SoZSozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2005, Seite 15

Erste Schritte zu einer Alternative zur EU-Verfassung

Eine Föderation der Völker Europas

Am 12./13.November fand in Florenz die »Versammlung für eine Charta der Grundsätze eines anderen Europa« statt. Sie diente der Vorbereitung der Diskussion über eine Alternative zum EU-Verfassungsvertrag auf dem Europäischen Sozialforum in Athen im Frühjahr 2006.

Florenz bildete einen idealen Austragungsort, um eine Debatte mit breitem sozialen und kulturellen Horizont auf den Weg zu bringen. Der von den Linksdemokraten gestellte Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen, vermittelt über einen Stellvertreter der Versammlung nicht nur ein Grußwort auszurichten, sondern ihr auch die gesamte Zeit beizuwohnen. Er betonte das inhaltliche Interesse, das die Stadt Florenz habe, Gastgeberin einer Debatte über eine Alternative zur neoliberalen Europakonzeption zu sein. An der Versammlung nahmen 180 Menschen aus 14 europäischen Ländern teil.
Die Debatte fand ausschließlich im Plenum statt und gliederte sich in sieben Themenbereiche: Frieden und Sicherheit; Europa in der Welt; Zivilbürgerschaft, Gleichheit und Differenz; Soziale Rechte und Arbeit; Demokratie und Teilhabe; Für eine andere Wirtschaft: Gemeingüter und Umwelt; Für eine andere Wirtschaft: Gemeingüter und soziale Leistungen.
Die Vorstellungen darüber, was für ein Text am Schluss dieser Debatte erstellt werden soll, gehen noch auseinander. Von italienischer Seite wird stark betont, es solle im Stil einer Gegenverfassung ein Text sein, der sich auf Grundsätze für ein anderes Europa konzentriert. So war auch der Titel der Veranstaltung angelegt.
In der Debatte wurde aber darauf hingewiesen, dass wir uns mit allgemeinen Grundsätzen nicht zufrieden geben können, sondern an manchen Stellen klar sagen müssen, was wir wollen, also politisch zugespitzte Formulierungen brauchen. Die Leiterin der internationalen Abteilung der italienischen Metallergewerkschaft FIOM, Alessandra Mecozzi, fand am Schluss eine Formulierung, die konsensfähig sein könnte: Wir sollten einen Text schreiben, der die großen Leitlinien der Rechte und Pflichten definiert, die Grundpfeiler dessen, was wir als ein anderes Gesellschaftsmodell ansehen.
Die Debatte war überaus reichhaltig und es ist nicht möglich, sie hier vollständig wiederzugeben. Es seien nur die übergeordneten Leitlinien benannt, die heraus kristallisiert haben.

Die Zivilbürgerschaft

Den Grundgedanken der Debatte bildete das, was hier etwas unzureichend mit Zivilbürgerschaft übersetzt wird. Die Italiener benutzen dafür den Begriff cittadinanza, die Franzosen den etwas anders belegten Begriff citoyenneté. Der »cittadino« ist der Stadtbürger (der »citoyen« schon der Staatsbürger), »città« kommt von civitas, das war im römischen Recht die Gesamtheit der Bürger, also der mitspracheberechtigten Einwohner eines Gemeinwesens (des Römischen Reiches). Der Begriff identifiziert mithin Staatsvolk mit politischer Teilhabe. Er hat im Deutschen keine Entsprechung. »Bürger« kommt von Burg, das war der Adelssitz, zu dem eine Reihe von Untertanen gehörten.
Die Erkämpfung politischer Rechte für die Untertanen war ein langwieriger historischer Prozess. Die Einrichtung der Republik hingegen, die den cittadino hervorgebracht hat, lässt sich im Römischen Reich auf das 6.Jahrhundert v.u.Z., in den mittelalterlichen Stadtstaaten Italiens auf das 12.Jahrhundert zurückverfolgen. Hier liegen die Wurzeln des selbstbewussten Bürgers, der an der Verwaltung der res publica, der öffentlichen Sache, des Gemeinwesens beteiligt ist. Öffentlichkeit ist in diesem Verständnis teilhabende, demokratische Öffentlichkeit; sie richtet sich auf ein öffentliches Gut, öffentliche Einrichtungen oder öffentliche Dienste, wie wir heute sagen würden.
Weil der Begriff »Staatsbürger« im Deutschen eng mit der Entstehung des Nationalstaats verbunden ist und das republikanische Verständnis von Gemeinwesen nicht wiedergibt, soll »cittadino« hier behelfsweise mit Zivilbürger, »cittadinanza« mit Zivilbürgerschaft übersetzt werden. Bessere Begriffe sind gern willkommen.
Die Behauptung einer republikanischen Zivilbürgerschaft gegenüber dem liberalen privategoistischen Individuum, das nur sein persönliches Glück verfolgt (und als »pursuit of happiness« Eingang z.B. in die US- amerikanische Verfassung gefunden hat), ist ein Ansatz, der sehr weit trägt. Drei Facetten davon wurden in der Florentiner Debatte sichtbar:

