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Im Frühjahr 2004, auf dem Höhepunkt außerparlamentarischer
Opposition gegen den in der Agenda 2010 sich verkörpernden »rot-grünen” Neoliberalismus und
zur gleichen Zeit, als sich die Initiative Arbeit & soziale Gerechtigkeit sowie die Wahlalternative
2006 der Öffentlichkeit vorstellten, veröffentlichte Karl Heinz Roth einen vielbeachteten Beitrag
über den deutschen Sozialkahlschlag (veröffentlicht u.a. in der Jungen Welt und in Analyse &
Kritik, in Auszügen auch in SoZ 5/04.
Roth bot uns damals eine treffende Darstellung
und weltpolitische Einordnung der »rot-grünen« Schleifung des Sozialstaats als
»pausenlos zugreifender[r] und arbeitsteilig abgestimmte[r] Demontage der Arbeitsmärkte, des
Gesundheitswesens, des Bildungssektors, der Altersrenten und der Migrationspolitik« und forderte ein
breites soziales und basisdemokratisches Bündnis, »das von Subproletariern der neuen Massenarmut
über die ungesichert Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den
selbstständigen Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs mit einbezieht, also zwei
Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft«.
Ein Jahr später ist die
außerparlamentarische soziale Bewegung von der Straße verschwunden. Ein Teil der Bewegung traf
sich jüngst zum ersten deutschen Sozialforum in Erfurt. Die beiden Parteiinitiativen haben sich zur
Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) formiert, die wiederum sich in einem auf den
bevorstehenden Einzug in den Bundestag zielenden Fusionsprozess mit der alten PDS befindet. Und Karl Heinz
Roth hat seine Analyse von damals vertieft und als kleines Büchlein* veröffentlicht.
Der Zustand der Welt bietet gleichzeitig mehr
und weniger als Roths damaliger Beitrag. Mehr bietet er dort, wo er seine Analyse des neoliberalen Angriffs
auf den globalen Kontext ausweitet und eine globale Revolutionstheorie anbietet, weniger dagegen dort, wo
es um die Umsetzung seiner politischen Strategien auf die deutsche Situation geht.
Den entscheidenden Motor der globalen klassenkämpferischen Offensive sieht Roth in der
»Vertreibung der kleinbäuerlichen Familien von ihrem Land, die inzwischen die gesamte
kapitalistische Peripherie erfasst hat«. Eine globale Landflucht und kontinentale Migrationsprozesse
haben zur Herausbildung von Schattenökonomien und sog. Slum Cities geführt, in denen eine
Milliarde land- und eigentumsloser Menschen in einem Prozess der Selbstghettoisierung gleichsam gefangen
sind. Transkontinentale Umschichtungen der industriellen Arbeiterklasse, die Verfestigung und Ausbreitung
einer weltweiten Massenarbeitslosigkeit und von ungeschützten, prekarisierten
Arbeitsverhältnissen ergänzen dieses Bild und führen dazu, dass die überwiegende
Mehrheit der globalen Unterklassen allenfalls noch von der Hand in den Mund lebe.
Aus dieser Globalperspektive leitet Roth nun
die Aktualität einer sozialistischen Alternative ab. Für die globalen Unterklassen, »die
überwiegende Mehrheit der derzeit 6,4 Milliarden Menschen«, habe der Kapitalismus
»zweifellos« »seine sozialen Legitimationsgrundlagen verloren«, allerdings lasse sich
daraus »noch lange nicht die Erwartung herleiten, dass die globalen Unterklassen über kurz oder
lang gegen das Weltsystem revoltieren werden«. Gehe es in den Slum Cities darum, die elementaren
Überlebensbedingungen (Wohnung und Elektrizität, Nahrung und Wasser, Gesundheit und Bildung) zu
erkämpfen und zu sichern, gehe es in den Global Cities um Wiederaneignung und kommunale Sozialisierung
der privatisierten Infrastrukturen und Sozialfonds: »Kommunale Versorgungsbetriebe, Nahverkehr,
Gesundheitswesen, Wohnungswirtschaft, Stadtteil- und Jugendzentren, Bildung, Garantielöhne und
soziales Grundeinkommen usw.«
In diesem Kampf um elementare
Überlebensbedingungen sieht Roth eine sozialistische Transformationsperspektive. Es gehe darum,
»weltweit verortete kommunalsozialistische Initiativen« zu starten, die sich v.a. auf die
Vernetzung von Migranten und Transport- und Kommunikationsarbeitern stützen sollen. Sobald
nämlich diese Transport- und Kommunikationsarbeiter ihren eigenen Produktionssektor »in allen
seinen regionalen, kontinentalen und transkontinentalen Verzweigungen in Selbstverwaltung übernehmen,
verwandelt sich tendenziell die gesamte materielle wie immaterielle Güterproduktion und -verteilung
der Welt in einen integralen Bestandteil des sozialistischen Transformationsprozesses. Die von den
unmittelbaren Produzenten vorangetriebene Sozialisierung und Anpassung der übrigen Wirtschaftssektoren
an die Erfordernisse der großen Umgestaltung wird Zug um Zug folgen. Auf diese Weise wird die
kapitalistische Dynamik entscheidend gebrochen.«
Wer mit Roths früheren politischen Schriften vertraut ist, findet hier ebenso die wesentlichen
Stärken wie Leerstellen seines aus der linksautonomen Tradition kommenden Ansatzes wieder. Sein
hartnäckiges Insistieren auf sozialer Frage und Klassenkampf, sein Blick auf die Marginalisierten und
ihre Selbstorganisationsformen bleibt kombiniert mit einem bemerkenswerten Unverständnis politischer
Vermittlungsformen in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Diese Fallstricke werden umso
deutlicher, sobald er am deutschen Beispiel konkreter wird und sich in Widersprüche verwickelt.
