SoZSozialistische Zeitung |
Die europäischen Sozialforen in Florenz, Paris, London
haben einen supranationalen öffentlichen Raum geschaffen, wo sich auf dem Weg des Diskurses ein
»europäisches Volk« herauszubilden beginnt, ohne dabei in organische oder naturalistische
Vorstellungen von einem »Volkskörper« zu verfallen.
Die globalisierungskritische Bewegung hat Methoden und Inhalt des Europäischen
Verfassungsvertrags kritisiert und die Herausforderung der Konstituierung angenommen, sie sogar zum Terrain
von Initiativen für die Ablehnung und Umkehr neoliberaler Politik gemacht. Sie hat immer darauf
bestanden, dass die Zivilbürger an der Erarbeitung der Grundsätze einer Verfassung zu beteiligen
sind: Wenn Verfassung eine Rechtsordnung beschreibt, in der die universellen Rechte der Person festgehalten
sind, von der die Organisation der Gewalten abgeleitet ist, dann kann man sagen, dass die Bewegungen
derzeit faktisch einen Kampf um eine »europäische Verfassung« führen.
In den Vollversammlungen, Seminaren und
Workshops über Europa haben wir uns mit dem Verfassungsvertrag auseinandergesetzt und über seine
Bewertung gestritten: Einige haben ihn trotz allem als einen Fortschritt empfunden, vor allem wegen der
Aufnahme der Grundrechtecharta von Nizza, die Spielraum lasse für eine »fortschreitende
Interpretation«; andere, darunter auch der Autor, sehen im Verfassungsvertrag eine Bestätigung
der Dominanz der Staaten und des Primats des Marktes zulasten der Rechte.
Gemeinsame Auffassung war jedoch, dass der
konstituierende Prozess mit der Unterzeichnung des Vertrags in Rom am 29.Oktober 2004 und seiner
Ratifizierung nicht abgeschlossen sei. Eine demokratische europäische Verfassung das ist
vorherrschende Meinung im Europäischen Sozialforum kann nur auf dem Weg der Erkämpfung
universeller Rechte errichtet werden, die zugleich eine europäische Zivilbürgerschaft und eine
supranationale Öffentlichkeit hervorbringt, in der Demokratie auf mehreren Ebenen stattfindet.
Über diesen Prozess und die
notwendigen Konflikte, die es braucht, um den universellen Rechten der Person verfassungsmäßige
Geltung zu verschaffen ohne Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden , gibt es in der
Bewegung einen breiten Konsens. Nach dem Sieg des Nein in den Volksabstimmungen in Frankreich und den
Niederlanden hat deshalb parallel zu den europäischen Mobilisierungen gegen den Krieg, gegen
Neoliberalismus und Rassismus, gegen die Privatisierung der öffentlichen Dienste und für die
Rücknahme der Bolkesteinrichtlinie ein Prozess der Erarbeitung einer Charta der Grundsätze
für ein anderes Europa begonnen. Die erste Etappe war eine Versammlung in Florenz am 11. und 12.
November 2005, eine weitere Etappe wird das Europäische Sozialforum in Athen sein.
Die globalisierungskritische Bewegung hat
nicht die Fehler der alten Linken wiederholt, die sich mit Ausnahme einiger Teile der aktionistischen und
sozialistischen Linken vor der Europaoffensive von Schuman, Adenauer und De Gasperi in die Grenzen der
Nationalstaaten (und ins »sozialistische Lager«, also unter die Fittiche Stalins)
zurückgezogen hat. Heute bauen die sozialen Bewegungen eine linke Europavorstellung auf, um
universelle soziale, politische und kulturelle Rechte und supranationale Demokratie zu erlangen.
In den außergewöhnlichen Tagen
von Florenz während des Ersten Europäischen Sozialforums 2002 geschah etwas Überraschendes:
Mehrere tausend Menschen analysierten unter dem Thema »Von der Charta von Nizza zur Verfassung«
die Krise der europäischen Demokratie. Stundenlang diskutierten sie auf der Grundlage kulturell sehr
niveauvoller Einleitungsbeiträge die konstituierenden Prozesse, die sich in Europa herausgebildet
haben. Sie betonten u.a., dass Staaten und Regierungen längst nicht mehr deren einzige
Hauptprotagonisten sind, ein neuer Akteur ist hinzugekommen: die Bewegung der Bewegungen, mit ihrer
pluralen Vielfalt, die sie zu einem hochrangigen Ausdruck der organisierten Zivilgesellschaft macht
ein wirkliches »europäisches Volk im Werden«.
Die Bewegungen haben die Zusammensetzung
des von Giscard dEstaing geleiteten Konvents scharf kritisiert und ihm vor allem die demokratische
Legitimation abgesprochen. Hier haben sich die Staaten zu konstituierenden Subjekten aufgeschwungen und
damit erneut ihre Rolle als Herrscher über die Definition von Normen bekräftigt, die der Vertrag
ihnen garantiert. Die »Herren der Verträge«, wie das deutsche Bundesverfassungsgericht die
Staaten genannt hat, sind auch zu Herren des Verfassungsprozesses geworden. Die zentrale Stellung der
Regierungen, die im europäischen Gesetzgebungsprozess eh schon die Schlüsselrolle spielen
man denke nur daran, dass sie legislative Aufgaben wahrnehmen und damit in einem Handstreich die
Gewaltenteilung und die parlamentarische Regierungsform aushebeln , wird damit ausgeweitet, die
Verfassung wird von oben gewährt.
