Handelns nicht zum Thema zu machen,
sondern jedwedes politisches Handeln dadurch zu rechtfertigen, dass es das kleinere Übel
gegenüber den sonst möglicherweise durch die Konkurrenten ins Werk gesetzten Handlungen
darstelle. Irgendein Schaden findet sich immer, um dessen Vermeidung willen dasjenige akzeptiert wird, was
in einer Größenordnung schadet, die grundlegende Veränderungen nötig macht, welche im
Denken des kleineren Übels aber gerade nicht mehr Thema sein können.
Parlamentarische Politik und Demokratie verhalten sich zu den mit der herrschenden Arbeitsteilung, der
Konkurrenz und den Entwicklungskriterien des Reichtums implizierten Spaltungen, Hierarchien, Bornierungen
und Eigendynamiken, indem sie »sich auf eine abstrakte und beschränkte, partielle Weise über
diese Schranken erheben« (MEW 1/354).
Die Stilisierung des Wahlvolkes zum
politischen Souverän bei gleichzeitiger Vorentscheidung seiner Geschicke durch den »stummen Zwang
der Verhältnisse« führt zur Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Wechselspiel
zwischen Idealismus und Positivismus.
Charakteristisch ist hier die Verdoppelung des
Menschen »nicht nur im Gedanken, im Bewusstsein, sondern in der Wirklichkeit« zu »einem
himmlischen und einem irdischen Leben« (MEW 1/355). Der politisierende Staatsbürger avanciert zu
einem »imaginären Glied einer eingebildeten Souveränität ... mit einer unwirklichen
Allgemeinheit« (ebd.).
Idealistisch erscheint die herrschende Politik
nicht als Durchsetzung der ökonomischen und staatlichen Notwendigkeiten einer kapitalistischen
Gesellschaft. Vielmehr wird der Politik die Orientierung an allgemeinmenschlichen Idealen, an »visions
and missions« zugeschrieben, so dass es in diesem moralischen Schönheitswettbewerb immer um mehr
geht als das, was sie praktiziert.
Walter Mossmann hat 1988 solche Perspektiven
als »die Vortäuschung räumlicher Tiefe auf einer platten Fläche« charakterisiert.
Positivistisch mutet kapitalismusspezifisch Begründetes als sachliche Randbedingung jedweden sozialen
Handelns an. Idealistisch wird »Verantwortung übernommen« für politisch gar nicht
Gestaltbares und Politiker schreiben sich Steuerungskompetenz und Zuständigkeit zu. Positivistisch
erscheint die kapitalistische Ökonomie als industriegesellschaftliche, moderne Faktizität, die
allenfalls sekundär modifiziert werden kann.
Der politisierende Verstand lebt vom Wechsel
zwischen der euphorisierenden Selbstzuschreibung eigener Wirkmächtigkeit und der abgeklärten
Nüchternheit, sich gegen jedwede Kritik durch die Einrede zu immunisieren, sie unterschätze die
»Sachzwänge«.
Die tatsächliche Politik erscheint schlussendlich als optimaler Kompromiss zwischen dem angeblichen
Ziel, dem Ideal, und den in diesem Horizont als unabänderlich erscheinenden
»Sachzwängen«, oder aber es entfaltet sich ein unendlicher Hader über die
Gegensätze zwischen Ideal und Realität. Die Übel erscheinen dem politischen Positivismus als
Resultat idealbeflissener und realitätsfremder Überansprüchigkeit und gelten dem Polit-
Idealismus als Ausdruck des betriebsblinden Mangels an Idealen.
Seine wahre Größe entfaltet der
Parlamentarismus zudem gegenüber Parteien, die der etablierten Konstellation von Regierung und
Opposition kritisch gegenüberstehen. Die Grünen traten ursprünglich als
»Antipartei« an und die PDS als »konsequente Opposition«. Gegen solche Außenseiter
macht der parlamentarische Verstand das Argument der Verweigerung und der
»Regierungsunfähigkeit« geltend.
Wer als grundsätzliche Opposition
antritt, wird pragmatisch darauf vereidigt, sich als Regierungspartner im Wartestand zu profilieren. Nur
wer sich bereits vor der Regierungsbeteiligung als zu ihr reif erweise, könne auch in den inneren
Kreis der Regierung und ihrer Opposition zugelassen werden und werde davon erlöst, als Schmuddelkind
außen vor zu bleiben. Und die Selbststilisierung der Spätberufenen bzw. Neuankömmlinge im
Parlamentarismus als nüchterne Realisten verschiebt die Wunschphantasien, die die Protagonisten
parlamentarischer Politik auf ihre Kritiker projizieren, nur in jenen sog. Realismus, der, indem er die
Verhältnisse für sich beansprucht, ihnen verfällt. Wer vor der Größe der Aufgaben
kapituliert, beschönigt dies gern als »Erwachsenwerden«.