In Auseinandersetzung mit den »post-
keynesianischen Sozialstaatsreformern« der neuen Linkspartei behauptet er schlicht, er »glaube
… nicht mehr, dass die Staaten bzw. Supranationalstaaten adäquate Adressaten und Akteure von
Reformprogrammen sein können«. Eine am National- und Sozialstaat orientierte linke Politik
erklärt er für prinzipiell passé (Die Nationalstaaten seien »nur noch ein Problem«
und es sei fraglich, ob die subalternen Klassen »heute noch an dauerhaften und sie alle erfassenden
und subsumierenden kapitalistischen Arbeitsverhältnissen interessiert sind«), die
repräsentative Parteiendemokratie hält er von links für nicht erneuerbar und auch die
Gewerkschaften lässt er einmal mehr rechts liegen.
Im Widerspruch dazu stehen jedoch zum einen
seine eigenen Vorstellungen, um was in den Kämpfen der Slum-Cities und Global-Cities geht. Was er hier
skizziert (siehe oben) ist auch nichts anderes als die Umschreibung eines neuen sozialstaatlichen
Programms. Und zum anderen nimmt er sich gerade gegenüber den neuen Sozialstaatsreformern wieder
zurück, denn er lehnt sie nicht prinzipiell ab, betrachtet sie gar als ein zu akzeptierendes
»kleineres Übel«, das im Einzelnen sogar »überaus wichtig« sei, uns aber
nicht dazu veranlassen sollte, die basisdemokratischen Gegenperspektiven zurückzustellen.
Sozialistische Transformation müsse sich
der postkeynesianischen Sozialstaatsreformer bedienen, schreibt er, »beispielsweise zur Stabilisierung
und Homogenisierung der sozialen Einkommen und zur globalen Umverteilung und sozial gerechten Allokation
der Reichtümer. Inakzeptabel ist und bleibt dagegen die ganz offenkundige Instrumentalisierung der
sozialen Bewegungen als Druckmittel für einen Kurswechsel innerhalb der prinzipiell fortbestehenden
Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse.«
Roth formuliert hier zu Recht kein Entweder-
oder, sondern ein Sowohl-als-auch, doch die von ihm selbst in diesem Zusammenhang geforderte
»dialektische Vermittlung der beiden hier diskutierten Extreme«, also von antikapitalistischer
Basisdemokratie und institutioneller Sozialstaatsreform (von Zielen und Mitteln/Wegen) gelingt ihm nicht
wirklich, weil Organisation bei ihm mit dem prinzipiellen Makel instrumenteller Herrschaftsförmigkeit
behaftet scheint und er zweitens eine falsche Analyse der Globalisierung fortführt, die davon ausgeht,
dass der Nationalstaat wenn schon nicht ganz obsolet, so deutlich im Niedergang begriffen sei.
Das verkennt, dass staatliche Regulierung in
einem anarchischen Gesellschaftssystem wie dem bürgerlich-kapitalistischen unabdingbar konstitutiv
ist. Gerade die in den letzten Jahren vor sich gehende Militarisierung der Globalisierung bestätigt
diese traditionell marxistische Analyse. Roth selbst hat mehrfach ausgeführt, dass ohne den pausenlos
regulierenden Zugriff des parlamentarisch verfassten Staates und die arbeitsteilige Abstimmung von
Kapitalkreisen und Staatsapparat die neoliberale Offensive undenkbar wäre.
Es ist deswegen legitim und notwendig, diesen
politischen Staat auch (auch!) auf seinem eigenen Terrain anzugreifen. Wie kann man eine solche Bastion des
bewaffneten Zwangs einfach rechts liegen lassen?
