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Jeder will anscheinend sein Stückchen Ausnahmezustand: Betrachtet man
die Zonen, in denen bisher in Frankreich unter Anwendung der Notstandsgesetzgebung örtliche
Ausgangssperren verhängt wurden, so fällt auf, dass sich diese oft mit den Hochburgen
konservativer Spitzenpolitiker decken. Dieser Minister oder jener Staatsmann war sichtlich darum
bemüht, »seine« Stadt zum Modellfall autoritärer Krisenverwaltung zu erheben. Einen
Zusammenhang zur Schwere und zum Ausmaß der vorangegangenen Unruhen herzustellen, ist dagegen ungleich
schwerer.
Am 15. und 16.November beschlossen die
beiden Kammern des französischen Parlaments die Nationalversammlung und der Senat
jeweils mit den Stimmen der konservativen UMP und der halboppositionellen christdemokratischen UDF, den
Ausnahmezustand für drei Monate in Kraft zu setzen. SP, KP und Grüne stimmten dagegen und
kritisierten eine »überzogene« und »unverhältnismäßige
Maßnahme«.
Eine Woche zuvor hatte das
Regierungskabinett unter Premierminister Dominique de Villepin den état durgence, den
Ausnahmezustand ausgerufen auf der Grundlage eines Gesetzes von 1955, das während des damaligen
Algerienkriegs die Verhängung des Ausnahmezustands per Regierungsdekret für zwölf Tage
erlaubte, bevor das Parlament zustimmen musste. Letzteres ist nunmehr geschehen.
Die Gesetzgebung von 1955 erlaubt den als
juristischen Vertretern des Zentralstaats in den Départements fungierenden Präfekten die
Verhängung von Ausgangssperren über bestimmte Örtlichkeiten und Zonen. Es erlaubt aber auch
die zwangsweise Zuweisung von Aufenthaltsorten an Personen, die »die öffentliche Ordnung
gefährden« könnten, die Einführung einer »Pressekontrolle« und die
Schließung von Versammlungslokalen. Bisher nutzt die Regierung jedoch nur die Möglichkeit,
Ausgangssperren anzuordnen.
Insgesamt galten oder gelten örtliche
Ausgangssperren in 5 von 26 besonders von den Riots betroffenen Départements, teils für
Jugendliche und teils auch für alle Bewohner bestimmter Örtlichkeiten. Im Großraum Paris
wurde so gut wie gar nicht davon Gebrauch gemacht die Präfekten befürchten nur
Komplikationen, wenn sie durch starke Polizeieinheiten für die Durchsetzung des Ausgangsverbots sorgen
müssten, während sich die Situation ohnehin »beruhigte«, da die Riots aufgrund ihrer
Strategielosigkeit von allein abzuflauen begannen.
Zuerst wurden Ausgangssperren über das
nordfranzösische Amiens verhängt. Es folgten Ausgangsverbote in mehreren Städten der
Normandie wie Le Havre, Rouen und Evreux, wo es zu einem kurzen Aufflammen von Riots gekommen war. In
Evreux wurde gleich ein ganzes Unterschichtsviertel mit 18000 Einwohnern ab 22 Uhr mit Absperrgittern
abgeriegelt und quasi unter Quarantäne gestellt. Gendarmieeinheiten an den Ein- und Ausgängen
sorgten dafür, dass nur hinein oder hinaus konnte, wer »familiäre, medizinische oder
berufliche Notfälle« nachweisen konnte. Im Inneren patrouillierten Einheiten der
Bereitschaftspolizei CRS, um zu kontrollieren, dass die Einwohner in ihren Häusern blieben. Diese,
einiges Aufsehen erregende, Abriegelung eines ganzen Wohnviertels wurde eine Woche lang praktiziert und am
16.November aufgehoben.
Fast keinen Zusammenhang zu realen Unruhen
findet man mehr, wenn in 21 Städten des Meeralpenbezirks darunter Nizza, Cannes und Antibes
Ausgangssperren verhängt wurden. Nizza hatte allerdings bereits in der Vergangenheit vielfach
als Versuchslabor für besonders reaktionäre Politikmodelle gedient, die später auch anderswo
Anwendung finden sollten.
