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Eine Meuterei, der Streik der Soldaten, hatte im Herbst 1918 dem großen
Schlachten des Ersten Weltkriegs, der »Urkatastrophe« des 20.Jahrhunderts, ein Ende gemacht. Doch in
der deutschen Revolutionsregierung, im »Rat der Volksbeauftragten« wie in der Weimarer Koalition
beschränkten sich die Sozialdemokraten auf Wahlrechtsfragen und Sozialpolitik. Wirtschaft, Verwaltung und
Heer wurden nicht demokratisiert, weder wurde der ostelbische Grundbesitz enteignet, noch wurden Bergbau und
Industrie sozialisiert.
Das Resultat der Novemberrevolution von 1918 war
ein neuer staatlicher Überbau der kapitalistischen Wirtschaft: eine parlamentarische Republik. Unter der
politischen Verantwortung dieser Sozialdemokratie führten die vor allem aus völkisch-
antibolschewistischen Offizieren gebildeten Freikorpsverbände im Bunde mit Reichswehreinheiten in den
Jahren 19191923 einen Bürgerkrieg gegen den aktiven, antikapitalistischen, in Räten
organisierten Teil der deutschen Arbeiterschaft, die durch die Morde an Luxemburg, Liebknecht, Eisner und
Leviné ihrer Führung beraubt wurde.
Im Oktober 1923 versuchte die KPD, nach Spartakus-Aufstand (1919), Kapp-Putsch und März-Aktion (1920),
ein letztes Mal, das Ergebnis der deutschen Novemberrevolution von 1918/19 zu korrigieren und eine
sozialistische Räterepublik an die Stelle der kapitalistisch-parlamentarischen zu setzen.
Zu spät war die Führung der sowjetischen
KP und der Kommunistischen Internationale auf die innenpolitische Krise, die sich in Deutschland (infolge von
Inflation und Ruhrbesetzung) entwickelt hatte, aufmerksam geworden; um den Schaden wieder gut zu machen, trieb
sie dann die KPD-Führung unter Heinrich Brandler überstürzt zum Handeln an. Der am 23.Oktober
von etwa 300 schlecht bewaffneten Kommunisten in den Bezirken Barmbeck und Schiffbeck begonnene und vom
künftigen Parteiführer Ernst Thälmann verantwortete »Hamburger Aufstand« wurde nach
dreitägigen Kämpfen, die 24 Kommunisten und 17 Polizisten das Leben kosteten, abgebrochen. Weder
kamen die streikenden Hamburger Dockarbeiter den kommunistischen Kämpfern zu Hilfe, noch kam es andernorts
im Reich zu Solidaritätsaktionen.
Statt die Ursachen des Scheiterns der
kommunistischen Politik in Deutschland zu analysieren, wurde der »Hamburger Aufstand« fortan in der
Parteigeschichte glorifiziert. Aus dem »Wunschtraum« vom deutschen Oktober wurde alsbald ein
»Mythos« der Parteigeschichte, wie Harald Jentsch in einer neuen Untersuchung schreibt.* Jentsch hat
als erster versucht, die erst durch die Öffnung der Moskauer und DDR-Archive nach 1989 zugänglich
gewordene Korrespondenz der deutschen und russischen Hauptakteure von 1923, ihre vertraulichen Stellungnahmen,
unveröffentlichte Protokolle und sonstige Materialien auszuwerten, um das Selbst- und
Situationsverständnis der damals führenden Kommunisten zu rekonstruieren. Er hat damit nicht nur
einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der damaligen Ereignisse geleistet, sondern auch einen
zentralen Mythos der KPD-SED demontiert.
Das anhaltende Interesse an den Ereignissen und Projekten des Jahres 1923 ist gut verständlich.
Markierte der gescheiterte Hamburger Aufstand noch einmal die sozialistische Alternative zur Weimarer Republik,
so war der gut zwei Wochen später in München gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch schon das
Vorzeichen der anderen Alternative, der faschistischen. Danach blieb das Schicksal der Republik noch knapp ein
Jahrzehnt in der Schwebe, ehe das Pendel definitiv nach rechts ausschlug und Hitler auf den Ruinen von
»Weimar« das Schreckensregime seiner »Volksgemeinschaft« errichtete.
Die Thälmann-KPD erhielt bei den
Novemberwahlen von 1932 6 Millionen Wählerstimmen (14,3%). Aber sie wusste nichts damit zu anzufangen,
weil sie nach jahrelangen »Säuberungen« längst jedes innere Leben, den Eigenwillen und den
Realitätssinn verloren hatte. Wollte die, mehr als 200000 Mitglieder zählende, KPD von 1923 einen
Aufstand vom Zaun brechen, um mit Hilfe der dadurch mobilisierten Arbeiterklasse die Republik zu
verändern, so kapitulierte die über fast ebenso viele Mitgliedern verfügende und von 6 Millionen
Wählern unterstützte Partei der Jahre 1932/33 kampflos vor den Nazis, denen die bürgerlichen
Parteien, Reichswehr und Reichspräsident die Macht zuspielten. Wiegte sich die Partei 1924 in der
Hoffnung, die eigentlichen Kämpfe stünden erst noch bevor, so nährte die KPD von 1933/34 im
Untergrund, in den Gefängnissen, den Lagern und im Exil die Illusion, Hitler werde bald
»abgewirtschaftet« haben.
