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Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition drückt ein relatives
Patt zwischen Ultraliberalen und Sozialliberalen aus, anders gesagt: Er setzt die Politik der Umverteilung
von unten nach oben fort und verschärft sie. Er führt im Wesentlichen die Politik der bisherigen
informellen Großen Koalition unter Schröder fort.
Im Bereich der Außenpolitik ist, nach
der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes und der Aufnahme der Beitrittsgespräche mit der
Türkei, kaum Dissens vorhanden. Im Bereich der Inneren Sicherheit war Schily eh schon immer ein Herz
und eine Seele mit Beckstein und Schönbohm. In der Energiepolitik hängt der Ausstieg aus der
Atomenergie am seidenen Faden, nachdem die Gewerkschaften Ver.di und IG BCE eine gemeinsame Stellungnahme
mit den Energiekonzernen unterschrieben haben, die die Argumentation der Industrie übernimmt. Die
absehbar wichtigsten Entscheidungen betreffen wieder das Feld der Arbeits- und Sozialpolitik. Hier geht es
weiter bergab.
Die Einführung der Mehrwertsteuer ab
1.1.2007schichtet die Steuerbelastung weiter um, weg von den Einkommen hin zu den Verbrauchern. Mit den
zusätzlichen Einnahmen von 25 Milliarden Euro will die Regierung die Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken und damit die Konjunktur ankurbeln. Das liegt auf der
Linie der Arbeitgeberargumentation, die Lohnnebenkosten müssten gesenkt werden, dann gibt es neue
Arbeitsplätze. Das DIW hat errechnet, ein Prozentpunkt Sozialbeiträge weniger würde 129000
Arbeitsplätze schaffen. Mithin müsste Merkels »Konjunkturprogramm« rund 400000 neue
Arbeitsplätze bringen.
Das Statistische Bundesamt hat für den
Fall einer Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte eine Verteuerung von 0,9% (zusätzlich zur
aktuellen Inflationsrate von 1,9%) berechnet. Bei 3 Prozentpunkten wäre läge die Teuerungsrate
entsprechend höher: bei 3,3% oder mehr. Belastet werden vor allem die unteren Einkommen zumal
solche, die keine Sozialabgaben zahlen (wo also die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht
zu Buche schlägt): Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfe Beziehende, Studierende, kinderreiche Familien.
Die Reichen und Besserverdienenden merken
die Verteuerung nicht, dafür sparen die Unternehmer erneut etwa 12 Milliarden Euro.
Die Mehrwertsteuer ist zudem Gift für
die Binnennachfrage.
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist nicht die einzige Quelle, aus der sich die Regierung
bedient. Zur »Giftliste« gehören weiter:
Die Pendlerpauschale. Die ersten 20
Kilometer zum Arbeitsplatz können von der Steuer nicht mehr abgesetzt werden.
Der Sparerfreibetrag wird halbiert:
750/1500 Euro statt bisher 1370/2740 Euro.
Abfindungen werden voll besteuert.
Sonntags-, Nachtschicht- und
Feiertagszuschläge bleiben bis 50 Euro steuerfrei, ab 25 Euro werden aber jetzt
Sozialversicherungsbeiträge erhoben.
Die Steuern auf Kapitalgewinne und private Veräußerungsgewinne werden gesenkt.
Demgegenüber ist die sog.
Reichensteuer eher lächerlich: Ab dem 1.1.2007 wird die private Einkommensteuer für Einkommen
über 250000/500000 Euro wieder auf 45% angehoben, nachdem die Regierung Schröder sie von 54 auf
42% gesenkt hatte.
Ab dem 1.1.2008 wird unter dem Vorwand der
Anpassung an EU-Recht (»einheitliche Bemessungsgrundlage«) das Bilanzsteuerrecht verändert.
Die Regierung will sich auch für eine Mindestbesteuerung auf EU-Ebene einsetzen.
