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Jahrzehntelang galt der Gesundheitsbereich, was die Arbeitskampfbereitschaft
betraf, in Deutschland für die Arbeitgeber als eine Insel der Seligen. Der gewerkschaftliche
Organisationsgrad lag extrem niedrig, bei den kirchlichen Krankenhäusern häufig fast bei Null,
und an Streiks dachte niemand. Doch diese Situation hat sich radikal geändert, was die
Arbeitskämpfe dieses Jahres beweisen. Anlass genug, einmal zu untersuchen, was der Hintergrund
für diesen Wandel ist.
Ab 5.Oktober streikten, erstmals in der Geschichte der BRD, Beschäftigte eines
öffentlichen Krankenhauses ohne Rückendeckung durch andere Bereiche des öffentlichen
Dienstes, nämlich die Beschäftigten der Unikliniken in Baden-Württemberg (siehe SoZ 11/05).
Die Krankenhausärzte, bisher auch eher streikfeindlich, mobilisierten ebenfalls, allerdings leider
gesondert: »Aktive Mittagspausen« in Dresden und Leipzig, Demonstrationen in Düsseldorf und
Göttingen und weitere Aktionen in Berlin, Freiburg, Heidelberg, Mannheim und Wiesbaden sollten den
Forderungen des Marburger Bundes, der Standesvereinigung der Krankenhausärzte, Druck verleihen. Die
Ärzte fordern die Umsetzung der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie und eine Lohnerhöhung von
30%. In Hamburg rief der MB im November alle 4300 Krankenhausärzte zum Warnstreik auf.
Kurz danach rief Ver.di im UKE
(Universitätsklinikum Eppendorf), dem größten Hamburger Krankenhaus, zum Streik auf. Am
19.11. gab es einen Warnstreik mit Protestmarsch von 500 Beschäftigten über das
Klinikgelände, ab 21.11. sollen die restlichen Hamburger Kliniken folgen. Die Leitung der Hamburger
Krankenhäuser war nämlich kurzerhand aus der Arbeitsrechtlichen Vereinigung Hamburgs ausgetreten,
um den kürzlich abgeschlossenen neuen ÖD-Tarifvertrag nicht übernehmen zu müssen.
Stattdessen fordern die Arbeitgeber die Streichung von Weihnachts- und Urlaubsgeld, der Schichtzulagen
sowie eine Arbeitszeitverlängerung auf 42 Stunden, was alles in allem eine Lohnkürzung von
ungefähr 20% bedeuten würde. Ist die Kampfkraft der Hamburger Schwestern und Pfleger nur
annähernd so stark wie die ihrer Kollegen in Baden-Württemberg, dann dürften die
Klinikbetreiber an der Waterkant allerdings eine böse Überrschung erleben.
Angefangen hatte die Protest- und
Warnstreikwelle bereits im Frühjahr, als zum Beispiel im März ein Warnstreik der Ärzte an
der Uniklinik Marburg stattfand und Ver.di seinerseits eine große Protestkundgebung der
Beschäftigten aus Gießen und Marburg organisierte. Vorreiter waren insbesondere die
Beschäftigten der Privatklinik Heines in Bremen, die nach einem neunwöchigen Streik im April 2005
die meisten ihrer Forderungen durchsetzten und nun weiter nach BAT bezahlt werden.
Die Arbeitsbedingungen an den Krankenhäusern für Ärzte waren schon immer schlecht
extrem lange Arbeitszeiten, Nachtdienste ohne Freizeitausgleich, hoher Stress. Durch die
Gesundheitsreformgesetze der letzten Jahre, den flächendeckenden Betten- und Krankenhausabbau und vor
allem die Einführung des fallpauschalorientierten Vergütungssystems ist der Arbeitsdruck weiter
gestiegen, zusätzlich ist durch die Verkürzung der Krankenhausverweildauer eine extreme
Arbeitsverdichtung hinzu gekommen.
Zum zweiten hat sich in den letzten 20
Jahren die Perspektive gewandelt. Sah die übergroße Mehrheit der Ärzte ihre Krankenhauszeit
früher als ein Übergangsstadium vor der Eröffnung einer Praxis (die dann das große Geld
bringen sollte) oder für eine sonstige ärztliche Tätigkeit außerhalb des Klinikbetriebs
und nahm sozusagen im Tausch gegen die Facharztweiterbildung die harten Arbeitsbedingungen mehr oder
weniger klaglos hin, so sehen zunehmend mehr Ärzte die Krankenhaustätigkeit als Lebensstellung
und den üblichen hohen Arbeitsstreß hält niemand bis 65 aus.