Die Residenzbürgerschaft

»Alle Menschen, die in einem Mitgliedstaat der Union leben und arbeiten, haben das Recht auf Niederlassung und genießen dieselben politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte wie die Bürger des jeweiligen Mitgliedstaats.« Dieser Gedanke war der vielleicht wichtigste Leitgedanke in der Debatte, er war jedem einzelnen Themenbereich übergeordnet.
»Residenzbürgerschaft« verlangt, Europa mit den Augen des Südens zu betrachten, derer, denen aufgrund ihrer Ausbeutung durch europäisches Kapital eine eigenständige Entwicklung verwehrt wird und die deshalb nach Europa kommen müssen, um ihr Leben zu fristen. Die Aufstände der Migranten in den französischen Städten und Vororten waren ein ständiger Bezugspunkt, und die Versammlung hat am Schluss dazu eine Solidaritätserklärung verfasst. »Residenzbürgerschaft« weicht den herkömmlichen Staatsbürgerschaftsbegriff auf, lehnt jedes Abstammungsrecht ab, aber auch ein Territorialrecht, das das Bürgerrecht an den Militärdienst bindet und mithin als Mittel der Abgrenzung gegen Angehörige anderer Nationen versteht.
Mit einem so ausgeweiteten Bürgerschaftsbegriff sollen Rechte tatsächlich universell, global werden.

Die Rechte des Einzelnen

Die neoliberale Politik schränkt die klassischen politischen, bürgerlichen, sozialen und kulturellen Rechte gegenüber den Wettbewerbserfordernissen der Ökonomie zunehmend ein. Ihre Bekräftigung und Ausweitung gehört deshalb zum Grundstock einer Alternative. Man findet in verschiedenen europäischen und internationalen Grundsatzdokumenten genügend Anhaltspunkte, die man aufgreifen und weiter entwickeln kann.
Darüber hinaus aber haben die Rechte des Einzelnen, bedingt durch die Produktivkraftentwicklung und durch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, gegenüber früher zusätzliche Dimensionen gewonnen: genannt sei hier nur das Recht auf saubere Umwelt, auf Datenschutz, auf umfassende Teilhabe am Gemeinwesen, Reproduktionsrechte, das Recht auf existenzsichernde und gesellschaftlich sinnvolle Arbeit und das Recht auf armutsfestes Einkommen unabhängig davon, ob man einer Erwerbstätigkeit nachgeht oder nicht.
Ein Beitrag aus dem Genossenschaftsmilieu hat versucht, das Recht auf Teilhabe in die Welt der Arbeit zu übersetzen. Mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft verbindet sich die Regel: »Ein Mensch — eine Stimme.« Es ist antiquiert, dass unsere Gesellschaften — so unzulänglich auch immer — individuelle Teilhabe auf politischer Ebene organisieren, nicht auf betrieblicher. Die Umsetzung des Grundsatzes »Ein Mensch — eine Stimme« in den Betrieben würde bedeuten, dass alle im Betrieb Mitwirkenden das gleiche Gewicht haben hinsichtlich der Wahl von Unternehmensleitungen, der Entscheidungen über Investitionen, Produktlinien etc.
Mit der Infragestellung des Nationalstaats als vorrangige identitätsstiftende Einheit gewinnen andere Zugehörigkeiten — zu einer Region, zu einem Kulturkreis, zu einem Geschlecht, auch zu einer Religion — an Bedeutung. Das Recht auf Differenz im Sinne gleichberechtigt nebeneinander bestehender, auch auswechselbarer Identitäten, wurde betont. Identität kann nur gelebt werden, wenn die Gemeinschaften, die sie ausdrücken, als solche Rechte haben. Sie treten neben die Rechte des Einzelnen, können sie aber nicht außer Kraft setzen. Das Gleichgewicht zwischen beiden ist nicht immer einfach zu finden, es wurde vorgeschlagen, von einem »Recht der Gemeinschaften und in den Gemeinschaften« zu sprechen.

