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Wegen schlechter Arbeitsbedingungen und Schikanen gegen Beschäftigte, die ihr Recht auf Betriebsratsgründung
durchsetzen wollen, steht der Lidl-Konzern seit Jahren in gewerkschaftlicher Kritik. 2004 legte die Gewerkschaft Ver.di ein Schwarzbuch Lidl vor, in dem
anhand von Befragungen bei Lidl-Beschäftigten dem Einzelhandelskonzern massive Verletzungen von Arbeitnehmerrechten, Videoüberwachung
der Beschäftigten und die Ableistung unbezahlter Überstunden u.a. vorgeworfen wurde.
In vielfältigen Aktionen hat Ver.di in den letzten Monaten öffentlich auf die
unzumutbaren Arbeitsbedingungen aufmerksam gemacht und Beschäftigte bei Lidl ermuntert, Betriebsräte zu bilden.
Die LidlFiliale in Calw, einer Kleinstadt im Schwarzwald, ist eine von acht Filialen
von 2600 Lidl-Filialen in der BRD, in der es die Beschäftigten gegen den massiven Widerstand der Geschäftsleitung geschafft haben, einen
Betriebsrat zu bilden. Ausgerechnet diese Filiale soll nun geschlossen werden. Wirtschaftliche Gründe gibt es dafür nachweislich nicht.
Für die 13 Beschäftigten und die Gewerkschaft Ver.di ist deshalb offensichtlich,
dass es in Wirklichkeit um die Zerschlagung des Betriebsrats geht und die Beschäftigten dafür abgestraft werden sollen, dass sie ihre Rechte
wahrgenommen und u.a. auch durch Teilnahme an einem Warnstreik signalisiert haben, dies auch in Zukunft zu tun.
Die zuständige Geschäftsführung der Lidl Vertriebs-GmbH u. Co. KG
Bietigheim plante die Schließung der Filiale Calw zum 30.9.2005. Die Geschäftsführung des Discountriesen ging wohl davon aus, dass sie
sich auch dieses Mal mit ihrem Kurs, Arbeitnehmerrechte systematisch zu ignorieren, mehr oder weniger problemlos durchsetzen werde. Sie hat sich ganz
offensichtlich verschätzt, denn die Auseinandersetzung um die Lidl-Filiale in Calw hat sich zu einem über die Region hinaus beachteten
Arbeitskampf entwickelt. Dieser wird gleichermaßen auf der juristischen wie auf der Ebene der Herstellung einer breiten Protestbewegung gegen die
Vorgehensweise von Lidl geführt.
Bereits am 12.9.2005 fand vor dem Lidl-Markt in Calw eine Solidaritätskundgebung
zur Unterstützung der Beschäftigten mit ca. 500 Teilnehmenden statt. Mehr als 9000 Calwer Bürger beteiligten sich außerdem an einer
Unterschriftenaktion mit der Hauptforderung »Lidl Calw muss bleiben«. Am 21.9.2005 fand dann eine »gemeinsame Fahrt« der
Beschäftigten von Lidl Calw zum Vorstand der Einzelhandelskette nach Neckarsulm statt, um die Protestunterschriften zu übergeben. Gleichzeitig
entwickelte sich eine juristische Auseinandersetzung, die einem Krimi gleichkommt.
Ohne wirtschaftliche Begründung sieht der Betriebsrat die Voraussetzungen für
eine Schließung und einen Interessenausgleich nicht für gegeben an. Für die Schließung ist jedoch nach §111 BetrVG ein
Interessenausgleich erforderlich. Diesen Interessensausgleich gibt es bis heute nicht. Lidl hatte bereits im Informationsverfahren die Verhandlungen für
gescheitert erklärt und die Einrichtung einer Einigungsstelle beantragt. Die rechtlichen Voraussetzungen ignorierend, hielt Lidl an der Schließung
zum 30.9.2005 fest. Dagegen hatte der Betriebsrat eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht Pforzheim beantragt und Recht bekommen.
Das Arbeitsgericht bestätigte in seiner Entscheidung vom 29.9.2005 die
Rechtsauffassung des Betriebsrats, dass Lidl vor einem Interessenausgleich die Filiale nicht schließen und die Beschäftigten auch nicht versetzen
dürfe. Dies ist das erste Urteil dieser Art in Baden-Württemberg. »Damit schreibt der Betriebsrat von Lidl in Calw Rechtsgeschichte«,
so die Einschätzung von Werner Wild, dem stellvertrenden Landesbezirksleiter von Ver.di Baden-Württemberg.
Lidl setzte sich jedoch selbstherrlich über den Gerichtsbeschluss hinweg und teilte
auch der Öffentlichkeit mit, das Calwer Geschäft sei ab 1.10.2005 geschlossen. Am 1.10. fand daraufhin eine ganztägige Protestaktion vor der
Lidl-Filiale unter dem Motto »Keiner schiebt uns weg« statt.
Gegen den Protest der Beschäftigten wurden dann am 4.10. die Einkaufswagen
abtransportiert. Dem BR wurden Telefon- und Faxverbindung gekappt. Die Belegschaft wurde angewiesen, die Filiale leer zu räumen. Die Arbeit wurde
jedoch wegen einer »langandauernden Betriebsversammlung«, die auch noch an den Folgetagen fortgesetzt wurde, nicht aufgenommen.
Die Betriebsversammlung war, wie Gewerkschaftssekretär Hagel berichtete, von
»einer kämpferischen Stimmung der Beschäftigten geprägt, die entschlossen sind, weiter für ihre Arbeitsplätze zu
kämpfen«. Ver.di und der Betriebsrat haben angekündigt, weiterhin mit allen juristischen Mitteln gegen die rechtswidrige Schließung
der Filiale vorzugehen.
Bereits am 28.September hatte Ver.di bei der Staatsanwaltschaft Tübingen eine
Strafanzeige gegen Lidl wegen Behinderung der Betriebsratsarbeit eingereicht. Die Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Wegen des
fortgesetzten offenen Rechtsbruchs wurde nun beim Arbeitsgericht die Anordnung und Festsetzung eines Ordnungsgelds gegen Lidl beantragt.
Am 5.10. hat das Arbeitsgericht Pforzheim Lidl erneut untersagt, die Filiale in Calw ohne
vorherigen Interessensausgleich zu schließen und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld von bis zu 250000 Euro ersatzweise
Ordnungshaft für Geschäftsführer Rossmann angedroht. Unbeeindruckt von allen gerichtlichen Entscheidungen teilte Lidl am 6.10. dem
Betriebsrat mit, die Filiale werde nicht wieder geöffnet. Zwischenzeitlich hat das Arbeitsgericht, wie am 14.10. bekannt wurde, auf weiteren Antrag des
Betriebsrates gegen den Lidl-Konzern ein Ordnungsgeld von 100000 Euro verhängt, da die Filiale Calw »betriebsverfassungswidrig geschlossen
wurde«.
Lidl hat gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt. Der Rechtsstreit wird weitergehen.
Er ist zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung darüber geworden, inwieweit sich Konzerne wie Lidl offenen Rechtsbruch erlauben können und ob
das Betriebsverfassungsgesetz noch Allgemeinverbindlichkeit besitzt. Die Gewerkschaft Ver.di hat zu Recht auf die Folgewirkungen der Auseinandersetzung mit
Lidl hingewiesen. Sollte sich der Einzelhandelskonzern mit seinen rechtswidrigen Praktiken durchsetzen, könnte dies ein Signal zur weiteren
Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten auch in anderen Branchen sein.
Brigitte Kiechle
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