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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2005, Seite 5

Der Koalitionsvertrag

Ein instabiles Patt

Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition drückt ein relatives Patt zwischen Ultraliberalen und Sozialliberalen aus, anders gesagt: Er setzt die Politik der Umverteilung von unten nach oben fort und verschärft sie. Er führt im Wesentlichen die Politik der bisherigen informellen Großen Koalition unter Schröder fort.
Im Bereich der Außenpolitik ist, nach der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes und der Aufnahme der Beitrittsgespräche mit der Türkei, kaum Dissens vorhanden. Im Bereich der Inneren Sicherheit war Schily eh schon immer ein Herz und eine Seele mit Beckstein und Schönbohm. In der Energiepolitik hängt der Ausstieg aus der Atomenergie am seidenen Faden, nachdem die Gewerkschaften Ver.di und IG BCE eine gemeinsame Stellungnahme mit den Energiekonzernen unterschrieben haben, die die Argumentation der Industrie übernimmt. Die absehbar wichtigsten Entscheidungen betreffen wieder das Feld der Arbeits- und Sozialpolitik. Hier geht es weiter bergab.
Die Einführung der Mehrwertsteuer ab 1.1.2007schichtet die Steuerbelastung weiter um, weg von den Einkommen hin zu den Verbrauchern. Mit den zusätzlichen Einnahmen von 25 Milliarden Euro will die Regierung die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken und damit die Konjunktur ankurbeln. Das liegt auf der Linie der Arbeitgeberargumentation, die Lohnnebenkosten müssten gesenkt werden, dann gibt es neue Arbeitsplätze. Das DIW hat errechnet, ein Prozentpunkt Sozialbeiträge weniger würde 129000 Arbeitsplätze schaffen. Mithin müsste Merkels »Konjunkturprogramm« rund 400000 neue Arbeitsplätze bringen.
Das Statistische Bundesamt hat für den Fall einer Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte eine Verteuerung von 0,9% (zusätzlich zur aktuellen Inflationsrate von 1,9%) berechnet. Bei 3 Prozentpunkten wäre läge die Teuerungsrate entsprechend höher: bei 3,3% oder mehr. Belastet werden vor allem die unteren Einkommen — zumal solche, die keine Sozialabgaben zahlen (wo also die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht zu Buche schlägt): Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfe Beziehende, Studierende, kinderreiche Familien.
Die Reichen und Besserverdienenden merken die Verteuerung nicht, dafür sparen die Unternehmer erneut etwa 12 Milliarden Euro.
Die Mehrwertsteuer ist zudem Gift für die Binnennachfrage.

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist nicht die einzige Quelle, aus der sich die Regierung bedient. Zur »Giftliste« gehören weiter:
Die Pendlerpauschale. Die ersten 20 Kilometer zum Arbeitsplatz können von der Steuer nicht mehr abgesetzt werden.
Der Sparerfreibetrag wird halbiert: 750/1500 Euro statt bisher 1370/2740 Euro.
Abfindungen werden voll besteuert.
Sonntags-, Nachtschicht- und Feiertagszuschläge bleiben bis 50 Euro steuerfrei, ab 25 Euro werden aber jetzt Sozialversicherungsbeiträge erhoben.

Die Steuern auf Kapitalgewinne und private Veräußerungsgewinne werden gesenkt.
Demgegenüber ist die sog. Reichensteuer eher lächerlich: Ab dem 1.1.2007 wird die private Einkommensteuer für Einkommen über 250000/500000 Euro wieder auf 45% angehoben, nachdem die Regierung Schröder sie von 54 auf 42% gesenkt hatte.
Ab dem 1.1.2008 wird unter dem Vorwand der Anpassung an EU-Recht (»einheitliche Bemessungsgrundlage«) das Bilanzsteuerrecht verändert. Die Regierung will sich auch für eine Mindestbesteuerung auf EU-Ebene einsetzen.

