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Am 12./13.November fand in Florenz die »Versammlung für eine Charta
der Grundsätze eines anderen Europa« statt. Sie diente der Vorbereitung der Diskussion über
eine Alternative zum EU-Verfassungsvertrag auf dem Europäischen Sozialforum in Athen im Frühjahr
2006.
Florenz bildete einen idealen Austragungsort, um eine Debatte mit breitem sozialen und kulturellen
Horizont auf den Weg zu bringen. Der von den Linksdemokraten gestellte Bürgermeister ließ es sich
nicht nehmen, vermittelt über einen Stellvertreter der Versammlung nicht nur ein Grußwort
auszurichten, sondern ihr auch die gesamte Zeit beizuwohnen. Er betonte das inhaltliche Interesse, das die
Stadt Florenz habe, Gastgeberin einer Debatte über eine Alternative zur neoliberalen Europakonzeption
zu sein. An der Versammlung nahmen 180 Menschen aus 14 europäischen Ländern teil.
Die Debatte fand ausschließlich im
Plenum statt und gliederte sich in sieben Themenbereiche: Frieden und Sicherheit; Europa in der Welt;
Zivilbürgerschaft, Gleichheit und Differenz; Soziale Rechte und Arbeit; Demokratie und Teilhabe;
Für eine andere Wirtschaft: Gemeingüter und Umwelt; Für eine andere Wirtschaft:
Gemeingüter und soziale Leistungen.
Die Vorstellungen darüber, was
für ein Text am Schluss dieser Debatte erstellt werden soll, gehen noch auseinander. Von italienischer
Seite wird stark betont, es solle im Stil einer Gegenverfassung ein Text sein, der sich auf Grundsätze
für ein anderes Europa konzentriert. So war auch der Titel der Veranstaltung angelegt.
In der Debatte wurde aber darauf
hingewiesen, dass wir uns mit allgemeinen Grundsätzen nicht zufrieden geben können, sondern an
manchen Stellen klar sagen müssen, was wir wollen, also politisch zugespitzte Formulierungen brauchen.
Die Leiterin der internationalen Abteilung der italienischen Metallergewerkschaft FIOM, Alessandra Mecozzi,
fand am Schluss eine Formulierung, die konsensfähig sein könnte: Wir sollten einen Text
schreiben, der die großen Leitlinien der Rechte und Pflichten definiert, die Grundpfeiler dessen, was
wir als ein anderes Gesellschaftsmodell ansehen.
Die Debatte war überaus reichhaltig
und es ist nicht möglich, sie hier vollständig wiederzugeben. Es seien nur die
übergeordneten Leitlinien benannt, die heraus kristallisiert haben.
Den Grundgedanken der Debatte bildete das, was hier etwas unzureichend mit Zivilbürgerschaft
übersetzt wird. Die Italiener benutzen dafür den Begriff cittadinanza, die Franzosen den etwas
anders belegten Begriff citoyenneté. Der »cittadino« ist der Stadtbürger (der
»citoyen« schon der Staatsbürger), »città« kommt von civitas, das war im
römischen Recht die Gesamtheit der Bürger, also der mitspracheberechtigten Einwohner eines
Gemeinwesens (des Römischen Reiches). Der Begriff identifiziert mithin Staatsvolk mit politischer
Teilhabe. Er hat im Deutschen keine Entsprechung. »Bürger« kommt von Burg, das war der
Adelssitz, zu dem eine Reihe von Untertanen gehörten.
Die Erkämpfung politischer Rechte
für die Untertanen war ein langwieriger historischer Prozess. Die Einrichtung der Republik hingegen,
die den cittadino hervorgebracht hat, lässt sich im Römischen Reich auf das 6.Jahrhundert v.u.Z.,
in den mittelalterlichen Stadtstaaten Italiens auf das 12.Jahrhundert zurückverfolgen. Hier liegen die
Wurzeln des selbstbewussten Bürgers, der an der Verwaltung der res publica, der öffentlichen
Sache, des Gemeinwesens beteiligt ist. Öffentlichkeit ist in diesem Verständnis teilhabende,
demokratische Öffentlichkeit; sie richtet sich auf ein öffentliches Gut, öffentliche
Einrichtungen oder öffentliche Dienste, wie wir heute sagen würden.
Weil der Begriff
»Staatsbürger« im Deutschen eng mit der Entstehung des Nationalstaats verbunden ist und das
republikanische Verständnis von Gemeinwesen nicht wiedergibt, soll »cittadino« hier
behelfsweise mit Zivilbürger, »cittadinanza« mit Zivilbürgerschaft übersetzt
werden. Bessere Begriffe sind gern willkommen.