Die Aufmerksamkeit für Politikinhalte und
für die Kosten von Kompromissen und Zugeständnissen gerät in den Hintergrund. Die
Engführung von Politik auf Regierungsbeteiligung schwächt die Verhandlungsposition in
Koalitionsgesprächen. Wer wie die Grünen oder die PDS zu jedem Kompromiss bereit sein muss, um in
der parlamentarischen Logik den Beweis eigener Regierungsfähigkeit zu erbringen, ist von den
Koalitionspartnern entsprechend erpressbar. Zweitens führt die Konkurrenz mit den anderen Parteien
dazu, selbst eine kleine »Volkspartei« zu werden, die nicht von eigenen Perspektiven auf die
Themen zugeht, sondern sich an Meinungsumfragen und vorgegebenen Diskursen orientiert.
Insofern war es nur konsequent von den
Grünen und typisch für den parlamentarischen Weg, das negative Echo auf ihre Magdeburger
Beschlüsse 1998 zum Benzinpreis von 5 DM je Liter (trotz 13% Zustimmung in Meinungsumfragen) als
vernichtendes Urteil über sie zu akzeptieren, also den Konsenszwang zu affirmieren, statt um die
Köpfe der Menschen zu kämpfen und Forderungen zu stellen, die nicht jeder gleich unterschreiben
kann und den Streit als legitim aufzufassen im Unterschied zu einer Öffentlichkeit, die sich wie ein
vorverlagerter Koalitionsausschuss aufführt.
Die Beteiligung am Parlament mündet zur
Hauptsache ein in das Fortsetzungsverhalten herrschender Politik. Sie löst keine Probleme, sondern
nimmt diese zum Anlass, die Notwendigkeiten der parlamentarischen Betriebslogik klarzumachen und
durchzusetzen.
Wo der politische Drang, ja
handlungsfähig zu sein, bedeutet, unter den gegebenen Bedingungen zu handeln, sich in eine
vorfindliche Konkurrenz einzustellen und nach ihren Maßstäben sich als
»realitätstüchtig« zu bewähren, und zu der Vernunft zu finden, die sich unter
diesen Verhältnissen des status quo ergibt, dort wird die Frage beiseite geschoben, wie Bedingungen
einer anderen Handlungsfähigkeit erst erarbeitet werden können.
Ein wesentliches Moment der Parlamentarismusfalle bildet der alltäglich und nicht philosophisch
verstandene Pragmatismus. Der Pragmatismus, der immer nur Nothilfe kennt, also die Bedingungen der Not
reproduziert, verweist auf die gegebenen, zur Verfügung stehenden Vorrichtungen und Hilfsmittel. Dass
sie nur die andere Seite der Not darstellen, diese Einheit von Gegensätzen wird ebenso wenig gedacht
wie diejenige von Ideal und Wirklichkeit.
Im Pragmatismus findet die Vernunft unter
dauernder Aufforderung, zu »handeln« und zu »gestalten«, dazu, die zugrundeliegenden
gesellschaftlichen Verhältnisse imaginär zur Randbedingung des eigenen Handelns umzuformen. Das
Selbstbewusstsein des pragmatisch Handelnden, immerhin selbst gehandelt und eigenhändig etwas getan zu
haben, verschiebt den Fokus der Aufmerksamkeit zur (scheinbar) vom Individuum ausgehenden Aktion und
unterbestimmt den in sie eingehenden »stummen Zwang der Verhältnisse«. Er erscheint als
ohnehin nicht gesellschaftlich beeinflussbar.
Unter kurzfristiger Absicherung der
bestehenden »Möglichkeiten«, unter fortwährender Reaktion auf die jeweils aktuellen
»Herausforderungen«, in der Abarbeitung des tagtäglich Andrängenden sieht man, frau
auch, sich gezwungen, sich gegen die langfristigen Interessen, gegen die systematische Erweiterung der
gesellschaftlichen Fähigkeit zu verhalten, Gesellschaft zu gestalten. Vor lauter Stückwerkhandeln
und Sichdurchwursteln verstellt die pragmatische Geschäftigkeit die Notwendigkeit grundsätzlicher
Veränderung. Vor lauter Drang, ja bloß eben: irgendwie zu handeln, fällt es
schwer, auf falsches Tun zu verzichten, weil es Tun ist und kein anderes Tun unmittelbar möglich
erscheint. Dass das Richtige kurzfristig nicht geht, ist diesem Pragmatismus noch lange kein Grund, das
Falsche jetzt zu unterlassen.
Wählerstimmen werden mit der
Mystifikation gewonnen, die Realität erlaube es, die gesellschaftsstrukturell konstituierten
Mängel durch Stimmabgabe und Beauftragung der richtigen Vertreter einzuhegen. Der ursprüngliche
Radikalismus der Außenseiterparteien (der früheren Grünen und der früheren PDS),
getrennt vom Wissen um die Verwirklichungsbedingungen ihrer Ziele, Forderungen zu stellen, die zentrale
Strukturen der gegebenen Verhältnisse tangieren, sich aber um diesen Gegensatz nicht zu scheren,
sondern so zu tun, als seien unliebsame Vorkommnisse gewissermaßen nur vom Gegebenen
»abzuziehen«, dieser ursprüngliche Radikalismus hatte schon von Beginn an etwas Unkritisches
und Unernstes (bereits Joseph Fischers erstes Buch hießt dann auch folgerichtig Regieren geht
über Studieren).
