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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2005, Seite 5

Kanzlerwahlen

Lirum larum Löffelstil

Aktuell, da ich diesen knappen Kommentar schreibe, weiß ich nicht, ob »endgültig« vorgeklärt ist, welche bedeutende Person im Bundestag demnächst zur Nachwahl antreten wird, um die Kanzlermaske zu tragen. Mir scheint dies angesichts von all dem Schlimmen, was gegenwärtig bspw. in Marokko/Spanien mit flüchtigen Menschen geschieht und EU-weit weiterhin festungbauend geschehen wird, zugegebenermaßen äußerstenfalls zweitrangig.
Auch das, was die neue Person im Kanzlerdress, mit Kanzlerschminke und dem medial verallgemeinerten männlich entschlossenen oder weiblich aufpolierten Kanzlerblick tun wird, kann allenfalls den täuschen, der sich vom aufgewirbelten Bilderstaub Tränen in die Augen treiben lässt. Die neualte Dame oder der runderneuerte Herr stellten sich nämlich zum Jammern machtmager dar, sähe man sie mit Andersens Blick in den Kanzlers neuen Kleidern. Um wie viel realitätsnäher ist dieses, seinerzeit noch auf den Kaiser gemünzte Märchen als die mit medialen und außermedialen Lügenmärchen eingesponnene, uns allen vorgeführte und uns selbstverschuldet vorführende politische Wirklichkeit des »Als ob«. Als ob die neu kanzelnde Person eine machtvolle Rolle spielen könnte, so Macht meint, sie könnte, wollte sie nur richtig, uns alle umtreibende Probleme besserer Lösung zuführen; sie könnte, verhielte sie sich grundgesetzgemäß demokratische Politik vergegenwärtigend mitgestalten.
An drängenden Problemen ist kein Mangel. Sie brennen wie Arbeitslosigkeit und unqualifizierte Arbeit allen auf den Nägeln. Freilich, wie George Orwell wusste, manchen ungleich mehr als anderen. Nicht wenige, die wahrhaft machtvolle, ökonomisch objektivierte Interessen eigeninteressiert verfolgen, drängen sogar darauf, strukturelle Arbeitslosigkeit zu verlängern. Dafür wollen sie alle gesellschaftlichen Institutionen und Aufgaben zugunsten der globalen Konkurrenz, als dem sterblichen Gott unserer Tage, ausrichten. Entsprechend definieren die machtgeballten multinationalen Unternehmen, was einem Land wie der BRD frommt. Die politisch staatlichen Instanzen, Prozeduren und Repräsentanten sind wichtig, vor allem soweit sie den Bestand ungleicher Strukturen und Funktionen sichern. Sie sorgen dafür, dass die kapitalistische Theologie glaubensallgemein verbreitet zur Volkskirche wird.
Um dieser Aufgaben willen, tief eingelassene private Interessen allgemein zu legitimieren und die Struktur von Ungleichheit national und international zu sichern, ist es notwendig, dass in der BRD beispielsweise das repräsentativ demokratische System, seine periodischen Wahlen, seine Parteien, seine Parlamente, seine Gewaltenteilung u.ä.m. funktionieren. Manche korruptive Eiterblase hin oder her. Darum käme es geradezu einer Katastrophe gleich, Bürgerinnen und Bürger merkten nicht nur ab und an und vereinzelt, dass ihnen ein demokratisch beteiligendes, Grundrechte verwirklichendes X für ein Demokratie zirzensisch ersetzendes, Menschenrechte nur wie Schaurosinen behandelndes Y vorgespielt wird. Davor hüte uns der Verfassungs- = Staatsschutz. Was könnte alles geschehen, Bürgerinnen und Bürger ließen sich von der sterilen Aufgeregtheit etablierter Politik und ihren pausbäckig aufgeblasenen Hohlwangen nicht länger täuschen. Sie verlangten, dass sie Politik verstehen und sich von unten nach oben an ihr direkt und verständnisvoll kontrollstark indirekt beteiligen könnten.
Altgeworden reibe ich mir mehr und mehr die Augen wund, indem ich mich darüber verwundere, wie trefflich, strebsam nach (Selbst-)Täuschungen, wir das etablierte Prozedurengeklapper mit uns über uns und gegen uns ergehen lassen. Jede und jeder könnte es aber doch ohne diese untergründig angstbesetzte Identifikation selbst bei ein wenig Nachdenken erfahren (danach freilich finge erst die große Arbeit an, daran mitzuwirken, arbeitsfähige Alternativen sich auszudenken und zu praktizieren).
Dass die Wahlen Verkindischungen des Menschen darstellen, genau genommen schon die Würde alle Menschen verletzten.
Dass die Abgeordneten und ihr Parlament — ich bleibe einmal auf der Bundesebene — systematisch überfordert sind (und zwar nicht, weil es dümmere Leute als wir wären oder stärker als wir an Charaktermängeln litten). Darum ist auch die hohe Stellung, die das Parlament verfassungsgemäß innehat, Firlefanz. Als definierte es mit den meist von staatlicher Bürokratie und Interessengruppen doppelpassig fabrizierten Gesetzen. Als wäre es in der Lage, die Exekutive und ihren täglichen Ausstoß zu kontrollieren. Hartz IV als Beispiel, von der kriegstümelnden Bundesregierung der letzten sieben Jahre zu schweigen. Als machte es Demokratie praktisch anschaulich — die groteske Irrealität des Repräsentationsprinzips.
Dass die letztlich (!) parlamentarisch gewählten Spitzenvertreter der Exekutive, die Kanzlerleuchten eingeschlossen, tatsächlich Macht ausüben, indem sie — wem eigentlich und wie? — machtvoll Probleme, die alle betreffen, gestalten. Diese sind im gefällereichen Gewirr der Interessengruppen ihrerseits massiv so überfordert, dass allein die Schauspielkunst überrascht, die sie professionell zu üben vermögen.
Ob dieser und anderer gut belegbarer, alles andere als hämisch zu äußernder Politikverhalte willen wäre es längst höchste Zeit, mit umfangreich ausgeklügelten Konzeptionen schrittweise die reale politische Verfassung zu ändern. Damit verantwortliche demokratische Politik möglich werde. Stattdessen lassen wir uns von mehr oder minder missratenen Spitzenpolitikertricks à la Bundestagsauflösung im trauten Verein der Heroen Kanzler, Bundespräsident und Verfassungsgericht, Neuwahlen mit der Fehlbehauptung, sie bräuchten neues Licht, eitel narzisstischer Personalkungelei von angeblichen Sachfragen verstellt, so ärgern, dass wir darob die tieferen Ursachen übersehen. Das aber ist heute die erste Bürgerpflicht: hin- und unter die Decke sehen; sich nicht talkshow-verklebt täuschen lassen. Dann aber mit anderen zusammen, und sei‘s nur im Kleinen, in veränderten Formen auf eine qualitativ andere Politik zu drängen.

Wolf-Dieter Narr

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