Zum dritten sind im europäischen
Vergleich die deutschen Mediziner im Gehaltsniveau deutlich zurückgefallen (wenn auch nicht so
dramatisch, wie es MB-Chef Montgomery glauben machen will). Der früher häufig benutzte Appell an
das ärztliche Ethos (»Ärzte streiken nicht«) verfängt bei der neu
herangewachsenen, eher technisch-pragmatisch ausgerichteten Medizinergeneration nicht mehr.
Und das Pflegepersonal? Bei dem ist die
erwachte Bereitschaft, für Einkommen und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, ebenfalls das Ergebnis
einer langen, schleichend verlaufenen sozioökonomischen Veränderung. Der Krankenpflegebereich ist
schon lange nicht mehr die fast reine Frauendomäne wie noch vor 20 Jahren. Und die immer noch
mehrheitlich weiblichen Beschäftigten sind ihrerseits schon lange nicht mehr nur die
»Zuverdienerinnen«, die sich mit den für eine hochqualifizierte und verantwortungsvolle
Tätigkeit seit jeher extrem schäbigen Löhnen abzufinden bereit sind.
Hier hat sich ein
Professionalisierungsprozess durchgesetzt, der die von den Ordensschwestern in kirchlichen Häusern
noch gepflegte Ideologie von der selbstentäußernden Krankenschwester, die weder auf Lohn noch auf
Arbeitszeit schaut, relativiert und zur Seite geräumt hat. Eine neue, selbstbewusste Generation von
Beschäftigten fordert ihr Recht und ist bereit, dafür zu kämpfen.
Dieser Bewusstseinswandel ist aber auch der
rasanten Veränderung des deutschen Gesundheitswesens im Rahmen des neoliberalen Umbaus der letzten
beiden Jahrzehnte geschuldet: Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung im
Krankenhausbereich wie anderswo im Gesundheitswesen längst hin zu einem ausschließlich
profitorientierten Dienstleistungsunternehmen gegangen ist.
Auch in Hamburg ist der Senat dabei,
sämtliche Krankenhäuser gegen das Votum des Volksbegehrens endgültig zu privatisieren, und
die großen privaten Klinikkonzerne rechnen mit Renditen von 68% die obengenannte
Umstellung der Vergütung auf das sogenannte DRG-System macht es möglich, allerdings nur dann,
wenn man die Personalkosten, die in den Krankenhäusern etwa 70% ausmachen, radikal drückt.
Bei dieser offensichtlichen Strategie
verfängt der Appell an die »Verantwortung für das Wohl der Patienten« nicht mehr. Die
oben am Beispiel der Ärzte angeführte Arbeitsverdichtung hat das Pflegepersonal noch härter
getroffen. Der Patientendurchlauf hat sich in einigen Häusern fast verdoppelt natürlich
ohne jegliche Personalvermehrung.
Bereits beim Streik an den Unikliniken in Baden-Württemberg zeichnete sich ab, dass der Marburger
Bund, der die große Mehrheit der Krankenhausärzte organisiert (nur ein Bruchteil ist bei Ver.di),
versucht, für die Ärzte eigene Verträge auszuhandeln.
Während Ver.di es strikt ablehnte, in
Hamburg über einen Sondertarifvertrag zu verhandeln und die Übernahme des abgeschlossenen
ÖD-Tarifvertrags fordert, hat der MB seine Bereitschaft signalisiert, mit sich reden zu lassen
allerdings ausschließlich über die Ärzte, die angeblichen »Leistungsträger«.
Problematisch ist dabei, dass die letzten Abschlüsse, die Ver.di getätigt hat, tatsächlich
nicht begeisternd waren, damit wurde die Tendenz der Ärzte, sich zu entsolidarisieren, noch
gefördert.
Diese Spaltung zwischen den ärztlichen
und nichtärztlichen Mitarbeitern ist ein Rückschritt und schwächt die
Widerstandsmöglichkeiten gegen die derzeit laufende Dumpingpolitik der öffentlichen wie privaten
Klinikbetreiber.
Dabei wäre gemeinsames Handeln und
gemeinsame Strategieplanung dringlicher denn je, denn die größte Gefahr für die Arbeits- und
Einkommensbedingungen an den Krankenhäusern lauert, wie im gesamten Dienstleistungssektor, vor der
Tür: Wenn das EU-Parlament tatsächlich die berüchtigte Bolkestein-Richtlinie, die die
Liberalisierung des »Dienstleistungsmarkts« in der EU vorsieht, verabschiedet, dann sind in
Zukunft die Tarifverträge das Papier nicht mehr wert, auf dem sie gedruckt sind. Dann wird das
Personal aus sog. Billiglohnländern importiert allerdings nicht mehr, wie in den 70er Jahren,
aus Personalmangel und zu hiesigen Tarifbedingungen, sondern aus »Kostengründen« und zu
Dumpinglöhnen.
Ernst A. Kluge
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