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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2005, Seite 5

Horst Schmitthenner über die Große Koalition und die Notwendigkeit einer neuen Richtungsdebatte in den Gewerkschaften

›Erst zuschlagen, wenn wir treffen‹

Horst Schmitthenner ist Beauftragter für das IG-Metall- Verbindungsbüro Soziale Bewegungen in Frankfurt am Main. Das Gespräch für die SoZ führte Christoph Jünke.

Nach Wochen des programmatischen Klagens ändern sich nun, nach Abschluss der Verhandlungen zur Großen Koalition, die Äußerungen führender Vertreter und Ideologen des Kapitals. Man wollte zwar mehr Sozialkahlschlag, sieht nun jedoch den anhalten »Reform«druck auf vermeintliche Müßiggänger und Sozialschmarotzer für die nächste Legislaturperiode gewährleistet. Hört man sich die Erklärungen und Verlautbarungen führender Gewerkschaftsfunktionäre nach der Bundestagswahl und nun nach der Bildung der Großen Koalition an, so scheint auch hier ein verhaltener Optimismus vorzuherrschen. Wie erklärt sich für dich diese Einmütigkeit — ich dachte, Lohnarbeit und Kapital hätten grundsätzlich verschiedene Interessen?

Es dauert immer eine zeitlang, bis das, was in diesen Verhandlungen festgezurrt wurde, tatsächlich das Licht der Öffentlichkeit erblickt und angeguckt werden kann. Zum zweiten ist natürlich insoweit ein bisschen Euphorie vorhanden, als die befürchtete Politik der schwarz- gelben Koalition, also massive Einschränkung von Gewerkschaftsrechten, so nicht gekommen ist. Wenn man jedoch in den Koalitionsvertrag hineinguckt — und deswegen glaube ich auch, dass es demnächst etwas andere Reaktionen von Gewerkschaften geben wird, für meine gilt dies jedenfalls —, dann steht da zwar drin, dass man betriebliche Bündnisse für Arbeit nicht per Gesetz einführen will, dass man aber mit den Tarifvertragsparteien reden will, um solche möglich zu machen. Für mich ist deswegen noch nicht vom Tisch, dass, wenn diese Gespräche nicht zu einem »Einlenken« der Gewerkschaften führen, es dann doch noch gesetzliche Eingriffe in die Tarifautonomie, also betriebliche Bündnisse gibt.

Neoliberales Denken und neoliberale Programmatiken bestimmen bspw. in Form dieses Koalitionsvertrags auch weiterhin die Leitlinien der bundesdeutschen Politik. Wie schätzt du die Koalitionsvereinbarungen ein, Stichworte: Steuererhöhungen, Lockerung des Kündigungsschutzes, Rentenkürzungen?

Zunächst muss und kann man sagen, dass die Grausamkeiten dieses neoliberalen Politikkonzepts der Großen Koalition gegenüber dem, was Rot-Grün gemacht hat, nochmals verschärft worden sind. Die Vorstellungen und Hoffnungen, die es teilweise gegeben hat und die man bspw. in den Zeitungen lesen kann, dieser Koalitionsvertrag sei stark sozialdemokratisch, sind ja Quatsch. Ich halte das, was die teilweise beschlossen haben, für schlicht abenteuerlich.
Abenteuerlich ist die Ankündigung, 2007 die Mehrwertsteuer zu erhöhen, in der Hoffnung darauf, dass die Leute aus Angst, demnächst 3% mehr bezahlen zu müssen, für 2007 geplante Käufe 2006 vorziehen, dass es damit also zu einer Nachfragesteigerung und damit zu einer Erhöhung der Binnenkonjunktur komme und die Mehrwertsteuererhöhung die Konjunktur 2007 nicht erschlagen würde. Auch die hier zusätzlich angekündigten Konjunkturspritzen sind dazu viel zu dünn. Absolut abenteuerlich kann ich nur sagen.
Was andere Aspekte angeht, hast du Recht, denn, was da bspw. auf die Rentner und Arbeitslosen an Einsparungen zukommt, das ist heftig. Mit der schrittweisen Anhebung des Rentenalters auf 67 wurde faktisch nichts anderes als eine Rentenkürzung vereinbart, denn die Menschen werden im Alter ja nicht gesünder und die Arbeitsplätze für si auch nicht mehr. Heraus kommt nichts anderes als Abschläge über weitere zwei Jahre hin.

Diese Ernüchterung siehst du auch bei anderen Gewerkschaften?

