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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2005, Seite 14

Der linke Europagedanke in der globalisierungskritischen Bewegung

Wer gibt die Verfassung?

Die europäischen Sozialforen — in Florenz, Paris, London — haben einen supranationalen öffentlichen Raum geschaffen, wo sich auf dem Weg des Diskurses ein »europäisches Volk« herauszubilden beginnt, ohne dabei in organische oder naturalistische Vorstellungen von einem »Volkskörper« zu verfallen.

Die globalisierungskritische Bewegung hat Methoden und Inhalt des Europäischen Verfassungsvertrags kritisiert und die Herausforderung der Konstituierung angenommen, sie sogar zum Terrain von Initiativen für die Ablehnung und Umkehr neoliberaler Politik gemacht. Sie hat immer darauf bestanden, dass die Zivilbürger an der Erarbeitung der Grundsätze einer Verfassung zu beteiligen sind: Wenn Verfassung eine Rechtsordnung beschreibt, in der die universellen Rechte der Person festgehalten sind, von der die Organisation der Gewalten abgeleitet ist, dann kann man sagen, dass die Bewegungen derzeit faktisch einen Kampf um eine »europäische Verfassung« führen.
In den Vollversammlungen, Seminaren und Workshops über Europa haben wir uns mit dem Verfassungsvertrag auseinandergesetzt und über seine Bewertung gestritten: Einige haben ihn trotz allem als einen Fortschritt empfunden, vor allem wegen der Aufnahme der Grundrechtecharta von Nizza, die Spielraum lasse für eine »fortschreitende Interpretation«; andere, darunter auch der Autor, sehen im Verfassungsvertrag eine Bestätigung der Dominanz der Staaten und des Primats des Marktes zulasten der Rechte.
Gemeinsame Auffassung war jedoch, dass der konstituierende Prozess mit der Unterzeichnung des Vertrags in Rom am 29.Oktober 2004 und seiner Ratifizierung nicht abgeschlossen sei. Eine demokratische europäische Verfassung — das ist vorherrschende Meinung im Europäischen Sozialforum — kann nur auf dem Weg der Erkämpfung universeller Rechte errichtet werden, die zugleich eine europäische Zivilbürgerschaft und eine supranationale Öffentlichkeit hervorbringt, in der Demokratie auf mehreren Ebenen stattfindet.
Über diesen Prozess und die notwendigen Konflikte, die es braucht, um den universellen Rechten der Person verfassungsmäßige Geltung zu verschaffen — ohne Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden —, gibt es in der Bewegung einen breiten Konsens. Nach dem Sieg des Nein in den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden hat deshalb — parallel zu den europäischen Mobilisierungen gegen den Krieg, gegen Neoliberalismus und Rassismus, gegen die Privatisierung der öffentlichen Dienste und für die Rücknahme der Bolkesteinrichtlinie — ein Prozess der Erarbeitung einer Charta der Grundsätze für ein anderes Europa begonnen. Die erste Etappe war eine Versammlung in Florenz am 11. und 12. November 2005, eine weitere Etappe wird das Europäische Sozialforum in Athen sein.
Die globalisierungskritische Bewegung hat nicht die Fehler der alten Linken wiederholt, die sich mit Ausnahme einiger Teile der aktionistischen und sozialistischen Linken vor der Europaoffensive von Schuman, Adenauer und De Gasperi in die Grenzen der Nationalstaaten (und ins »sozialistische Lager«, also unter die Fittiche Stalins) zurückgezogen hat. Heute bauen die sozialen Bewegungen eine linke Europavorstellung auf, um universelle soziale, politische und kulturelle Rechte und supranationale Demokratie zu erlangen.
In den außergewöhnlichen Tagen von Florenz während des Ersten Europäischen Sozialforums 2002 geschah etwas Überraschendes: Mehrere tausend Menschen analysierten unter dem Thema »Von der Charta von Nizza zur Verfassung« die Krise der europäischen Demokratie. Stundenlang diskutierten sie auf der Grundlage kulturell sehr niveauvoller Einleitungsbeiträge die konstituierenden Prozesse, die sich in Europa herausgebildet haben. Sie betonten u.a., dass Staaten und Regierungen längst nicht mehr deren einzige Hauptprotagonisten sind, ein neuer Akteur ist hinzugekommen: die Bewegung der Bewegungen, mit ihrer pluralen Vielfalt, die sie zu einem hochrangigen Ausdruck der organisierten Zivilgesellschaft macht — ein wirkliches »europäisches Volk im Werden«.
Die Bewegungen haben die Zusammensetzung des von Giscard d‘Estaing geleiteten Konvents scharf kritisiert und ihm vor allem die demokratische Legitimation abgesprochen. Hier haben sich die Staaten zu konstituierenden Subjekten aufgeschwungen und damit erneut ihre Rolle als Herrscher über die Definition von Normen bekräftigt, die der Vertrag ihnen garantiert. Die »Herren der Verträge«, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht die Staaten genannt hat, sind auch zu Herren des Verfassungsprozesses geworden. Die zentrale Stellung der Regierungen, die im europäischen Gesetzgebungsprozess eh schon die Schlüsselrolle spielen — man denke nur daran, dass sie legislative Aufgaben wahrnehmen und damit in einem Handstreich die Gewaltenteilung und die parlamentarische Regierungsform aushebeln —, wird damit ausgeweitet, die Verfassung wird von oben gewährt.