Rente: Die Regierung will 2007 ein Gesetz beschließen, das vorsieht, das
Renteneintrittsalter ab 2012 bis 2035 schrittweise auf 67 Jahre zu erhöhen. Das klingt alles weit weg,
aber man kann eine Wette darauf abschließen, dass nach einem Grundsatzbeschluss der Druck, die
Einführung der längeren Lebensarbeitszeit zu beschleunigen, zunehmen wird. Unmittelbar aber
kürzt der Bund die Finanzierung der Rentenbeiträge von Langzeitarbeitslosen um die Hälfte (2
Milliarden). Die Rentenbeiträge werden um 0,4 Prozentpunkte (auf 19,9%) angehoben, womit die Senkung
der Sozialbeiträge für die abhängig Beschäftigten auf 0,8 Prozentpunkte
zusammenschmilzt.
Die Rentenhöhe wird für die
gesamte Legislaturperiode eingefroren, für die zu erwartende Teuerung haben Rentnerinnen und Rentner
keinen Ausgleich zu erwarten.
Gesundheit: Die Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt an die Gesetzliche Krankenversicherung
werden schrittweise auf Null zurückgeführt. Die Debatte um einen großen Umbau der
gesetzlichen Krankenversicherung wird ab 2006 fortgesetzt. Die SPD will bislang eine
Bürgerversicherung, die CDU die Kopfpauschale.
In die Pflegeversicherung soll das
Kapitaldeckungsverfahren eingeführt, die Vorsorge für Krankheit im Alter mithin ein Stück
privatisiert werden.
Hartz IV: Mit Einsparungen von 3,8 Milliarden Euro werden die Erwerbslosen wieder
überproportional belastet. Um diesen Beitrag sollen die Kosten der Zusammenführung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gesenkt werden. 2 Milliarden bringt die Kürzung der
Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose von 78 auf 40 Euro (damit wird die andere Hälfte der
Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt); 1,8 Milliarden sollen durch
»Verbesserung der Verwaltungsabläufe und Organisationsstrukturen« eingespart werden.
Dahinter verbirgt sich nichts anderes als dass ALG-2-Beziehende zunehmend drangsaliert werden z.B.
durch Telefonabfragen, denen sie sich nicht mehr entziehen können sollen; durch Schnüffelaktionen
wie Hausbesuche, um die Angaben der Erwerbslosen zu überprüfen (im Nachbarland Belgien sind
solche Repressalien gang und gäbe); durch Behauptung eheähnlicher Partnerschaften, auch wenn
keine solchen vorliegen; durch die Umkehr der Beweislast.
Eltern müssen für erwachsene
Kinder zwischen 18 und 25 Jahren wieder zahlen, arbeitslose Jugendliche unter 25 dürfen keine eigene
Wohnung beziehen, wenn die Arbeitsagentur damit nicht einverstanden ist. Für 600 Millionen Euro, die
dadurch weniger ausgegeben werden, wird Jugendlichen somit das Recht auf eigene Existenz wieder in Frage
gestellt.
Die Kommunalisierung der Lasten der
Erwerbslosigkeit wird fortgesetzt: Einerseits wird den 69 Optionskommunen, die die Langzeitarbeitslosen in
eigener Regie betreuen, erlaubt, ihre »Experimentierphase« bis Ende 2013 auszudehnen.
Gleichzeitig werden die Mittel, die die Kommunen vom Bund für die Übernahme der Miet- und
Heizkosten für ALG-2-Beziehende erhalten, verbindlich festgeschrieben. D.h. die Kommunen bleiben auf
den Kosten sitzen, wenn sich die Zahl der Leistungsbeziehenden über das vorgesehene Maß hinaus
erhöht.
Der Regelsatz für ALG 2 wird im Osten
auf die im Westen geltenden 345 Euro angehoben.
ALG 1: Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wird vom 1.2.2006 an auf höchstens 12
Monate begrenzt (Ältere: höchstens 18 Monate) wie schon Schröders Agenda 2010
vorgesehen hatte.
Alle Förderinstrumente der
Bundesagentur für Arbeit werden überprüft. Spätestens 2007 soll die aktive
Arbeitsmarktpolitik »grundlegend neu ausgerichtet« werden. Die von Peter Hartz so hoch
gepriesenen neuen Instrumente, Menschen in Arbeit zu bringen, die nicht da ist die
PersonalServiceAgenturen vor allem, aber auch die IchAGS deren Untauglichkeit bereits vielfach
nachgewiesen wurde, werden sang- und klanglos eingemottet. Die Maßnahmen der Regierung Schröder,
den Unternehmen die Beschäftigung Älterer finanziell zu erleichtern, werden fortgeführt.