Zum einen muss man sehen, dass die Gewerkschaften ja nicht aus einer Position der Offensive, sondern aus einer der Defensive heraus agieren: Arbeitslosigkeit, Minijobs usw. All das führt ja nicht zu einer Stärkung der Gewerkschaften — ganz im Gegenteil. Wenn sich die Gewerkschaften genauer angucken werden, was in dem Koalitionsvertrag drin steht, stellt sich ja immer die Frage nach dem, was wir tun sollen oder können und wer wie konkret betroffen sein wird.
Zusätzlich müssen wir davon ausgehen, dass sich die politische Elite weitgehend abgeschottet hat. In der Vergangenheit haben wir ja durchaus eine Menge von Protesten mit angestoßen oder unterstützt. Diese politische Elite hat das aber ausgesessen, als 250000 gegen die Agenda 2010 und Hartz IV auf die Straße gingen. Das interessierte die nicht, und sie haben einfach weiter so gemacht. Deswegen muss man jetzt aufpassen, nicht in falschen Aktionismus zu verfallen, weil wir uns so möglicherweise den eigenen Frust wieder organisieren. Wir sollten stattdessen gucken, wie wir gemeinsam Kongresse, Veranstaltungen hinbekommen, um gemeinsam zu klären, was uns eigentlich konkret an Politik bevorsteht, wie die Menschen konkret betroffen werden, um dann zu einer wirklich breiten und gemeinsamen Einflussnahme auf politisches Handeln zu kommen.

Die Standorterpressung der Unternehmerschaft hat in den letzten Jahren stark und ausgesprochen erfolgreich zugenommen. Die Leute schlucken so ziemlich alles, nur um einen Job zu behalten, der schon lange nicht mehr den Maßstäben einer Humanisierung der Arbeitswelt gerecht wird. Wie können, wie sollen Gewerkschaften aus dieser lähmenden Defensive herauskommen?

Es ist in dieser Kürze etwas abstrakt, aber sie müssen sich wieder stärker als eine autonome gesellschaftliche Kraft definieren, sie müssen ihr politisches Mandat ausweiten, wahrnehmen und in Bündnissen mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen neben den Arbeitskontakten zu den politischen Parteien ein zweites Standbein entwickeln. Zum zweiten glaube ich, dass wir nicht in der Lage sind, alle vier Wochen fünfmal um den Pudding zu gehen. Über die Formen öffentlichen Protestes hinaus müssen wir andere Formen des Protestes finden, auch Formen direkter Demokratie, mit denen man effektiver Einfluss nehmen kann auf die Politik.

Öffentlicher Protest hat sicherlich seine Grenzen. Es fällt aber schon auf, dass weder im Wahlkampf noch danach solche Formen ausprobiert wurden. Hat man da nicht etwas versäumt?

Niemand kann etwas dagegen haben, wenn 250000 Menschen auf der Straße Druck machen. Was mich jedoch nachdenklich macht, ist, dass wir in der jetzigen, zum Teil etwas unübersichtlichen Situation einfach nicht mobilisierungsfähig sind. Und dass wir, zweitens, eine politische Elite haben, die mit ihrem Großen Koalitionsvertrag erneut signalisiert, dass sie alles aussitzen will. Wenn das passiert, fürchte ich, dass wir wie gesagt in unseren eigenen Reihen den Frust vertiefen. Deswegen gehöre ich nicht zu denen, die jetzt schnell einen Demonstrationsaufruf verfassen möchten. Wir müssen uns mehr Gedanken machen, was wir jenseits der Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz noch machen können. Wir sollten erst zuschlagen, wenn wir auch treffen.

Ich würde gerne die von dir genannten Bündnisperspektiven der Gewerkschaften näher fassen wollen. Da wäre zum einen der traditionelle Bündnispartner SPD. Niemals zuvor hat sich die Sozialdemokratie dermaßen den Geschäftsinteressen und Forderungen der Großindustrie untergeordnet. Nun feiern sie sich als soziales Gewissen der Großen Koalition. Kann man da noch anders reagieren als herzhaft zu lachen? Anders gefragt: Ist die SPD noch ein seriöser Ansprechpartner der Gewerkschaften?

Wenn sich die Gewerkschaften die auch mit dem Einzug der Linkspartei veränderte parlamentarische Situation anschauen, dann müssen sie ihre Arbeitskontakte zu den Parteien neu strukturieren. Es ist doch bei der Wahl völlig klar geworden, dass es in der Bevölkerung eine strukturelle Mehrheit links von der neoliberalen Mitte gibt. Diese strukturelle Mehrheit wird im Parlament, in der Großen Koalition, nicht repräsentiert. Also müssen Gewerkschaften doch überlegen, welches ihre mittelfristige Perspektive ist: Weiter so mit der Großen Koalition oder — frage ich, verlange ich — muss nicht das, was an struktureller Mehrheit in der Bevölkerung deutlich geworden ist, auch im Parlament repräsentiert werden? Es muss mittelfristig eine andere Koalition geben als die, die wir jetzt haben.

Die Frage stellt sich hier schon, ob nicht die letzten Jahre und auch die letzten sechs Wochen gezeigt haben, dass die SPD mittlerweile endgültig im Lager des Neoliberalismus steht?

Es kommt ja hinzu, dass die SPD die traditionellen Kontakte zu den Gewerkschaften, gleichsam als Teil der Arbeiterbewegung, mit ihrer Politik und bspw. Schröders Äußerung, dass die Gewerkschaften nur eine Interessenvertretung wie alle anderen sei, aufgekündigt hat. Dass Gewerkschafter darauf reagieren, indem sie zurückscheuen, auch den letzten Einfluss in dieser Partei zu verlieren, dass muss man zur Kenntnis nehmen. Doch dies ist nur die eine Seite. Die andere ist, dass es auch in den Gewerkschaften Abnabelungsversuche von, oder besser: zunehmend realistischere Beziehungen zur SPD gibt.