Die politische Atmosphäre ist offensichtlich günstig für die politische Rechte, um alle
möglichen Vorhaben aus den Schubladen zu holen, von denen sie längst träumte. So entbrannten
ab Mitte November erneut Debatten über die alte Forderung der konservativen wie extremen
Rechten, Eltern aus »sozial schwachen« Familien die Kindergeld- und Sozialleistungen zu
entziehen, wenn sie ihre Kinder nicht zu kontrollieren vermögen.
In der Pariser Vorstadt Draveil begann der
konservative Bürgermeister Georg Tron jetzt damit, diese Form von Sippenhaft denn auch die
Brüder und Schwester der Betroffenen verlieren etwa die Zuzahlungen zur Schulkantine erstmals
anzuwenden. Ein konservativer Hinterbänkler legte im Parlament einen Gesetzesvorschlag vor, der
Einwandererkindern aus der zweiten und dritten Generation ihre französische Staatsbürgerschaft
entziehen soll, falls sie an den Riots teilgenommen haben. Den nachträglichen Entzug der
Staatsangehörigkeit hat es zuletzt unter dem Vichy-Regime gegeben.
Mehrere bürgerliche Spitzenpolitiker
trugen gleichzeitig erheblich zu einer Ethnisierung, ja rassistischen Verzerrung, in der Wahrnehmung der
jüngsten Riots und ihrer gesellschaftlichen Ursachen bei. So sprach der Staatssekretär im
Arbeits- und Sozialministerium, Gérard Larcher, in der Öffentlichkeit davon, die Polygamie (eine
»asoziale Lebensform«) sei eine Hauptursache für die Verwahrlosung von deren Kindern, und
letztere wiederum einer der maßgeblichen Gründe für die Straßenunruhen. Dabei wird sie
nach offiziellen Schätzungen nur noch von höchstens 20000 Familien vorwiegend
schwarzafrikanischer Herkunft illegal betrieben dagegen ist in Wirklichkeit die Zahl »rein
französischer« Männer, die mit einer Frau verheiratet sind und mehrere andere
schwängern, wohl weitaus höher.
In ähnlichem Sinne wie Larcher
äußerte sich der Vorsitzende der Parlamentsfraktion der konservativen Regierungspartei UMP in der
Nationalversammlung, Bernard Accoyer. Auch Innenminister Nicolas Sarkozy zitierte diese angebliche, in
Wirklichkeit in diesem Zusammenhang völlig belanglose, Ursache in einem Nebensatz, wobei er sich
zurückhaltende ausdrückte als Accoyer und Larcher.
Innenminister Sarkozy hat ferner angekündigt, an den Unruhen beteiligte Immigranten ohne
französische Staatsbürgerschaft aus dem Land abzuschieben. Und rasch wurde eine
»Rückkehr der Doppelstrafe« kritisiert: Sarkozy selbst hatte im Jahr 2003 die sog. double
peine weitgehend abgeschafft, die darin bestand, dass ein gerichtlich sanktionierter Ausländer sowohl
wie jeder verurteilte Franzose seine Strafe absitzen musste als auch anschließend
abgeschoben werden konnte. Diese »Doppelstrafe« war seit langem durch Menschenrechtsgruppen als
rechtliche Diskriminierung angegriffen worden. Sarkozy hatte sie damals, seinem politischen Motto
»Hart, aber gerecht« entsprechend und nach jahrelanger Untätigkeit der Sozialdemokraten,
abgeschafft.
