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Der Gekreuzigte wird mit Fliegenklatschen gepeinigt, während ihm die Perücke ins Gesicht rutscht. »Testen
Sie Ihre Flexibilität!« steht auf dem runden Gerüst, auf dem ein Clown mit ausgestreckten Armen und Beinen unter dem Namensschild der
Zeitarbeitsfirma Manpower festgebunden ist. Es wird von mehreren Perückenträgern in schweren Ketten und mit roten Clownnasen gezogen. Diese
Agitprop-Aktion haben sich junge Zeitarbeiter und Praktikanten ausgedacht, die für November zu einem erstmaligen landesweiten Praktikantenstreik
aufrufen: Dieser Status werde hemmungslos missbraucht, um junge Arbeitsuchende zu kostenloser oder unterbezahlter Tätigkeit zu nötigen.
Das ist nur eine der witzigen Einlagen des Pariser Protestzugs vom 4.Oktober, der rund 100000 Menschen auf die Beine brachte. Landesweit gingen
rund eine Million Menschen auf die Straße. Die Protestzüge in über 150 französischen Städten, zu denen ausnahmsweise
sämtliche Gewerkschaften sowie eine Reihe von Bürgerinitiativen gemeinsam aufgerufen hatten, fielen auf den Tag der ersten Parlamentssitzung
seit der Sommerpause. Deswegen bündelten sie unterschiedliche Protestmotive: Kaufkraftverlust, Explosion der Mieten, Massenentlassungen wie derzeit
bei Hewlett Packard in Grenoble.
Den konkreten Auslöser, der dafür sorgte, dass alle Gewerkschaften sich auf den gemeinsamen Protesttermin einigen konnten, bildeten jedoch
die neuen »Reformen«, die die Regierung unter Dominique de Villepin am 2.August verabschiedete. Mitten in der allgemeinen Urlaubsperiode
wurde damals der Kündigungsschutz für Beschäftigte in kleinen und mittleren Betrieben (mit bis zu 20 Beschäftigte) während
der ersten zwei Jahre des Arbeitsverhältnisses abgeschafft, angeblich, »um die Beschäftigung zu fördern«. Die Regierung
prüft derzeit, in welcher Form diese Regelung sie entbindet den Arbeitgeber davon, im Falle einer Entlassung seine Motive zu benennen
auch auf größere Betriebe Anwendung finden könnte.
Doch bisher folgte dem 24-stündigen Aktionstag, der vielerorts starken Anklang fand,
keinerlei weitere gemeinsame Mobilisierung der Gewerkschaften und der sozialen Opposition. Ein gemeinsames Treffen der gewerkschaftlichen
Dachverbände in der Woche nach dem 4.Oktober, bei dem über das weitere gemeinsame Vorgehen beraten werden sollte, wurde abgesagt, nachdem
die Regierung angekündigt hatte, sie wolle die verschiedenen Gewerkschaftsbünde innerhalb von zwei Wochen treffen, einzeln. Die Gefahr besteht,
dass die Gewerkschaftsführungen die reale Dynamik, die am 4.Oktober auf dem Asphalt zum Ausdruck kam, sich totlaufen lassen und den erfolgreich
verlaufenen Aktionstag zum bloßen »rituellen« Datum herabstufen.
Unterdessen tobten in Marseille mehrere Wochen lang, vom 20.September bis Mitte Oktober,
heftige Konflikte in verschiedenen Sektoren. Sie machten aus der südfranzösischen Metropole vorübergehend einen sozialen
»Unruheherd«, auf den landesweit zahllose Augen gerichtet waren. Doch die Ausstände endeten nach bisherigem Stand mit einer herben
Niederlage, jedenfalls der Streik bei der Schifffahrtsgesellschaft SNCM, der den Auslöser für alle weiteren Kämpfe gesetzt hatte.
Wer kämpft, kann verlieren: Mit einer Niederlage nach 23 Streiktagen endete am 13.Oktober vorigen Donnerstag der Aufsehen erregende
Arbeitskampf gegen die drohende Privatisierung der Schifffahrtsgesellschaft SNCM (Société nationale Corse-Méditerranée). Das in
Marseille ansässige, bisher öffentliche Transportunternehmen betreibt vor allem die Fährverbindungen nach Korsika, Algerien und Tunesien.
Am 19.September hatte die Regierung von Dominique de Villepin den Privatisierungsplan
für die SNCM bekannt gegeben. Demnach sollte der französisch-amerikanische Investmentfonds »Butler Capital Partners« 100% der
Anteile an der bisher öffentlichen Gesellschaft übernehmen. Der Inhaber des Investmentfonds, Walter Butler, ist ein alter Studienfreund von
Premierminister de Villepin aus gemeinsamen Tagen an der Elitehochschule ENA. Dessen Gesellschaft, die mit nur 15 Angestellten ein Kapitel von gut 500
Millionen Euro verwaltet, hat keinerlei Kompetenzen im Transportsektor vorzuweisen. Es war daher klar, dass es der Investmentgesellschaft darum ging, die
SNCM »auszuschlachten« und die Reste weiterzuverkaufen.