Die Jahre 1923 und 1924 sind noch aus einem
anderen Grund von besonderem historischen Interesse. Die Hoffnung auf eine deutsche Revolution, die der
russischen zu Hilfe kommen und sie aus der Isolation befreien könnte, war nach dem Desaster des Hamburger
Aufstands auf unbestimmte Zeit vertagt worden. Im Herbst 1923 bildete sich in der KPdSU die von Trotzki
inspirierte und geführte Linke Opposition gegen die neue »sowjetische« Bürokratie und deren
politische Repräsentanz, die Fraktion Stalins (und seiner damaligen Mitstreiter Sinowjew und Kamenew) in
der 400000 Mitglieder starken, militarisierten Kommunistischen Partei heraus, die seit dem Ende des
Bürgerkriegs nur noch »im Namen« der Arbeiter und Bauern, also unkontrolliert über den
nachrevolutionären Staat und die Produktionsmittel des Landes verfügte. Im Januar 1924 starb Lenin,
und die Linke Opposition, die für die Wiederherstellung der innerparteilichen und der Rätedemokratie,
für eine demokratisch kontrollierte Planwirtschaft, rasche Industrialisierung und eine
internationalistische Außenpolitik eintrat, wurde vom Parteiapparat rasch marginalisiert. Gegen Ende des
Jahres 1924 eröffnete Stalin den ideologischen Kampf gegen den »Trotzkismus« als eine
»antibolschewistische« Strömung und kreierte den neuen Mythos, der »Sozialismus« lasse
sich auch in einem einzelnen Land, das, wie die Sowjetunion, von der Weltwirtschaft mehr oder weniger
abgeschottet sei, verwirklichen. Der Versuch, diese Utopie mit Hilfe des Massenterrors durchzusetzen, forderte
in den nachfolgenden Jahrzehnten viele Millionen Menschenopfer. Trotzki schrieb 1935 rückblickend:
»Das Jahr 1924 war der Beginn des sowjetischen Thermidors.«
Der Historiker arbeitet an der Rekonstruktion von historischen Prozessen, die zu bestimmten, aus dem Strom
des Geschehens herausragenden Ereignissen geführt haben. Retrospektiv sucht er nach plausiblen
Erklärungen für bereits eingetretene Effekte. Sein Ziel ist es, jene Ausgangsbedingungen auszumachen,
die in der Folgezeit für die weitere Entwicklung bestimmend waren und deren Resultate mehr oder weniger
determinierten. Er beschreibt Situationen, die bestimmte Entwicklungen begünstigten und andere
ausschlossen; er rechnet mit Faktoren, denen er unterschiedliche Potenziale zumisst, und kalkuliert mit
Tendenzen und Gegentendenzen als »objektiven Möglichkeiten«. Orientiert am stets
widersprüchlichen historischen Material, versichert er sich der Triftigkeit seiner
(»idealtypischen«) Rekonstruktionen mit Hilfe von Gedankenexperimenten.
Hat er erst einmal »ideale« Modelle von
Abläufen und Institutionen herausdestilliert, so eröffnet sich ihm nicht nur die Möglichkeit,
bestimmte Ereignisse als »Abweichungen« von seinen Modellen zu deuten (oder aber die Modelle zu
korrigieren), sondern auch die Möglichkeit eines kontrollierten Vergleichs zwischen verschiedenartigen
historischen Verläufen oder zwischen vergangenen und aktuellen Ereignissen. Wird die gegenwärtige
Situation unter Herbeiziehung von historischen Analogien daraufhin befragt, welche künftigen Entwicklungen
sich aus ihr mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit ergeben, dann wird aus der historischen
Erklärung eine (soziologisch fundierte) politische Prognose.
Die historische Erklärung zeigt, warum
bestimmte Tendenzen sich durchsetzen konnten. Sie verweist stets auch auf Alternativen, die nicht zum Zuge
kamen, auf latent gebliebene, unterdrückte Möglichkeiten einer anderen Entwicklung. Gegenwärtig
hoffen wir, dass sich die Schrecken des barbarischen 20.Jahrhunderts, in dem der »Fortschritt« zu
immer neuen Katastrophen führte, nicht wiederholen. Daraus erwächst ein verändertes Interesse an
der Geschichte. Stand bei der Aneignung von geschichtlichem Wissen lange Zeit das Bedürfnis im
Vordergrund, zu begreifen, wie es dazu kam, dass es so ist, wie es ist, so macht nun das Bedürfnis sich
geltend, herauszufinden, ob es denn überhaupt so kommen musste und ob nicht gerade diese unheilvolle
Entwicklung sich hätte verhindern lassen. Jede Theorie der Ermöglichung (etwa einer Revolution oder
Konterrevolution) lässt sich auch als ein Rezept zur Verhinderung (dieses oder ähnlicher Ereignisse)
lesen. Davon scheinen freilich bisher vor allem Vertreter der Gegenrevolution profitiert zu haben. Mehr noch
als der Wirklichkeitssinn des Historikers bedarf jedenfalls sein »Möglichkeitssinn« (Robert
Musil) der Ausbildung, das Denken im Optativ; denn ein Positivismus ohne »Possibilismus« wird zum
Fatalismus.
