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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2005, Seite 8

Ärzte im Streik

Späte, aber gewaltige Mobilisierung

Letztendlich war es die Meistbegünstigungsklausel im jüngst abgeschlossenen Tarifvertrag zwischen der Gewerkschaft Ver.di und den Arbeitgebern von Bund und Kommunen, die zu den derzeit laufenden Streiks der nichtärztlichen Beschäftigten an den Universitätskliniken des Landes Baden-Württemberg führte. Die Länder hatten es abgelehnt, diesen Vertrag zu übernehmen, sie bestehen auf Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzungen in noch höherem Ausmaß.
Einige, wie Bayern und Baden-Württemberg, waren sogar aus der Tarifgemeinschaft ausgestiegen und hatten bei Neuverträgen bereits Lohnkürzungen und längere Arbeitszeiten eingeführt. Ver.di hatte allerdings einer Klausel zugestimmt, nach der im Falle, dass bei den Verhandlungen mit den Ländern ein anderes Ergebnis herauskommt, dies auch auf den Bereich des Bundes und der Kommunen übertragen wird. Und damit steht die Gewerkschaft unter Zugzwang.
Das Gesundheitswesen war über lange Jahre ein Stiefkind der Gewerkschaften. Hauptsächlich der niedrige Organisationsgrad war dafür verantwortlich, dass an den Krankenhäusern der Bundesrepublik praktisch nie gestreikt wurde — die Tarifabschlüsse wurden von anderen Bereichen erkämpft wie Nahverkehr oder Müllabfuhr. Doch das Blatt hat sich gewendet, einerseits wegen der massiven Privatisierungswelle im öffentlichen Dienst, andererseits, weil die Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitsbereich nicht länger gewillt sind, die Sanierung der öffentlichen Finanzen auf ihrem Rücken ohne Gegenwehr hinzunehmen.

Von der Urabstimmung zum Streik

So erklärt sich die rekordträchtige Zustimmung zu den Streikmaßnahmen. 92,5% der Ver.di-Mitglieder sprachen sich bei der Urabstimmung dafür aus und die Teilnahme an den Streiks übertraf dann sämtliche Erwartungen: An den Kliniken in Freiburg, Ulm, Tübingen und Heidelberg legten 5000 der 25000 Beschäftigten die Arbeit nieder, 1200 Kolleginnen und Kollegen beteiligten sich in Tübingen an einer Streikkundgebung.
»Wir bekamen Tausende von Anrufen von Kollegen, die sagten, wir wollen auch streiken«, berichteten Personalräte bei ihrer Pressekonferenz am 6.Oktober in Stuttgart. Ganze Schichten seien nicht zum Dienst erschienen. »Wir mussten Beschäftigte zurückhalten, damit überhaupt ein Notdienst aufrechterhalten werden konnte.« Außer Notoperationen wurde an allen Standorten nicht operiert.
Auch Nichtorganisierte beteiligen sich am Streik, und es sind zahlreiche Neueintritte in die Gewerkschaft zu verzeichnen. Nach Angaben der Streikleitung gibt es keinerlei Probleme mit Streikbrechern und seitens der Patienten überwiegen die Solidaritätsbekundungen.
Die Arbeitgeber wurden kalt erwischt, sie hatten nicht mit einer solchen Situation gerechnet und sich teilweise arroganterweise geweigert, vor Streikbeginn Notdienstvereinbarungen abzuschließen. Als Folge bekamen sie sehr schnell kalte Füße und kündigten am zweiten Streiktag nach einem Sondierungsgespräch mit Ver.di in Stuttgart an, die im September gescheiterten Tarifverhandlungen für die nichtärztlichen Beschäftigten wieder aufzunehmen. Der Streik ging trotzdem weiter.