Die öffentlichen Dienste

Die öffentlichen Dienste als die gemeinsame Sache des Gemeinwesens sind heute im Wesentlichen nationalstaatlich organisiert. Sie zu verteidigen gegen Bestrebungen, sie zu privatisieren und der Profitlogik zu unterwerfen, ist ein Hauptanliegen des Sozialforums. Bei der reinen Abwehr der Kommerzialisierungswut will man aber nicht stehen bleiben, ausdrücklich abgelehnt wurde das Ansinnen, nur den alten Sozialstaat zu verteidigen.
Für eine Neudefinition der öffentlichen Dienste wurden mehrere Kriterien genannt: Das öffentliche Eigentum kann nicht nur ein staatliches sein, es muss tatsächlich ein öffentliches im Sinne einer Kontrolle durch die Belegschaften und durch die Öffentlichkeit sein. Die öffentlichen Dienste sind ja dazu da, Bedürfnisse zu erfüllen, und zwar auf einem qualitativ hoch stehenden Niveau. Staatliche Einrichtungen garantieren nicht per se ein hohes Niveau an Dienstleistungen. Die individuellen Ansprüche an sie müssen sich deshalb äußern können und in die Organisation der Dienste einfließen. Wie dies geschehen kann, ist eine Frage der Ausgestaltung von Demokratie.
Dieser Ansatz löst noch nicht das Problem, wie die heutige nationalstaatliche Verankerung der öffentlichen Dienste mit dem Recht auf Freizügigkeit und auf freie Berufswahl im europäischen Rahmen in Einklang gebracht werden kann. In Florenz wurde diese Frage nur aufgeworfen, nicht beantwortet.
Zu den öffentlichen Gütern gehören auch natürliche Ressourcen: Wasser, Luft, überhaupt intakte Umwelt, der Boden und seine Schätze. Hier stellt sich zunächst die Notwendigkeit, das herrschende System von Produktion und Konsum umzustellen, dass es umwelt- und sozialverträglich wird. Hierein gehören Fragen wie die Umstellung der Energiequellen und der Rückgang des Energieverbrauchs, die Neuordnung der Verkehrspolitik (Schonung der Umwelt und zugleich Erhöhung der Mobilität), das Recht der Bauern auf regionale Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Gütern und der Verzicht auf eine globalisierte Nahrungsmittelproduktion, die Neuregelung der Abfallwirtschaft, aber auch die Demokratisierung der Forschung und Entwicklung, die die Richtung der Produktivkraftentwicklung wesentlich bestimmt.
Auch bei den natürlichen Ressourcen stellt sich die Frage, auf welchem Niveau welche Fragen entschieden werden und wie die Rechte des Einzelnen gegen die Rechte von Gemeinschaften abgegrenzt werden.

Der Nationalstaat

Das Modell der Europäischen Union basiert auf den Nationalstaaten als souveränen Akteuren im europäischen Prozess und auf einem Regime zwischenstaatlicher Arrangements. Gegen dieses Modell, das die Bewohner der Union als Souverän entmündigt, läuft das Europäische Sozialforum Sturm (siehe dazu den Artikel von Franco Russo). Die Alternative ist nun nicht ein europäischer Nationalstaat, sondern ein noch zu definierendes Modell einer Mehr-Ebenen-Demokratie und - Repräsentation — vom Lokalen über das Nationale bis zum Europäischen. Angestrebt wird eine Föderation der Völker Europas — dabei müssen die Völker nicht identisch mit den Staatsvölkern sein. Unter dieser Überschrift gibt es mindestens drei Fragen zu lösen:
die Abgrenzung der Rechte lokaler und regionaler Gemeinschaften gegenüber der nationalen und der europäischen Ebene; in diesen Zusammenhang gehört auch das Recht auf Selbstbestimmung, das z.B. die Basken reklamieren;
die Entwicklung von Mechanismen partizipativer Demokratie auf allen Ebenen gegenüber rein repräsentativen Mechanismen; anders gesagt, mit der Umwandlung des Europaparlaments in ein wirkliches Parlament ist es nicht getan;
unsere Vorstellung von Subsidiarität: Welche Fragen sollen auf welcher Ebene entschieden werden? Mit welchen Mehrheiten und welchen Mechanismen? Und wie kann bei aller Verschiedenheit der Entwicklung garantiert werden, dass wir in Europa einheitliche Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen, die ein Lohn-, Sozial- und Umweltdumping ausschließen und eine Angleichung der Lebensverhältnisse nach oben ermöglichen? Der Vorschlag, gemeinsame Standards für die Armutsgrenze, für ein Mindesteinkommen, einen Mindestlohn, für Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu schaffen, traf auf große Zustimmung. Es wurde sogar gefordert, das Arbeitsrecht anzugleichen, und selbstverständlich ist die Forderung nach einer Harmonisierung des Steuerniveaus.
Ein europaweites hohes Niveau von Rechten realisiert sich nicht dadurch, dass man sie niederschreibt, und sei es in einer europäischen Verfassung. Man muss eine Wirtschaftspolitik betreiben, die darauf angelegt ist, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Ein solcher (achter) Themenbereich fehlte interessanterweise, doch gibt es eine Initiative, ihn einzurichten.
Wie geht es weiter? Man muss sich die Erarbeitung von Leitlinien für ein anderes Europa als einen fortschreitenden Prozess vorstellen, in dem immer wieder Zwischenergebnisse fixiert und weitere Schichten in die Debatte einbezogen werden. Der allgemeine Zeitrahmen wird von der Debatte über den EU-Verfassungsvertrag vorgegeben werden, die ja nach den französischen Präsidentschaftswahlen 2007 wieder aufgenommen werden soll. Bis dahin sollte ein akzeptabler Entwurf stehen. Die nächsten Etappen der Diskussion lehnen sich an den Vorbereitungsprozess des ESF in Athen an.

Angela Klein

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