Sarkozy hats gegeben, Sarkozy
hats genommen? Auf die Vorwürfe, der Minister revidiere seinen eigenen Beschluss, die
»Doppelstrafe« sei als diskriminierend zu betrachten, antwortete dessen Umgebung mit einem
frappierenden Argument. Le Monde zitierte Berater des Innenministers mit dem Argument, es gehe gar nicht um
eine Doppelstrafe, denn diese betreffe ja strafrechtlich verurteilte Ausländer. Dagegen plane man
jetzt, an den Unruhen beteiligte Ausländer auch ohne jedes Urteil abzuschieben…
Das muss umso kritikwürdiger
erscheinen, als, selbst nach Berichten des öffentlichen Radiosenders France Info, oftmals alle
Umstehenden rund um einen Schauplatz der Unruhen festgenommen werden. Erst anschließend, im
polizeilichen Gewahrsam oder bei der Vorbereitung der Prozesse im Schnellverfahren der comparution
immédiate (bei dem die Verhafteten vor ihrer Verurteilung nicht mehr auf freien Fuß gesetzt
werden), werden demnach diejenigen, denen man konkrete Vorwürfe zur Last legen kann manchmal
aufgrund zweifelhafter Aussagen von Polizeizeugen , aus der »Masse« der übrigen
Festgenommenen heraussortiert.
Insgesamt sind annähernd 3000 Personen
verhaftet worden, von ihnen sind nach ersten Angaben 120 ohne französische Staatsbürgerschaft. Im
Parlament präzisierte Sarkozy am 15.November, gegen bisher zehn Personen seien konkrete Vorbereitungen
zur Abschiebung eingeleitet, Minderjährige würden jedoch ausgespart das hätte er ohne
Veränderung der Gesetze nicht vor den Gerichten durchbekommen.
Alle Autobesitzer, deren Fahrzeuge im Zuge der Unruhen angezündet worden sind, auch wenn sie keinen
Versicherungsschutz für solche Fälle besaßen, sollen in den kommenden Wochen
entschädigt werden. Die Regierung will entsprechenden Druck auf die Versicherungsunternehmen
ausüben. Diese Maßnahme ist kaum kritikwürdig, da auch viele Einwohner der
Trabantenstädte und (relativ oder absolut) arme Haushalte vom »Abfackeln« von Autos
betroffen waren. Insgesamt standen im Laufe der Unruhen zwischen 8000 und 9000 Autos in Flammen.
Allerdings ist diese
»Aktionsform« auch ohne Riots in Frankreich Vorstädten und ghettosierten Wohnbezirken
verbreitet: Schon vor Beginn der Unruhen betrug die Zahl der seit Jahresbeginn angezündeten Autos
über 25000. Ein solches Vorgehen ist mittlerweile für viele, vorwiegend männliche,
Jugendliche aus den Armutsghettos zum Ritual geworden, das ihnen auf relativ sichere Weise verspricht, in
die Medien zu kommen und somit »endlich auch einmal« eine vermeintliche Form
»gesellschaftlicher Anerkennung«, oder jedenfalls Wahrnehmung, zu finden. Seitens der Medien und
der etablierten Politik sind die sensationalistische Wahrnehmung dieses Phänomens bzw. die
ritualisierte Empörung darüber längst zu einem eingefahrenen Mechanismus geworden.
Während die extreme Rechte das
repressive Vorgehen der Regierung teils begrüßt und teils verbal zu übertrumpfen sucht
(wobei im Überbietungswettbewerb der nationalkonservative Graf Philippe de Villiers noch lauter zu
schreien versuchte als der klassische Rechtsradikale Jean-Marie Le Pen: de Villiers wollte gar die Armee
zur Niederschlagung der Riots losschicken), gibt es auch Proteste von links gegen die
Notstandsgesetzgebung. Parallel zur Debatte im Senat, dem parlamentarischen »Oberhaus«, am
16.November über die dreimonatige Verlängerung des Ausnahmezustands demonstrierten rund 2500
Linke im Zentrum von Paris. Es handelte sich um die bisher größte Mobilisierung von links zu
diesem Thema. Dazu hatten die KP (aus deren Reihen aber nur die politisierten Elemente kamen), die beiden
trotzkistischen Parteien LO und LCR, Anarchogruppen, die Lehrergewerkschaft FSU und die linken
Basisgewerkschaften SUD-Solidaires sowie die linksliberale Liga für Menschenrechte (LDH) zusammen
aufgerufen.
Bernhard Schmid, Paris
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