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Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2005, Seite 22

Kongress ›Kapitalismus reloaded‹

Arbeit am Feind

Nicht gerade klein waren die Hürden, die die geneigte Zuhörerschaft nehmen musste, um zum Berliner Kongress »Kapitalismus reloaded. Imperialismus, Empire und Hegemonie« vorzustoßen.
Ein Computer allein reichte bspw. nicht, es musste schon einer der neuesten Bautypen sein, um die technisch aufwändige und ästhetisch anspruchsvolle Homepage (»www.kapitalismus-reloaded.de«) laden zu können, auf der alle wichtigen Vorabinformationen (das umfangreiche Programm, Texte, Bilder und andere Infos) zu finden waren. Hatte man dies entweder geschafft oder gelassen ignoriert, hatte man es schließlich mit dem für die deutsche Linke ebenfalls eher ungewöhnlichen Sprachproblem zu tun, denn bereits auf dem Eröffnungsplenum wurde mehr englisch als deutsch gesprochen.
Beeindruckend war deswegen zuallererst, wie wenige dies abgeschreckt hat. Immerhin 700 Menschen kamen zur Humboldt-Uni und zur TU, um sich politisch- theoretische Diskussionen auf zum Teil hohem Niveau anzuhören und mitzudiskutieren.
Doch nicht nur die Zahl der Besucher war beeindruckend, sondern auch ihre Zusammensetzung. Hier war so ziemlich alles vertreten: Altlinke »68er«, mittelalte und ganz junge Gesichter, männlich wie weiblich, Leute im Anzug und Leute mit Dreadlocks, auffallend viele Raucher, die rauchten, wo sie standen und saßen, und noch viel mehr, die das offensichtlich gar nicht gut fanden.
Und sie alle diskutierten über die großen Themen unserer Zeit, allen voran über »den Imperialismus«: Was dieser Imperialismus eigentlich sei und inwiefern sich der neue vom alten unterscheidet (den die einen noch aus längst vergangenen SDS-Zirkeln kennen und mit Vietnam verbinden, während die anderen unweigerlich an Schröder und den Irak denken müssen); ob man nicht eher vom »Empire« reden sollte, wenn man das Neue dieses Imperialismus zu fassen versuche; wie denn das Verhältnis vom führenden zum scheinbar untergeordneten Imperialismus, das Verhältnis von den USA zu Europa oder zu Asien zu verstehen ist; was die neuen Kriege mit dem neuen Kapitalismus zu tun haben; was das ganze eigentlich mit den Subjekten und ihren Bedürfnissen macht; und wie man sich gegen diesen ganzen Dreck wirksam zur Wehr setzen kann.
Schaute man genauer hin, so fielen natürlich zum Teil empfindliche Leerstellen auf. Vor allem fehlten politische und intellektuelle Vertreter Ostdeutschlands und der zumeist dort verwurzelten »hegemonialen« linken Partei. Die Frauen waren auf den Podien zwar präsent, aber deutlich unterrepräsentiert. Die französischsprachige Welt fehlte ebenso wie die osteuropäische. Und es fehlten die meisten derjenigen Meinungsführer, die in den späten 80ern und während der 90er Jahre die deutsche Linke prägten. Auch wenn Thomas Seibert (Fantomas) nicht zu Unrecht vermerkte, dass ihn freue, hier so viele alte Weggenossen zu treffen, und dass dies schon ein Gut an sich sei, so machte sich in Berlin nichtsdestotrotz eine neue Generation bemerkbar, politisch wie theoretisch gleichermaßen aufgeklärt wie interessiert und bemerkenswert radikal.