Rente: Die Regierung will 2007 ein Gesetz beschließen, das vorsieht, das Renteneintrittsalter ab 2012 bis 2035 schrittweise auf 67 Jahre zu erhöhen. Das klingt alles weit weg, aber man kann eine Wette darauf abschließen, dass nach einem Grundsatzbeschluss der Druck, die Einführung der längeren Lebensarbeitszeit zu beschleunigen, zunehmen wird. Unmittelbar aber kürzt der Bund die Finanzierung der Rentenbeiträge von Langzeitarbeitslosen um die Hälfte (2 Milliarden). Die Rentenbeiträge werden um 0,4 Prozentpunkte (auf 19,9%) angehoben, womit die Senkung der Sozialbeiträge für die abhängig Beschäftigten auf 0,8 Prozentpunkte zusammenschmilzt.
Die Rentenhöhe wird für die gesamte Legislaturperiode eingefroren, für die zu erwartende Teuerung haben Rentnerinnen und Rentner keinen Ausgleich zu erwarten.

Gesundheit: Die Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt an die Gesetzliche Krankenversicherung werden schrittweise auf Null zurückgeführt. Die Debatte um einen großen Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung wird ab 2006 fortgesetzt. Die SPD will bislang eine Bürgerversicherung, die CDU die Kopfpauschale.
In die Pflegeversicherung soll das Kapitaldeckungsverfahren eingeführt, die Vorsorge für Krankheit im Alter mithin ein Stück privatisiert werden.

Hartz IV: Mit Einsparungen von 3,8 Milliarden Euro werden die Erwerbslosen wieder überproportional belastet. Um diesen Beitrag sollen die Kosten der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gesenkt werden. 2 Milliarden bringt die Kürzung der Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose von 78 auf 40 Euro (damit wird die andere Hälfte der Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt); 1,8 Milliarden sollen durch »Verbesserung der Verwaltungsabläufe und Organisationsstrukturen« eingespart werden. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als dass ALG-2-Beziehende zunehmend drangsaliert werden — z.B. durch Telefonabfragen, denen sie sich nicht mehr entziehen können sollen; durch Schnüffelaktionen wie Hausbesuche, um die Angaben der Erwerbslosen zu überprüfen (im Nachbarland Belgien sind solche Repressalien gang und gäbe); durch Behauptung eheähnlicher Partnerschaften, auch wenn keine solchen vorliegen; durch die Umkehr der Beweislast.
Eltern müssen für erwachsene Kinder zwischen 18 und 25 Jahren wieder zahlen, arbeitslose Jugendliche unter 25 dürfen keine eigene Wohnung beziehen, wenn die Arbeitsagentur damit nicht einverstanden ist. Für 600 Millionen Euro, die dadurch weniger ausgegeben werden, wird Jugendlichen somit das Recht auf eigene Existenz wieder in Frage gestellt.
Die Kommunalisierung der Lasten der Erwerbslosigkeit wird fortgesetzt: Einerseits wird den 69 Optionskommunen, die die Langzeitarbeitslosen in eigener Regie betreuen, erlaubt, ihre »Experimentierphase« bis Ende 2013 auszudehnen. Gleichzeitig werden die Mittel, die die Kommunen vom Bund für die Übernahme der Miet- und Heizkosten für ALG-2-Beziehende erhalten, verbindlich festgeschrieben. D.h. die Kommunen bleiben auf den Kosten sitzen, wenn sich die Zahl der Leistungsbeziehenden über das vorgesehene Maß hinaus erhöht.
Der Regelsatz für ALG 2 wird im Osten auf die im Westen geltenden 345 Euro angehoben.

ALG 1: Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wird vom 1.2.2006 an auf höchstens 12 Monate begrenzt (Ältere: höchstens 18 Monate) — wie schon Schröders Agenda 2010 vorgesehen hatte.
Alle Förderinstrumente der Bundesagentur für Arbeit werden überprüft. Spätestens 2007 soll die aktive Arbeitsmarktpolitik »grundlegend neu ausgerichtet« werden. Die von Peter Hartz so hoch gepriesenen neuen Instrumente, Menschen in Arbeit zu bringen, die nicht da ist — die PersonalServiceAgenturen vor allem, aber auch die IchAGS — deren Untauglichkeit bereits vielfach nachgewiesen wurde, werden sang- und klanglos eingemottet. Die Maßnahmen der Regierung Schröder, den Unternehmen die Beschäftigung Älterer finanziell zu erleichtern, werden fortgeführt. Kombilohnmodelle werden ausgebaut.