Jürgen Peters hat jüngst als zentrale gewerkschaftliche Forderungen an die Große Koalition den Erhalt der Tarifautonomie und der Mitbestimmung, die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne auf der Basis von Tarifverträgen, ein öffentliches Investitionsprogramm von dauerhaft jährlich mindestens 20 Milliarden Euro sowie grundlegende Korrekturen an Hartz IV gefordert. Diese Forderungen sind weitgehend identisch mit jenen der neuen Linkspartei. Ist dies die neue strategische Allianz, die Peters im selben Zusammenhang gefordert hat?

Die IG Metall hat vor der Wahl wie nach der Wahl ihre Vorstellungen einer anderen Politik in sieben Punkten, du hast sie dargestellt, zugespitzt. Damit will sie in die Bevölkerung hinein wirken und um Unterstützung für diese Forderungen werben, bspw. mit Hilfe von 6000 Botschaftern, die aus der sozialen Bewegung und aus dem Funktionärsbereich der IG Metall kommen. Für eine solche Verbreiterung der Diskussion und Umsetzung einer anderen Politik, spielt auch das Verhältnis zur Linkspartei eine Rolle. Meine Gewerkschaft sagt, dass sie zu allen Parteien Arbeitskontakte aufbaut. Aber wir glauben eben auch nicht, dass ein solch mittelfristiges Programm nur über die Kontakte zu den Parteien umzusetzen ist. Das Spannende am Einzug der Linkspartei ist aber, dass damit gewerkschaftliche Positionen auch auf der parlamentarischen Ebene wieder öffentlichkeitswirksamer eingebracht werden. So entsteht auch im Parlament wieder die Chance, dass über Alternativen zur herrschenden Politik diskutiert werden kann.

Welche anderen sozialen Bewegungen siehst du als Ansprechpartner für die Gewerkschaften?

Kirchen, Sozialverbände, die globalisierungskritische Bewegung, alles das, was in der Gesellschaft sich politisch engagiert. Dabei kommt es natürlich nicht darauf an, dass die Betreffenden alles gleich sehen müssen, es geht vielmehr um die Schnittmengen in den politischen Positionen. Auf dieser Basis gilt es, gemeinsam Druck zu machen.

Welche spezifische Rolle spielen die Gewerkschaften in einem solchen Bündniskonzept?

Die sozialen Bewegungen werden jedenfalls stärker, wenn sie nicht das Trennende zu den Gewerkschaften in den Vordergrund stellen, sondern das Verbindende. Die Gewerkschaften haben, anders als die soziale Bewegung, zwei Beine der Einflussnahme. Wie Attac und andere können sie natürlich öffentlichen Protest mobilisieren. Aber sie haben etwas zweites, und zwar die Tarif- und Betriebspolitik, wo es über verschiedenste Formen möglich ist, die Profitproduktion zu beeinflussen. Das ist ein Merkmal gewerkschaftlicher Bewegung, über das andere soziale Bewegungen oder Initiativen nicht verfügen.

Andererseits waren die Versuche der letzten Jahre, wieder in die betriebs- und tarifpolitische Offensive zu kommen, nicht sehr erfolgreich.

Man sollte diskutieren, ob es gelingt, die anstehende nächste Tarifrunde 2006 nicht nur zu einer gewerkschaftspolitischen Auseinandersetzung mit dem Kapital werden zu lassen, sondern mit Hilfe der sozialen Bewegungen zu einer gesellschaftlichen zu machen. Es sollte ja um mehr als die Frage gehen, um wie viel Prozent Löhne und Gehälter gesteigert werden.

Inwieweit steht die IG Metall hier allein? Man hatte in den letzten Jahren schon den Eindruck, dass bspw. ein Hubertus Schmoldt (IG BCE) oder ein Michael Sommer (DGB) gleichsam informelle Mitarbeiter der großen neoliberalen Koalition sind. Vertiefen sich nicht mit einer solchen, von dir skizzierten, neuen Politik die Spaltungslinien innerhalb der Gewerkschaftsbewegung?

Die Angst vor einer solchen Spaltung vertieft sich, gerade beim DGB. Wenn man sich aber die Pläne der Großen Koalition anguckt, so sind doch einige — Ausweitung der Prekarisierung, Rentenbeschlüsse bspw. — eindeutig auf einen Systemwechsel ausgerichtet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gewerkschaften diesen Systemwechsel einfach hinnehmen. Das wird nur eine Frage der Zeit, bis in allen Gewerkschaften das Bewusstsein einer veränderten Politik um sich greift. Ängste, dass damit der DGB gespalten wird, hab ich nicht.

Die Gewerkschaften stehen also vor einer neuen Richtungsdebatte?

Das sehe ich auch so!

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