Die Behauptung einer republikanischen
Zivilbürgerschaft gegenüber dem liberalen privategoistischen Individuum, das nur sein
persönliches Glück verfolgt (und als »pursuit of happiness« Eingang z.B. in die US-
amerikanische Verfassung gefunden hat), ist ein Ansatz, der sehr weit trägt. Drei Facetten davon
wurden in der Florentiner Debatte sichtbar:
»Alle Menschen, die in einem Mitgliedstaat der Union leben und arbeiten, haben das Recht auf
Niederlassung und genießen dieselben politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte
wie die Bürger des jeweiligen Mitgliedstaats.« Dieser Gedanke war der vielleicht wichtigste
Leitgedanke in der Debatte, er war jedem einzelnen Themenbereich übergeordnet.
»Residenzbürgerschaft«
verlangt, Europa mit den Augen des Südens zu betrachten, derer, denen aufgrund ihrer Ausbeutung durch
europäisches Kapital eine eigenständige Entwicklung verwehrt wird und die deshalb nach Europa
kommen müssen, um ihr Leben zu fristen. Die Aufstände der Migranten in den französischen
Städten und Vororten waren ein ständiger Bezugspunkt, und die Versammlung hat am Schluss dazu
eine Solidaritätserklärung verfasst. »Residenzbürgerschaft« weicht den
herkömmlichen Staatsbürgerschaftsbegriff auf, lehnt jedes Abstammungsrecht ab, aber auch ein
Territorialrecht, das das Bürgerrecht an den Militärdienst bindet und mithin als Mittel der
Abgrenzung gegen Angehörige anderer Nationen versteht.
Mit einem so ausgeweiteten
Bürgerschaftsbegriff sollen Rechte tatsächlich universell, global werden.
Die neoliberale Politik schränkt die klassischen politischen, bürgerlichen, sozialen und
kulturellen Rechte gegenüber den Wettbewerbserfordernissen der Ökonomie zunehmend ein. Ihre
Bekräftigung und Ausweitung gehört deshalb zum Grundstock einer Alternative. Man findet in
verschiedenen europäischen und internationalen Grundsatzdokumenten genügend Anhaltspunkte, die
man aufgreifen und weiter entwickeln kann.
Darüber hinaus aber haben die Rechte
des Einzelnen, bedingt durch die Produktivkraftentwicklung und durch die allgemeine gesellschaftliche
Entwicklung, gegenüber früher zusätzliche Dimensionen gewonnen: genannt sei hier nur das
Recht auf saubere Umwelt, auf Datenschutz, auf umfassende Teilhabe am Gemeinwesen, Reproduktionsrechte, das
Recht auf existenzsichernde und gesellschaftlich sinnvolle Arbeit und das Recht auf armutsfestes Einkommen
unabhängig davon, ob man einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder nicht.
Ein Beitrag aus dem Genossenschaftsmilieu
hat versucht, das Recht auf Teilhabe in die Welt der Arbeit zu übersetzen. Mit dem Konzept der
Staatsbürgerschaft verbindet sich die Regel: »Ein Mensch eine Stimme.« Es ist
antiquiert, dass unsere Gesellschaften so unzulänglich auch immer individuelle Teilhabe
auf politischer Ebene organisieren, nicht auf betrieblicher. Die Umsetzung des Grundsatzes »Ein Mensch
eine Stimme« in den Betrieben würde bedeuten, dass alle im Betrieb Mitwirkenden das
gleiche Gewicht haben hinsichtlich der Wahl von Unternehmensleitungen, der Entscheidungen über
Investitionen, Produktlinien etc.
Mit der Infragestellung des Nationalstaats
als vorrangige identitätsstiftende Einheit gewinnen andere Zugehörigkeiten zu einer
Region, zu einem Kulturkreis, zu einem Geschlecht, auch zu einer Religion an Bedeutung. Das Recht
auf Differenz im Sinne gleichberechtigt nebeneinander bestehender, auch auswechselbarer Identitäten,
wurde betont. Identität kann nur gelebt werden, wenn die Gemeinschaften, die sie ausdrücken, als
solche Rechte haben. Sie treten neben die Rechte des Einzelnen, können sie aber nicht außer Kraft
setzen. Das Gleichgewicht zwischen beiden ist nicht immer einfach zu finden, es wurde vorgeschlagen, von
einem »Recht der Gemeinschaften und in den Gemeinschaften« zu sprechen.
Die öffentlichen Dienste als die gemeinsame Sache des Gemeinwesens sind heute im Wesentlichen
nationalstaatlich organisiert. Sie zu verteidigen gegen Bestrebungen, sie zu privatisieren und der
Profitlogik zu unterwerfen, ist ein Hauptanliegen des Sozialforums. Bei der reinen Abwehr der
Kommerzialisierungswut will man aber nicht stehen bleiben, ausdrücklich abgelehnt wurde das Ansinnen,
nur den alten Sozialstaat zu verteidigen.
Für eine Neudefinition der
öffentlichen Dienste wurden mehrere Kriterien genannt: Das öffentliche Eigentum kann nicht nur
ein staatliches sein, es muss tatsächlich ein öffentliches im Sinne einer Kontrolle durch die
Belegschaften und durch die Öffentlichkeit sein. Die öffentlichen Dienste sind ja dazu da,
Bedürfnisse zu erfüllen, und zwar auf einem qualitativ hoch stehenden Niveau. Staatliche
Einrichtungen garantieren nicht per se ein hohes Niveau an Dienstleistungen. Die individuellen
Ansprüche an sie müssen sich deshalb äußern können und in die Organisation der
Dienste einfließen. Wie dies geschehen kann, ist eine Frage der Ausgestaltung von Demokratie.