Wer den Werdegang und das Erwachsenwerden der
früheren Außenseiterparteien damit kritisiert, sie hätten ihr Programm verraten, und als
Erklärung die Inkonsequenz dann moralisch als korrumpiert erscheinender Subjekte bemüht,
offenbart sich als enttäuschter Liebhaber parlamentarischer Träume. Man erhält sich so die
Vorstellung, mit richtig guten Parteien würde der Parlamentarismus richtig gut, statt die
Möglichkeit dieser Anpassung in einer Unzulänglichkeit des Prinzips des Parlamentarismus zu
erkennen (MEW 40/327).
In welche Verwicklungen die Logik des kleineren Übels und die Selbstunterstellung unter die Pflicht
des Mittuns im Gegebenen führt, hat das Verhältnis der italienischen Rifondazione Comunista (PRC)
zur Prodi-Regierung gezeigt. Die PRC gilt vielen Linken hierzulande als Vorbild und als Wunschbild dessen,
was die Linkspartei günstigstenfalls einmal werden könne.
Einerseits war die PRC als massenhafte
Abspaltung aus der früheren PCI gerade wegen der Kritik daran entstanden, dass die PCI ihr praktisches
Hineinwachsen in den Parlamentarismus auch theoretisch und konzeptionell verlängerte (z.B. Bekenntnis
zu Nato und Euro, Umbenennung zur PDS usw.). Andererseits folgte die PRC in der Logik des Parlamentarismus
durchaus konsequent der Auffassung, dass »die Rechte« nicht an die Regierungsmacht kommen
dürfe, würde doch damit die PRC ihre parlamentarismusimmanente Einflussmöglichkeit
einbüßen. Auf eine linksliberale Regierung sei mehr Druck auszuüben und deren Tolerierung im
Parlament ein Trumpf, den man ausspielen könne. Zugleich aber musste die PRC gerade darauf verzichten,
konnte sie die linke Regierungsvariante doch nicht stürzen, hätte sie sich damit doch
die Bedingung ihres Einflusses selbst entzogen. Das Mittel, um Einfluss auszuüben Entzug des
Vertrauens durfte nicht angewandt werden.
Die PRC bewegte sich in dem Widerspruch,
einerseits die von Prodi vollzogene Anpassung an die Maßgaben der europäischen Währungsunion
zu Recht als Projekt der Haushaltskürzungen, der Privatisierungen, Werkschließungen, Entlassungen
usw. zu kritisieren. Andererseits hatte die PRC aufgrund ihrer eigenen Fixierung auf den Parlamentarismus
und Pragmatismus massive Probleme damit, als die Kraft dazustehen, die die »linke« Regierung
hätte scheitern lassen.
Die parlamentarischen Initiativen der PRC
standen im Widerspruch, einerseits den Beweis für ihre Realitätstüchtigkeit und die damit
verbundene Anerkennung der herrschenden Maßstäbe zu erbringen und andererseits doch die eigenen
Ziele der PRC zu präsentieren. Dieser Widerspruch, dessen erste Seite überwältigend war,
führte dazu, dass die Beweise für die eigenständige Bedeutung der PRC nur symbolisch oder
ornamental ausfielen. Obwohl man in der Hauptlinie Erfüllungsgehilfe einer Politik war, die man
kritisierte, kaprizierten sich die PRC-Strategen auf die eine oder andere Duftnote, die es ohne ihr
Mitwirken am Parlamentarismus nicht gegeben hätte.
Gegenüber einer auf Wählerstimmen
fixierten Politik wäre die Perspektive einer von unten aus organisierten Vernetzung von Ansätzen
zu profilieren, die auf eine (Um-)Gestaltung der Gesellschaft abzielen.* Soziale Bewegungen (vom
Ostermarsch bis zur Anti-KKW-Bewegung) haben durchaus Erfolge ohne parlamentarische Beteiligung
vorzuweisen. Die Parlamentspolitik und -fixierung trägt dazu bei, dieses Terrain und seine eigenen
Mühen zu überspielen.
»Wenn wir unseren Erfolgsmaßstab von
den Herrschenden übernehmen, dann sind wir nicht aus einem linken Grenzbezirk in die Gesellschaft
›eingebrochen‹, vielmehr sind wir ein gefährliches Stück weit in der bestehenden
Gesellschaft aufgegangen. Wir hätten dann wie der alte Krösus ein Land ›erobert‹ und
gar nicht bemerkt, dass es unser eigenes gewesen ist, das erobert wurde, das wir also verloren haben«
(Wolf-Dieter Narr/Klaus Vack 1980). Einen zeitlich näher liegenden Parallelfall bildet die Mafia: Man
kommt nur schwer in sie hinein, aber selten lebendig wieder aus ihr heraus.
Meinhard Creydt
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04