Kombilohnmodelle werden ausgebaut.
Kündigungsschutz: Die Unsitte, neue, vor allem junge Arbeitskräfte, nur noch befristet
einzustellen, soll aufgehoben werden. Sie wird ersetzt durch die noch größere Unsitte, neue
Arbeitskräfte zwei Jahre lang auf Probe einzustellen, bevor sie überhaupt einen festen Vertrag
bekommen. Neu Eingestellte sind also zwei Jahre lang faktisch rechtlos, die Unternehmer brauchen sich nicht
mehr an (wenn auch befristete) Verträge zu halten, sie können Heuern und Feuern nach Belieben.
Das Entsendegesetz soll auf die
Gebäudereinigung ausgeweitet werden. Die Koalition spricht sich gegen das Herkunftslandprinzip in der
EU-Dienstleistungsrichtlinie aus.
Die gesetzliche Einschränkung des
Flächentarifs bleibt aus.
Mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag kann die neue Regierung mit Leichtigkeit lästige
Verpflichtungen aus dem Grundgesetz loswerden. Die noch unter Schröder eingesetzte
Föderalismuskommission hatte Änderungen in zwei Richtungen vorgezeichnet, die die Koalition jetzt
übernommen hat: zum einen eine Zentralisierung der Entscheidungen in der Hand des Bundes. Der Anteil
der Gesetze, an denen die Länder beteiligt werden müssen, wird verringert. Die Einrichtung der
Rahmengesetzgebung wird abgeschafft. Hochschulbau und Bildungsplanung sind keine Gemeinschaftsaufgaben
mehr. Der Bund erhält die Zuständigkeit für die Atomenergie und erweiterte
Zuständigkeiten für das Bundeskriminalamt.
Im Gegenzug dürfen die Länder auf
bestimmten Politikfeldern wie Umweltpolitik oder Hochschulfragen von Bundesgesetzen abweichen; andere
Zuständigkeiten wie Ladenschluss, Strafvollzug, Messen und Märkte, Gaststättenrecht usw.
werden ganz auf die Länder übertragen.
Damit wird der Auseinanderentwicklung der
Lebensverhältnisse in Deutschland Vorschub geleistet. Der Länderfinanzausgleich, der bislang eine
zentrale Rolle für die Solidarität zwischen den verschiedenen Regionen der BRD spielte, soll
grundsätzlich neu geregelt werden. Das verheißt nichts Gutes und stellt einen größeren
verfassungsmäßigen Eingriff dar. Für solche Entscheidungen ist in den Augen der Herrschenden
die Große Koalition allerdings das richtige Instrument ähnlich wie 1966 für die
Notstandsgesetze.
Bürgerliche wie linke Ökonomen stimmen darin überein, dass ein Konjunkturprogramm
von 25 Milliarden Euro nicht reicht, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, vor allem, wenn es über
mehr Verbrauchersteuern finanziert wird. Das Ziel, Arbeitplätze in nennenswertem Umfang zu schaffen,
wird auch diese Regierung verfehlen. Den Arbeitgeberverbänden reichen die Maßnahmen der Regierung
nicht, sie fordern radikalere Systemveränderungen, vor allem bei Rente, Gesundheit und im Tarifrecht.
Eine ähnlich lautstarke und entschlossene Haltung auf Gewerkschaftsseite vermisst man. DGB-Chef Sommer
war sich nicht zu schade, den Vertrag mit den Worten zu kommentieren: »Wichtige Anliegen der
Gewerkschaften wurden umgesetzt. Allerdings hätten wir uns eine gerechtere Verteilung der Lasten und
deutlichere Impulse für die Konjunktur gewünscht.« Damit gibt er das fatale Signal, dass die
Gewerkschaften gegen wichtige Verschlechterungen, die diese Regierung in Angriff nimmt, nichts unternehmen
werden, nicht mal auf dem ureigensten Gebiet des Kündigungsschutzes.
Eine solche Passivität kann das
Kräfteverhältnis nur weiter zu Ungunsten der Lohnabhängigen belasten. Es wird in den
kommenden Jahren deshalb wesentlich darauf ankommen, dass es außerparlamentarische Mobilisierungen
gibt, die die Gewerkschaften mitziehen.
Angela Klein
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