Dieser Ansatz löst noch nicht das
Problem, wie die heutige nationalstaatliche Verankerung der öffentlichen Dienste mit dem Recht auf
Freizügigkeit und auf freie Berufswahl im europäischen Rahmen in Einklang gebracht werden kann.
In Florenz wurde diese Frage nur aufgeworfen, nicht beantwortet.
Zu den öffentlichen Gütern
gehören auch natürliche Ressourcen: Wasser, Luft, überhaupt intakte Umwelt, der Boden und
seine Schätze. Hier stellt sich zunächst die Notwendigkeit, das herrschende System von Produktion
und Konsum umzustellen, dass es umwelt- und sozialverträglich wird. Hierein gehören Fragen wie
die Umstellung der Energiequellen und der Rückgang des Energieverbrauchs, die Neuordnung der
Verkehrspolitik (Schonung der Umwelt und zugleich Erhöhung der Mobilität), das Recht der Bauern
auf regionale Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Gütern und der Verzicht auf eine globalisierte
Nahrungsmittelproduktion, die Neuregelung der Abfallwirtschaft, aber auch die Demokratisierung der
Forschung und Entwicklung, die die Richtung der Produktivkraftentwicklung wesentlich bestimmt.
Auch bei den natürlichen Ressourcen
stellt sich die Frage, auf welchem Niveau welche Fragen entschieden werden und wie die Rechte des Einzelnen
gegen die Rechte von Gemeinschaften abgegrenzt werden.
Das Modell der Europäischen Union basiert auf den Nationalstaaten als souveränen Akteuren im
europäischen Prozess und auf einem Regime zwischenstaatlicher Arrangements. Gegen dieses Modell, das
die Bewohner der Union als Souverän entmündigt, läuft das Europäische Sozialforum Sturm
(siehe dazu den Artikel von Franco Russo). Die Alternative ist nun nicht ein europäischer
Nationalstaat, sondern ein noch zu definierendes Modell einer Mehr-Ebenen-Demokratie und -
Repräsentation vom Lokalen über das Nationale bis zum Europäischen. Angestrebt wird
eine Föderation der Völker Europas dabei müssen die Völker nicht identisch mit
den Staatsvölkern sein. Unter dieser Überschrift gibt es mindestens drei Fragen zu lösen:
die Abgrenzung der Rechte lokaler und
regionaler Gemeinschaften gegenüber der nationalen und der europäischen Ebene; in diesen
Zusammenhang gehört auch das Recht auf Selbstbestimmung, das z.B. die Basken reklamieren;
die Entwicklung von Mechanismen
partizipativer Demokratie auf allen Ebenen gegenüber rein repräsentativen Mechanismen; anders
gesagt, mit der Umwandlung des Europaparlaments in ein wirkliches Parlament ist es nicht getan;
unsere Vorstellung von
Subsidiarität: Welche Fragen sollen auf welcher Ebene entschieden werden? Mit welchen Mehrheiten und
welchen Mechanismen? Und wie kann bei aller Verschiedenheit der Entwicklung garantiert werden, dass wir in
Europa einheitliche Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen, die ein Lohn-, Sozial- und Umweltdumping
ausschließen und eine Angleichung der Lebensverhältnisse nach oben ermöglichen? Der
Vorschlag, gemeinsame Standards für die Armutsgrenze, für ein Mindesteinkommen, einen
Mindestlohn, für Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu schaffen, traf auf große Zustimmung. Es
wurde sogar gefordert, das Arbeitsrecht anzugleichen, und selbstverständlich ist die Forderung nach
einer Harmonisierung des Steuerniveaus.
Ein europaweites hohes Niveau von Rechten
realisiert sich nicht dadurch, dass man sie niederschreibt, und sei es in einer europäischen
Verfassung. Man muss eine Wirtschaftspolitik betreiben, die darauf angelegt ist, sie Wirklichkeit werden zu
lassen. Ein solcher (achter) Themenbereich fehlte interessanterweise, doch gibt es eine Initiative, ihn
einzurichten.
Wie geht es weiter? Man muss sich die
Erarbeitung von Leitlinien für ein anderes Europa als einen fortschreitenden Prozess vorstellen, in
dem immer wieder Zwischenergebnisse fixiert und weitere Schichten in die Debatte einbezogen werden. Der
allgemeine Zeitrahmen wird von der Debatte über den EU-Verfassungsvertrag vorgegeben werden, die ja
nach den französischen Präsidentschaftswahlen 2007 wieder aufgenommen werden soll. Bis dahin
sollte ein akzeptabler Entwurf stehen. Die nächsten Etappen der Diskussion lehnen sich an den
Vorbereitungsprozess des ESF in Athen an.
Angela Klein
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
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