Nach der ersten, spektakulären Phase des Ausstandes der Seeleute und anderer
Beschäftigter, bei der ein Fährschiff durch korsische Seeleute auf die Insel mitgenommen und durch ein polizeiliches »Anti-Terror«-
Sondereinsatzkommando gestürmt worden war, obwohl von den »Entführern »nicht die geringste Gefahr ausging, musste die Regierung
jedoch zurück rudern. Ein überarbeiteter Plan sieht vor, die öffentliche Hand solle vorübergehend die Rede ist von etwa vier
Jahren 25% der Gesellschaftsanteile behalten. Weitere 9% der Aktien sollen als Streubesitz unter die Beschäftigten ausgegeben werden. Damit
sollen die Staatsvertreter und die Mitarbeiter vorerst eine »Sperrminorität« gegen eine eventuelle Zerschlagung der Schifffahrtsgesellschaft
behalten.
Zwei Drittel der Kapitalanteile sollen jedoch nach wie vor für ein Butterbrot an private
Übernehmer gehen: für einen Kaufpreis von 35 Millionen Euro, während die SNCM mindestens 450 Millionen wert ist und die
öffentliche Hand ihre Schulden vor dem Verkauf übernehmen wird. Neben Butler wird nun ein zweites Privatunternehmen in das Kapital der SNCM
eintreten, die Firma Connex, ein Ableger des Véolia-Konzerns, früher unter dem Namen Vivendi bekannt.
Während Walter Butler ein alter Freund des Premierministers ist, gehört Connex
solche Zufälle soll es geben einem persönlichen Spezi von Präsident Jacques Chirac, Henri Proglio. In den vergangenen
Jahren wurde Connex europaweit im Transportsektor aktiv und kaufte beispielsweise 2 der insgesamt 23 privatisierten Eisenbahnnetze in Großbritannien
auf, South Central und South East. Die Firma verwaltete den Bahnbetrieb jedoch derart miserabel, dass es zu täglichen Beschwerden von
Beschäftigten und Passagieren kam und es selbst der neoliberalen britischen Regierung unter Tony Blair zu bunt wurde. Diese entzog im Jahr 2003
eine historische Premiere dem privaten Betreiber die Lizenz und übernahm die beiden Bahnnetze wieder selbst. Derzeit sucht die Blair-
Regierung nach einem neuen Übernehmer, während die britischen Gewerkschaften unisono die Renationalisierung des Eisenbahnverkehrs fordern.
In jüngster Zeit wurde Connex im privaten Gütertransport auf Schienen zwischen Deutschland und Frankreich tätig.
Den Ausschlag dafür, dass die Regierung sich mit ihrem Vorhaben letztendlich
durchsetzen konnte und die Streikenden nach einem spektakulären Kampf letztendlich einknicken mussten, gab die Drohung mit der
Konkurseröffnung. Bis zum 15.Oktober, drohte Wirtschaftsminister Thierry Breton, werde das Konkursverfahren beim Marseiller Handelsgericht
eingeleitet, falls der Streik nicht beendet werde. Dort waren bereits seit Tagen die Konkursverwalter ernannt worden. Eine Unterredung von Vertretern der CGT
mit dem Vorsitzenden des Handelsgerichts hinterließ den Eindruck, die Staatsmacht und die Justiz seien tatsächlich dazu entschlossen, die SNCM
gegen die Wand zu fahren und die 2400 Arbeitsplätze zu vernichten. Daraufhin empfahl die CGT die Beendigung des Streiks. Bei einer Urabstimmung
votierten 87% in diesem Sinne.
Der Kampf um die SNCM hatte Marseille in einen sozialen Unruheherd verwandelt. Der
Freihafen und die Erdölraffinieren traten aus Solidarität mit den Seeleuten in den Ausstand, im Ölhafen von Fos-sur-Marseille wurden die
Streikposten durch den Einsatz polizeilicher Sondereinsatzkommandos geräumt. Bei den Marseiller Verkehrsbetrieben RTM streiken dagegen derzeit die
abhängig Beschäftigten, die sich einem Solidaritätsstreik mit der SNCM angeschlossen hatten, auch nach dem Ende des dortigen Kampfes
noch weiter. Sie fordern ihrerseits Lohnerhöhungen und den Stopp aller Privatisierungspläne für die Verkehrsbetriebe.
Landesweit hat sich die CGT nach dem Streik bei der SNCM sowie dem Erfolg der landesweiten Protestzüge vom 4.Oktober 7080%
der Teilnehmenden liefen in den Blöcken der CGT, während die kleineren »moderaten« Gewerkschaften kaum mobilisiert hatten
, als wichtigstes gewerkschaftliches Gegenüber der Regierung positionieren können.
Dieses Profil benötigt ihre derzeitige Führung auch dringend, die auf dem
nächsten Kongress der CGT Ende April 2006 in Lille einer schwierigen Wiederwahl entgegen sieht. Vor allem benötigt sie ein starkes Symbol.
Deshalb wird erwartet, dass es in allernächster Zeit zu einem potenziell heftigen Konflikt um die Börseneinführung des
Energieversorgungsunternehmens EDF kommen wird. Aus deren Verhinderung hat die CGT derzeit eine ihre Hauptforderungen gemacht.
Nach Informationen von Le Monde hatte CGT-Generalsekretär Bernard Thibault sogar
ein Tauschgeschäft mit der Regierung einzufädeln versucht: die Hinnahme der Privatisierung der SNCM gegen eine Verhinderung der
Börseneinführung des Stromversorgers, die durch seine Gewerkschaft als wichtiger Erfolg dargestellt werden könnte. Dieser Deal scheiterte
aber daran, dass der weit radikalere Bezirksverband der CGT in Marseille dabei nicht mitspielte. Nachdem nun deren Niederlage besiegelt ist, verkündete
Premierminister de Villepin am 14.Oktober, der Börsengang von EDF solle jetzt »so schnell wie möglich« erfolgen.
Bernhard Schmid, Paris
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