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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2005, Seite 20

Nachruf

Pierre Broué, 1929—2005

Der marxistische Historiker Pierre Broué wird niemals den Status posthumer Anerkennung erlangen wie C.L.R.James heute, noch wird er unter den literati und den meinungsbildenden Kreisen so breit gefeiert werden wie Eric Hobsbawm.
Aber er war ein beachtlicher Historiker und ein Mann von erstaunlichem Talent und gewaltiger Energie. Die Breite seines Schaffens als Historiker war erstaunlich.
Sein erstes, 1961 veröffentlichtes Buch behandelt den spanischen Bürgerkrieg von 1936—39 — ein Thema, zu dem er in drei weiteren Werken 1975, 1979 und 1993 zurückkehrte.
Sein Schaffen umfasst die Moskauer Schauprozesse, die Revolten in der Tschechoslowakei und Polen, die Geschichte der bolschewistischen Partei, die deutsche Revolution von 1917—23, die Kommunistische Internationale und die stalinistischen Morde an Trotzkisten im französischen Widerstand. Dazu zählen ferner Schriften über die Ermordung Leo Trotzkis, die russische Linke Opposition und seine monumentale Trotzki-Biografie von 1988 [siehe SoZ 3/2004]. Er schrieb Bücher über Christian Rakowski und Trotzkis Sohn Leo Sedow.
Hinzu kommt seine Arbeit als Herausgeber der vollständigen Werke Trotzkis in französischer Sprache und der Zeitschrift über die Geschichte der Bewegung, Cahiers Léon Trotsky, außerdem zahllose Artikel. Anscheinend hatte er sogar noch Zeit, seine Memoiren zu schreiben.
Broués Werke sind durch zwei entscheidende Merkmale gekennzeichnet. Erstens sind sie nicht lediglich Synthesen der Werke anderer Historiker; sie beruhen alle auf realer Archivforschung, begünstigt durch Broués Kenntnis zahlreicher Sprachen. Zweitens sind sie alle von wirklicher politischer Leidenschaft geprägt. Wenngleich er ein objektiver Historiker blieb, identifizierte sich Broué persönlich klar mit den Revolutionären, die er erforschte. Diese Eigenschaft bereicherte seinen Stil und seine Entschlossenheit, die Wahrheit herauszufinden.
Broué war möglicherweise nicht nur der größte Historiker unserer Bewegung seit Trotzki und nicht nur ein begeisternder Lehrer. Er war auch, seit der Beteiligung am französischen Widerstand gegen die Nazi-Besatzung in seiner Jugend, ein Leben lang ein revolutionärer Marxist und politischer Aktivist.
Den größten Teil seines erwachsenen Lebens war er in der trotzkistischen Bewegung aktiv. Nachdem er auf empörende Weise aus seiner Organisation ausgeschlossen wurde, blieb er ein unabhängiger Marxist und schuf sein eigenes politisches Magazin, Le marxisme aujourd‘hui. Leider ist es wahrscheinlich angemessen, wenn man sagt, dass Broués politisches Urteil bei weitem nicht unfehlbar war. Tatsächlich stand es wohl im umgekehrten Verhältnis zur Prägnanz seines historischen Urteils.
Es ist ein Geheimnis für mich, wie ein Mann mit solch tiefer historischer Kenntnis der revolutionären Bewegung eine so lange Zeit in der OCI [die jetzige PT] bleiben konnte, einer der dogmatischsten und autoritärsten Organisationen, die hässliche Schwester unter den drei französischen trotzkistischen Parteien.
Broués Loyalität zur revolutionären Sache blieb ungebrochen. Ich erinnere mich, dass ich ihn zum ersten Mal vor einigen Jahren erlebt habe, als er auf einer Konferenz den antikommunistischen Unsinn des 1997 erschienenen Schwarzbuchs des Kommunismus widerlegte.
Broué war eine warmherzige und großzügige Persönlichkeit. Vor allem war er offen gegenüber jungen Menschen, denn er verstand die Notwendigkeit, den künftigen Generationen die Lehren aus der Vergangenheit zu vermitteln, sodass sie vielleicht eines Tages die Welt verändern können. Wir werden Pierre Broué vermissen. Den Verlust können wir nur dadurch wettmachen, dass wir versuchen, seinen anspruchsvollen Standards zu entsprechen.

Sebastian Budgen

www.socialistworker.co.uk (Übersetzung: Hans- Günter Mull)



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