Spaltung der Beschäftigten

Der Marburger Bund (MB), die Standesorganisation der Klinikärzte, setzt auf einen eigenen Tarifvertrag für die Ärzte. Ursprünglich war der MB in Tarifgemeinschaft mit der DAG verbunden, nach deren Beitritt zu Ver.di hatte letztere dieses Abkommen »geerbt«. Nun hat der MB es aufgekündigt, eigene Verhandlungen mit der Tarifgemeinschaft der Länder begonnen und fordert 30% mehr Lohn für die Ärzte.
Bereits am 5.August und 6.September organisierte der MB zwei zentrale Protesttage, an denen 3000 bzw. 5000 Ärzte teilnahmen. Wer nun gedacht hatte, die Ärzte würden sich mit Ver.di solidarisieren und mitstreiken, sah sich getäuscht. Zwar bekundete MB-Chef Montgomery seine Sympathie mit dem Streik, aber beteiligen wollte er sich nicht, entsprechend seiner Aussage: »Die Belange eines Krankenhausarztes und die eines Friedhofgärtners sind nicht länger gemeinsam verhandelbar.«
Die Verantwortung für die Spaltung der Beschäftigten im Gesundheitsbereich wird von der Ver.di-Führung dem MB angelastet. Aber so einfach ist die Sache nicht. Erstens sind die Arbeitsbedingungen der nachgeordneten Klinikärzte tatsächlich seit jeher katastrophal. Zweitens hat der MB Recht, wenn er das Ergebnis der Tarifverhandlungen auf Bundes- und kommunaler Ebene scharf kritisiert — auch wenn er das erst tat, nachdem er teilgenommen und zunächst zugestimmt hatte. Andererseits ist offensichtlich, dass der MB die angestrebten Verbesserungen für die Ärzte explizit auf Kosten der restlichen Beschäftigten durchsetzen will.
Das ergibt sich zweifelsfrei z.B. aus der Aussage von Herrn Jonitz, dem Vorstandsmitglied des Berliner MB-Landesverbandes, der im Gespräch mit der Taz im September sagte, bei den von Ver.di geführtenVerhandlungen werde »unten das ganze Geld verteilt« und das gehe zulasten der Ärzte.
Bei den Tarifverhandlungen für die Berliner Charité wiederum hatten die dortigen Standesvertreter das bezeichnende Argument vorgebracht, dass bei den nichtärztlichen Bereichen »noch viel Luft« sei. Hintergrund ist dabei, dass das geltende Vergütungssystem für die Kliniken allein auf die sogenannten Fallpauschalen, d.h. bestimmte, je nach Diagnose und Behandlung gewichtete Fixbeträge pro Behandlungsfall, abgestellt ist. Werden diese nicht geändert, so gehen Lohnerhöhungen für eine der Beschäftigtengruppen automatisch zu Lasten der anderen.

Letzte Chance

Ver.di ist zum Erfolg verdammt, das ist vielleicht die größte Trumpfkarte für die Beschäftigten. Wenn auch dieser bundesweit erste unbefristete Streik an Unikliniken erfolglos bleibt oder mit einem faulen Kompromiss zu Ende geht, dann droht eine beschleunigte Erosion von Ver.di als Einheitsgewerkschaft. Anfänge sind schon zu beobachten. Ein großer Teil der früher in Ver.di organisierten Beschäftigten der Techniker-Krankenkasse z.B. hat vor kurzem eine eigene Betriebsgewerkschaft gegründet.
Und eine noch größere Bedrohung steht vor der Tür: Die Bolkestein- Richtlinie der EU. Wenn die durchgesetzt wird, dann stehen die Lohndrücker aus anderen EU-Ländern Schlange vor den Türen der deutschen Krankenhäuser. Eine geschwächte und gespaltene Gewerkschaftsszene im öffentlichen Dienst kann dann den Arbeitgebern nur Recht sein und die Tarifverträge wären das Papier nicht mehr wert, auf das sie gedruckt sind.
Eine Niederlage im derzeit laufenden Arbeitskonflikt würde die Möglichkeiten, demnächst mit gewerkschaftlichen Mitteln gegen die drohende Liberalisierung des Dienstleistungsmarkts in der EU anzugehen, entscheidend verschlechtern.
So bleibt zu hoffen, dass die Ver.di-Führung in den bereits laufenden Verhandlungen hart bleibt. Sicher ist das allerdings nicht. Nach den hinter verschlossenen Türen geführten eilig anberaumten Sondierungsgesprächen zwischen Ver.di und den Arbeitgebern hieß es anschließend in einer gemeinsamen Erklärung: »Die Tarifparteien sehen die Chance, zu einem für beide Seiten tragfähigen Kompromiss zu kommen.« Das Problem ist, dass es angesichts der Ausgangslage für die Beschäftigten einen solchen nicht gibt.
P.S. Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe und nach Verfassen dieses Artikels erhielt der Autor Nachricht vom Ergebnis der Tarifverhandlungen. Ver.di wird Probleme bekommen. In jedem Punkt wurde vor der Gegenseite zurückgewichen. Auch wenn viele Beschäftigte vielleicht das Gefühl haben sollten, wenigstens sei das Schlimmste verhindert, so bleibt ein schlechter Nachgeschmack. Der Kampfbereitschaft der Belegschaften ist die Ver.di-Führung mit diesem Abschluss in keiner Weise gerecht geworden.

Ernst A. Kluge

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