Was Karl Heinz Roth in seinem jüngsten Essay nicht ausführt, ist nebenstehend bei Meinhard
Creydt (S.18) zu lesen. Mit viel Leidenschaft listet Creydt die immanenten Fallstricke des Parlamentarismus
auf. Doch das strukturelle Problem, mit dem Linke in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
konfrontiert sind, die berühmte Verdoppelung in Staat und Gesellschaft ist mit solch
fundamentalistischer Parlamentarismuskritik zwar theoretisch benannt, nicht aber praktisch überwunden.
Zumal parlamentarische Formen aus sozialistischer Sicht auch nach der Revolution noch eine geraume Weile
sinnvoll und notwendig sein werden.
Wer die Funktionsweise unserer
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht vollends ignorieren kann und/oder will, der
kommt nun einmal nicht darum herum, dass, wie die Initiative Wahlalternative 2006 vor einem Jahr schrieb,
»die parlamentarisch-politische Ebene und institutionalisierte Machtpositionen zur Durchsetzung von
Interessen, aber auch für die Entwicklung längerfristig mächtiger Diskurse und der
öffentlichen Meinung« von eminenter Wichtigkeit ist. Die überaus schlechten Erfahrungen, die
wir mit einer auf Parlamente und Wahlen fixierten und sich immer wieder, mal mehr, mal weniger umstandslos
in die Institutionen der bürgerlichen Demokratie integrierenden linken Opposition gemacht haben,
entheben uns nicht der Notwendigkeit, das öffentlichkeitswirksame Terrain der Wahlkämpfe und der
parlamentarischen Öffentlichkeit und Ressourcen immer wieder aufs Neue für gesellschaftliche
Gegenmacht und politische Veränderungen zu nutzen.
Was für die Organisationsform Staat gilt, gilt auch für andere Organisationsformen, bspw.
parteiförmige. Sicherlich können Bewegungen auch ohne Organisationen mächtig und
geschichtswirksam sein und sicherlich ist ohne breite Bewegung »von unten« alles andere nur wenig
wert. Aber Bewegung, auch dies lehrt uns die Geschichte zumal die jüngste des Widerstandes
gegen die Agenda 2010 , kann verpuffen, wenn sie nicht Organisationsformen entwickelt, die elastisch
genug sind, sich von Bewegungen positiv verändern zu lassen, und die fest genug sind, Bewegungen zu
befördern und eine Richtung zu geben. Nicht das Ob von Organisationsformen sollte deswegen zur Debatte
stehen, sondern das Wie und zu welchem Zweck, schrieb ich in einer ersten Antwort auf Roth in SoZ 5/04.
Wollen wir nur ein paar Gesetze
rückgängig und andere an deren Stelle setzen, so dürfte die Eroberung des Parlaments
ausreichend sein. Wollen wir jedoch ein grundsätzlich anderes Leben und Arbeiten durchsetzen, eine
andere Gesellschaftsform, die den emanzipativen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung zum
auch institutionellen Durchbruch verhilft, so wird dies sicherlich nicht ohne breiteste, basisdemokratische
Selbsttätigkeit denkbar sein. Wie muss eine politische Organisationsform strukturiert sein, die solche
Selbsttätigkeit befördern kann? Keine neue, aber noch immer eine aktuelle Frage.
Interessanter Weise hat gerade Karl Heinz Roth
das hierzu notwendige ausgeführt nicht in seinem neuen Büchlein, wohl aber in seinem
Beitrag von vor einem Jahr. »Nur in basisdemokratischen Strukturen lässt sich die elementare
Forderung nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität
dauerhaft verwirklichen«, schrieb er damals und forderte konsequente Basisdemokratie nicht nur in der
sozialrevolutionären Bewegung, sondern auch bei allen ihren Bündnispartnern.
Doch warum hat Roth diesen
Argumentationsstrang nicht weiter ausgebaut und eine solche Kritik selbstbewusst an die neue Linkspartei
gerichtet? Diese entscheidende Frage an ihn und das linksradikale Milieu, dessen organischer
Intellektueller er ist, richtet sich allerdings gleichzeitig an die Sozialstaatsreformer. Warum haben sie
selbst diese entscheidende Frage bisher nicht einmal symbolisch auf die Tagesordnung gestellt haben.
Der Zustand der Welt ist deswegen mit allen
seinen Stärken und Schwächen eher ein Essay über den Zustand der deutschen Linken, der zudem
zeigt, dass die notwendige Einheit der politischen Linken, die vor anderthalb Jahren aufzublitzen schien,
wieder in größere Ferne zu rücken scheint.
Christoph Jünke
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