Machen wir also ebenfalls ein Gedankenexperiment. In Russland erwuchs 1917 aus der Meuterei gegen den Krieg
eine antikapitalistische Revolution. In Deutschland entstand aus der niedergeschlagenen Arbeiterrevolution das
Kompromissprodukt einer kapitalistischen Republik. In der Nachkriegszeit kämpfte die pazifistisch-
internationalistische Arbeiterbewegung gegen eine Wiederholung des Ersten Weltkriegs, während die
militaristisch-nationalistischen Kräfte (vor allem in Deutschland) auf einen noch barbarischeren zweiten
Krieg setzten, von dem sie sich eine »Revanche« versprachen, nämlich die Herrschaft über
Europa (und einen Teil der Kolonialländer). Wäre die revolutionäre Meuterei in Deutschland und
anderen europäischen Staaten nicht von gegenrevolutionären Kräften aufgehalten worden,
hätte sie vielleicht der Kriegs- und Mordgeschichte überhaupt ein Ende machen können.
Der deutsche Rätekongress, der Rat der
Volksbeauftragten und die Weimarer Nationalversammlung hatten es 1918/19 in der Hand, die geschlagene
kaiserliche Armee aufzulösen, sich auf die Rätebewegung zu stützen und ein neues, demokratisches
Volksheer zu schaffen. Sie konnten das Personal von Verwaltung und Justiz von Grund auf erneuern und die
Enteignung des Großgrundbesitzes und die Sozialisierung der Industrie sofort in Angriff nehmen.
Eine selbstständig handelnde kommunistische
Partei, die in den ersten fünf Nachkriegsjahren auf Räte, Gewerkschaften, Massenstreik,
Wirtschaftsdemokratie und Einheitsfrontpolitik gesetzt hätte, statt ihre Kräfte in
Fraktionskämpfen und fruchtlosen Aufstandsversuchen zu vergeuden, hätte allmählich die Mehrheit
der organisierten Arbeiterschaft und einen Teil der Zwischenschichten für sich gewinnen können. An
einer neuen, demokratischen Armee und an einer Einheitsfront der Arbeiterorganisationen wären alle
Putschversuche von rechts gescheitert. Die Demokratisierung von Wirtschaft und Heer hätte die
parlamentarische Demokratie dauerhaft stabilisiert. Der Untergang der (nur) parlamentarischen Demokratie, die
Errichtung der faschistischen Diktatur, der zweite Weltkrieg zur Etablierung der Herrschaft des deutschen
Imperialismus über Europa, die Wiedereinführung der Sklavenarbeit und der Aufbau eines gigantischen
Apparats zur Menschenvernichtung wären der Menschheit erspart geblieben.
Russland und Deutschland hätten friedlich
zusammenarbeiten können, statt sich bis an die Zähne zu bewaffnen und in einem Vernichtungskrieg zu
ruinieren. Gaskammern und Krematorien wären uns ebenso unbekannt wie von Phosphor- und Napalmbomben
entfachte Feuerstürme in Großstädten; Dachau, Buchenwald, Babi Jar und Auschwitz, Workuta und
Katyn, Hiroshima und Nagasaki wären Namen wie andere auch. Mit den enormen Summen, die für die
Vernichtung von »Menschen und Material« im Zweiten Weltkrieg vergeudet wurden, hätte sich leicht
die Verelendung eines ganzen Fünftels der Erdbevölkerung verhindern lassen…
Die Geschichte des Jahres 1923 ist von besonderem
Interesse, weil damals vielleicht zum letzten Mal die Möglichkeit einer ganz anderen Entwicklung der
deutschen und europäischen Gesellschaft des 20.Jahrhunderts aufblitzte. Der Historiker, der auf eine
Zukunft setzt, die unserer Vergangenheit nicht gleicht, hofft, dass seine Rekonstruktionen vereitelter
historischer Alternativen einer neuen Generation wieder zu Bewusstsein bringen, dass geschichtliche Prozesse
niemals vollständig determiniert sind, dass vielmehr die Verwirklichung wie die Nichtverwirklichung
gesellschaftlicher Entwicklungen von der Einsicht und von den politischen Optionen der jeweils handelnden
Individuen und Gruppen abhängen. Er möchte dem »Gang der Ereignisse« den Naturschein
abstreifen und den Möglichkeitssinn seiner Zeitgenossen wecken. Denn was für die Vergangenheit gilt,
gilt auch für die Gegenwart: Es steht in der Macht der jeweils lebenden Generation, das sich anbahnende
Unheil abzuwenden und eine Richtungsänderung des »Fortschritts« herbeizuführen.
Helmut Dahmer
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