Kündigungsschutz: Die Unsitte, neue, vor allem junge Arbeitskräfte, nur noch befristet einzustellen, soll aufgehoben werden. Sie wird ersetzt durch die noch größere Unsitte, neue Arbeitskräfte zwei Jahre lang auf Probe einzustellen, bevor sie überhaupt einen festen Vertrag bekommen. Neu Eingestellte sind also zwei Jahre lang faktisch rechtlos, die Unternehmer brauchen sich nicht mehr an (wenn auch befristete) Verträge zu halten, sie können Heuern und Feuern nach Belieben.
Das Entsendegesetz soll auf die Gebäudereinigung ausgeweitet werden. Die Koalition spricht sich gegen das Herkunftslandprinzip in der EU-Dienstleistungsrichtlinie aus.
Die gesetzliche Einschränkung des Flächentarifs bleibt aus.

Mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag kann die neue Regierung mit Leichtigkeit lästige Verpflichtungen aus dem Grundgesetz loswerden. Die noch unter Schröder eingesetzte Föderalismuskommission hatte Änderungen in zwei Richtungen vorgezeichnet, die die Koalition jetzt übernommen hat: zum einen eine Zentralisierung der Entscheidungen in der Hand des Bundes. Der Anteil der Gesetze, an denen die Länder beteiligt werden müssen, wird verringert. Die Einrichtung der Rahmengesetzgebung wird abgeschafft. Hochschulbau und Bildungsplanung sind keine Gemeinschaftsaufgaben mehr. Der Bund erhält die Zuständigkeit für die Atomenergie und erweiterte Zuständigkeiten für das Bundeskriminalamt.
Im Gegenzug dürfen die Länder auf bestimmten Politikfeldern wie Umweltpolitik oder Hochschulfragen von Bundesgesetzen abweichen; andere Zuständigkeiten wie Ladenschluss, Strafvollzug, Messen und Märkte, Gaststättenrecht usw. werden ganz auf die Länder übertragen.
Damit wird der Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse in Deutschland Vorschub geleistet. Der Länderfinanzausgleich, der bislang eine zentrale Rolle für die Solidarität zwischen den verschiedenen Regionen der BRD spielte, soll grundsätzlich neu geregelt werden. Das verheißt nichts Gutes und stellt einen größeren verfassungsmäßigen Eingriff dar. Für solche Entscheidungen ist in den Augen der Herrschenden die Große Koalition allerdings das richtige Instrument — ähnlich wie 1966 für die Notstandsgesetze.

Bürgerliche wie linke Ökonomen stimmen darin überein, dass ein Konjunkturprogramm von 25 Milliarden Euro nicht reicht, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, vor allem, wenn es über mehr Verbrauchersteuern finanziert wird. Das Ziel, Arbeitplätze in nennenswertem Umfang zu schaffen, wird auch diese Regierung verfehlen. Den Arbeitgeberverbänden reichen die Maßnahmen der Regierung nicht, sie fordern radikalere Systemveränderungen, vor allem bei Rente, Gesundheit und im Tarifrecht. Eine ähnlich lautstarke und entschlossene Haltung auf Gewerkschaftsseite vermisst man. DGB-Chef Sommer war sich nicht zu schade, den Vertrag mit den Worten zu kommentieren: »Wichtige Anliegen der Gewerkschaften wurden umgesetzt. Allerdings hätten wir uns eine gerechtere Verteilung der Lasten und deutlichere Impulse für die Konjunktur gewünscht.« Damit gibt er das fatale Signal, dass die Gewerkschaften gegen wichtige Verschlechterungen, die diese Regierung in Angriff nimmt, nichts unternehmen werden, nicht mal auf dem ureigensten Gebiet des Kündigungsschutzes.
Eine solche Passivität kann das Kräfteverhältnis nur weiter zu Ungunsten der Lohnabhängigen belasten. Es wird in den kommenden Jahren deshalb wesentlich darauf ankommen, dass es außerparlamentarische Mobilisierungen gibt, die die Gewerkschaften mitziehen.

Angela Klein

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