Über diese Kritik besteht
Grundkonsens. Ohne die Besonderheiten des europäischen Aufbaus zu unterschätzen, macht man im
Sozialforum geltend, dass die Union, wenn sie den Schritt von einer »Gesellschaft des Marktes und des
Geldes« zu einer demokratischen Gesellschaft schaffen will, die geprägt ist von
zivilbürgerschaftlichen Rechten, einen wirklichen konstituierenden Prozess einleiten muss. Dieser kann
sich nicht in einer Regierungskonferenz erschöpfen, die Völker Europas müssen darin
eingreifen können. Es braucht einen öffentlichen europäischen Raum, in dem eine
europäische Verfassung diskutiert und erarbeitet werden kann.
In diesem Prozess müssen das
Europaparlament und die nationalen Parlamente, vor allem aber die sozialen Akteure eine Rolle spielen
die Migranten, die Gewerkschaften, die NGOs, die Parteien, die Bewegungen. Das »Volk auf der
Straße« wird keine Verfassung ausarbeiten, aber es braucht einen öffentlichen Raum, in dem
demokratisch gewählte Vertreter und Zivilbürger diskutieren und entscheiden können.
Eine Verfassung kann nicht das Ergebnis von
Verhandlungen zwischen Staaten sein. Das wäre ein weiterer, unakzeptabler Schritt weg von der
Demokratie. Die intergouvernementale Methode, die in den Entscheidungsprozessen heute dominiert, wird von
den Bewegungen abgelehnt. Ein europäisches Volk kann sich durch einen »verfassungsbildenden
Gesellschaftsvertrag« herausbilden, an dem alle beteiligt werden müssen. Die Bewegung der
europäischen Sozialforen, die Märsche gegen Erwerbslosigkeit, die Organisationen der prekär
Beschäftigten, Massenkampagnen wie die zur Bolkesteinrichtlinie, die laizistischen und die
Religionsgemeinschaften, die weite Welt des Pazifismus bilden die Grundlage für eine solche
Beteiligung an der »Phase der Konstituierung«.
Eine Verfassung schafft Normen. Sie steht
auf bereits erprobten Fundamenten und schafft neue, die einer eigenen Rechtfertigung bedürfen. Was die
»historischen Grundlagen« betrifft, kann man hinter den Art.16 der Menschenrechtserklärung
von 1789 nicht zurückgehen, die der Verfassung von 1791 als Präambel vorangestellt wurde:
»Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert ist, hat keine Verfassung. Es
besteht keine Verfassung, wenn die Mehrheit des Volkes an ihrem Zustandekommen nicht mitgewirkt hat.«
Die Debatten im Sozialforum haben sich von
diesem Grundsatz leiten lassen, während in der EU die Regierungen die Gesetze machen und dabei sogar
die nationalen Parlamente umgehen. Eine zweite Frage ist die nach der Garantie der Rechte, die um einige
wenige, aber starke Grundsätze herum kreisen: der Frieden; die Residenzbürgerschaft, damit alle
ein »Recht auf Rechte« haben; Gleichheit und Differenz; die Laizität der politischen
Institutionen; die gemeinschaftlichen Güter für eine andere Produktions- und Konsumweise.
Das französische Nein zum
Verfassungsvertrag hat einen Schlusspunkt unter die historische Entwicklungslinie gesetzt, die mit der
Erklärung von Robert Schuman am 9.Mai 1950 eröffnet wurde. Es ermöglicht die
Überwindung der reinen Regierungszusammenarbeit, die bisher den Aufbau der Europäischen Union
kennzeichnete und die sich im Verfassungsvertrag fortsetzt. Dort heißt es in Art.11: »Nach dem
Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der
Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in der Verfassung zur Verwirklichung der darin
niedergelegten Ziele übertragen haben.« Diese Ziele kulminieren in der Schaffung einer »in
hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft«.
Von 1950 bis heute hält den
europäischen Aufbau nur ein Band zusammen: der Markt und die Zusammenarbeit der Regierungen. Der
politische Ansatz Schumans hat sein Ziel nicht erreicht, nämlich eine »europäischen
Föderation [zu schaffen], die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist«. Er ist
gescheitert, weil die Marktwirtschaft, der Leitstern des Aufbaus der Union, nicht in der Lage ist, eine
politische Gemeinschaft zu schaffen. Diese zweckbestimmte Methode, die darauf aus ist, nur Wirtschaft und
Markt zu integrieren, muss überwunden werden, wenn man eine politische Union aufbauen will. Die
Regierungen können nicht mehr das Recht auf die letzte Entscheidung und nicht mehr das Recht auf die
Legislative haben.
Franco Russo
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