Über diese Kritik besteht Grundkonsens. Ohne die Besonderheiten des europäischen Aufbaus zu unterschätzen, macht man im Sozialforum geltend, dass die Union, wenn sie den Schritt von einer »Gesellschaft des Marktes und des Geldes« zu einer demokratischen Gesellschaft schaffen will, die geprägt ist von zivilbürgerschaftlichen Rechten, einen wirklichen konstituierenden Prozess einleiten muss. Dieser kann sich nicht in einer Regierungskonferenz erschöpfen, die Völker Europas müssen darin eingreifen können. Es braucht einen öffentlichen europäischen Raum, in dem eine europäische Verfassung diskutiert und erarbeitet werden kann.
In diesem Prozess müssen das Europaparlament und die nationalen Parlamente, vor allem aber die sozialen Akteure eine Rolle spielen — die Migranten, die Gewerkschaften, die NGOs, die Parteien, die Bewegungen. Das »Volk auf der Straße« wird keine Verfassung ausarbeiten, aber es braucht einen öffentlichen Raum, in dem demokratisch gewählte Vertreter und Zivilbürger diskutieren und entscheiden können.
Eine Verfassung kann nicht das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Staaten sein. Das wäre ein weiterer, unakzeptabler Schritt weg von der Demokratie. Die intergouvernementale Methode, die in den Entscheidungsprozessen heute dominiert, wird von den Bewegungen abgelehnt. Ein europäisches Volk kann sich durch einen »verfassungsbildenden Gesellschaftsvertrag« herausbilden, an dem alle beteiligt werden müssen. Die Bewegung der europäischen Sozialforen, die Märsche gegen Erwerbslosigkeit, die Organisationen der prekär Beschäftigten, Massenkampagnen wie die zur Bolkesteinrichtlinie, die laizistischen und die Religionsgemeinschaften, die weite Welt des Pazifismus bilden die Grundlage für eine solche Beteiligung an der »Phase der Konstituierung«.
Eine Verfassung schafft Normen. Sie steht auf bereits erprobten Fundamenten und schafft neue, die einer eigenen Rechtfertigung bedürfen. Was die »historischen Grundlagen« betrifft, kann man hinter den Art.16 der Menschenrechtserklärung von 1789 nicht zurückgehen, die der Verfassung von 1791 als Präambel vorangestellt wurde: »Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert ist, hat keine Verfassung. Es besteht keine Verfassung, wenn die Mehrheit des Volkes an ihrem Zustandekommen nicht mitgewirkt hat.«
Die Debatten im Sozialforum haben sich von diesem Grundsatz leiten lassen, während in der EU die Regierungen die Gesetze machen und dabei sogar die nationalen Parlamente umgehen. Eine zweite Frage ist die nach der Garantie der Rechte, die um einige wenige, aber starke Grundsätze herum kreisen: der Frieden; die Residenzbürgerschaft, damit alle ein »Recht auf Rechte« haben; Gleichheit und Differenz; die Laizität der politischen Institutionen; die gemeinschaftlichen Güter für eine andere Produktions- und Konsumweise.
Das französische Nein zum Verfassungsvertrag hat einen Schlusspunkt unter die historische Entwicklungslinie gesetzt, die mit der Erklärung von Robert Schuman am 9.Mai 1950 eröffnet wurde. Es ermöglicht die Überwindung der reinen Regierungszusammenarbeit, die bisher den Aufbau der Europäischen Union kennzeichnete und die sich im Verfassungsvertrag fortsetzt. Dort heißt es in Art.11: »Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in der Verfassung zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben.« Diese Ziele kulminieren in der Schaffung einer »in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft«.
Von 1950 bis heute hält den europäischen Aufbau nur ein Band zusammen: der Markt und die Zusammenarbeit der Regierungen. Der politische Ansatz Schumans hat sein Ziel nicht erreicht, nämlich eine »europäischen Föderation [zu schaffen], die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist«. Er ist gescheitert, weil die Marktwirtschaft, der Leitstern des Aufbaus der Union, nicht in der Lage ist, eine politische Gemeinschaft zu schaffen. Diese zweckbestimmte Methode, die darauf aus ist, nur Wirtschaft und Markt zu integrieren, muss überwunden werden, wenn man eine politische Union aufbauen will. Die Regierungen können nicht mehr das Recht auf die letzte Entscheidung und nicht mehr das Recht auf die Legislative haben.

Franco Russo

Franco Russo ist Mitglied des Netzwerks Transform Italia und hat die »Versammlung für die Charta der Grundsätze eines anderen Europa« in Florenz koordiniert.



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