Standen im quantitativen Vordergrund des Publikumsinteresses vor allem solche Workshops und Veranstaltungen, in denen Vertreter aus Venezuela oder Mexiko von den sozialen Kämpfen aus ihren Ländern und Regionen berichteten oder der afrikanische Wirtschaftswissenschaftler Yash Tandon von den gescheiterten WTO-Verhandlungen in Cancún, so ragten qualitativ vor allem die Beiträge der zumeist englischsprachigen Intellektuellen heraus. Die spezifische Mischung aus gelehrtem Inhalt und politisch zupackender Form, mit der ein Alex Callinicos (Großbritannien) die Grundlagen der marxistischen Imperialismustheorie referiert und zum Kampf gegen den weltweiten Gegner aufruft; mit der ein Peter Gowan (Großbritannien) verdeutlicht, warum das kapitalistische Marktsystem von politisch-staatlichen Formen der Durchsetzung und Regulierung weder in der Praxis noch in der Theorie zu trennen sind; mit der ein Giovanni Arrighi (USA) darauf hinweist, dass zwei Drittel der weltweiten Ungleichheiten noch immer zwischen Norden und Süden bestehen und »nur« ein Drittel innerhalb der Metropolenländer — all das sucht auf der deutschen Linken noch nach vergleichbarem.
Und als der Holländer Kees van der Pijl beim Eröffnungspodium aus dem Publikum heraus die Frage stellte, warum hier denn nicht mehr über Deutschland geredet werde, legte er den Finger in eine der entscheidenden Wunden des Kongresses. Der u.a. angesprochene Frank Deppe wusste nicht viel zu antworten, er hatte sich in seinem Beitrag eher akademisch gegeben und war im Kontrast zu Callinicos und Arrighi etwas blass geblieben.
Dass Deppe auch anders kann, zeigte er am zweiten Tag in einem Workshop mit dem in Berlin lebenden, aus dem Libanon kommenden und in Paris Politikwissenschaft lehrenden Gilbert Achcar. Verglich Achcar das neue imperiale Weltsystem mit dem mittelalterlichen Feudalsystem von Lehnsherrn und Vasallen und betonte am Beispiel des militärisch- industriellen Komplexes, dass von einer wirklichen Herausforderung der US-Schutzmacht durch einen vermeintlichen Euroimperialismus nicht die Rede sein könne, insistierte Deppe darauf, dass nichtsdestotrotz von einem solchen euroimperialistischen Projekt als realer politischer Tendenzen gesprochen werden könne. Was er hier über die Rolle der »rot-grünen« Außenpolitik bspw. in der Türkeifrage und die Bedeutung der vorerst gescheiterten europäischen Verfassung zu erzählen wusste, war schon eine Diskussion wert. Auch dies nicht untypisch: Je tiefer man in kleiner Runde ins Detail kam, desto stärker der Aufklärungs- und Lerneffekt.
Nicht nur analytische, auch politische Differenzen — bspw. in der Haltung zum bewaffneten Widerstand im Irak oder in der Frage, ob es zu einem Kampf »des Südens« gegen »den Norden« kommen wird oder kommen sollte — wurden immer wieder sichtbar, arteten aber niemals in verbale Pöbeleien aus.
Der gelegentlich auftretende Unmut war dabei nicht selten den Widersprüchen des Kongresskonzeptes geschuldet. Deutlich wurde, dass es unter den diversen, den Kongress tragenden Strömungen und Fraktionen (neben radikal linken Zeitschriftenprojekten von AK und Das Argument bis Sozialismus und SoZ, und linken Gruppen wie Attac, Linksruck oder »Kritik und Praxis« auch die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung, die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung oder die grüne Heinrich-Böll-Stiftung) verschiedene Herangehensweisen gab. Wollten die einen mehr Analyse bieten und der Frage nachgehen, wie der Feind eigentlich beschaffen ist, den man an anderem Ort, zu anderer Zeit bekämpfen will, drängten andere auf politische Aufbruchssignale hier und jetzt.
Anstatt jedoch diese offensichtlich bereits im Vorfeld deutlich unterschiedenen Bedürfnisse und Konzeptionen in unterschiedlichen Diskussionsforen und -formen sich entfalten zu lassen, packte man sie allzu häufig auf ein gemeinsames Podium. Dass sich da manches widersprechen, gelegentlich sogar blockieren musste, hätte vorausgesehen werden können. Der Kongress machte jedoch, alles in allem, den Eindruck, dass es sich hierbei mehr um Wachstumsschwierigkeiten handelt als um tiefer liegende Blockaden.

Christoph Jünke

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