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SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 01.10.1998, Seite 1

Aufatmen



Neue Chancen fuer eine neue Linke

In dreifacher Hinsicht bietet das Wahlergebnis vom 27.September Grund zur Freude: die Kohl-Regierung ist abgewaehlt; aller Voraussicht nach gibt es eine "rot"-gruene Regierung ("Rot"-Gruen hat eine satte Mehrheit von 21 Sitzen im Bundestag); die PDS ist wieder im Bundestag, und zwar in Fraktionsstaerke. Das ist eine drastische, auf den ersten Blick ueberraschende, Verschiebung im politischen Gefuege der BRD, die sich besser erklaert, wenn man genauer hinschaut:
1. Das wichtigste Ergebnis ist die Abwahl der Kohl-Regierung.Die extreme Laehmung der linken Kraefte, die diese Regierung bewirkt hat, ist damit aufgebrochen. Es gibt Spielraum fuer neue politische und gesellschaftliche Entwicklungen, freilich haengen sie davon ab, ob es entschlossene politische Kraefte gibt, die in dieser Richtung wirken.
Nach bisher vorliegenden Wahlanalysen scheint es, dass die CDU vor allem an zwei Fronten verloren hat: im Osten -- das war die lang faellige Antwort auf die "bluehenden Landschaften"; und in ihren Hochburgen, vor allem unter den Angestellten in den Grossstaedten, die zur SPD abgewandert sind.
2. Das Wahlergebnis ist besser als die Stimmung im Land.
Es ist das Ergebnis einer "Schnauze-voll"-Stimmung, nicht des gesellschaftlichen Aufbruchs fuer ein neues Reformprojekt. Hinter der neuen Regierung steht keine neue gesellschaftliche Vision, sondern sehr unterschiedliche Erwartungen einer zersplitterten Waehlerklientel. Zu den Erwartungen der SPD-WaehlerInnen gehoert, dass die Politik "sozial gerechter" und dass der soziale Rueckschritt aufgehalten wird. Wie dies jedoch erreicht werden soll, ob ueber eine Umkehr der Umverteilung des Reichtums oder ueber die Bedienung der Standortinteressen der Wirtschaft, darueber gibt es unter ihnen keine gemeinsame Sichtweise. Lafontaine hat in der Wahlnacht darauf hingewiesen, dass die Waehlerschaft der SPD sogar hinsichtlich der Koalitionsfrage gespalten ist.
3. Die Krise der christdemokratischen Volkspartei wird offen werden.Damit holt sie nur eine Entwicklung nach, die in anderen europaeischen Laendern schon seit laengerem im Gang ist: die Aufloesung des Typus der Volkspartei unter den Bedingungen einer anhaltenden kapitalistischen Krise. Dass die CDU so hoch verloren hat, liegt in nicht geringem Umfang an einer falschen Personalentscheidung Kohls: ein Kanzlerkandidat Schaeuble waere dem diffusen Wunsch nach Veraenderung entgegengekommen. Die Verbannung der Union in die Opposition wird die offene Auseinandersetzung um die Richtung, die sie kuenftig einschlagen will, foerdern.
4. Die Krise der Union oeffnet den Weg fuer einen Umbruch der gesamten rechten Parteienlandschaft.
Die Parteien der extremen Rechten sind zwar nicht in den Bundestag und auch nicht in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern eingezogen; ihre diversen Gruppierungen addieren sich jedoch auf 4--5% Zweitstimmen bei der Bundestagswahl, und in den Landtag von Schwerin sind nur deshalb nicht eingezogen, weil sie getrennt kandidiert haben. Die FDP in der Opposition bietet sich grundsaetzlich fuer eine nationalliberale Wende an; allerdings wird auch das nicht ohne Konflikte abgehen.
5. Auf die zentrale Herausforderung: "Welche Antwort auf die neoliberale Offensive?" gibt "Rot"-Gruen eine sehr unklare Antwort.
Man wird erwarten koennen, dass die neue Regierung eine Konsenspolitik im Sinne einer Konzertierten Aktion mit Gewerkschaften und Unternehmern betreibt; man wird nicht erwarten koennen, dass sie die Schere zwischen arm und reich schliessen wird.
Unter den gegebenen Bedingungen werden SPD und Gruene das Wohlwollen der Wirtschaft zum Massstab ihres Handelns machen. Diese fordert vor allem "Stabilitaet" und die Fortsetzung der "Standort-Deutschland-Politik". Soziale Sicherheit wird dabei auf der Strecke bleiben. Das wird in beiden Parteien zu Konflikten fuehren und die politisch-gesellschaftliche Krise verschaerfen; die Regierung wird nicht in der Lage sein, sie zu beheben.
6. Die Kraefte fuer einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise muessen von einer linken Opposition kommen -- vor allem einer gesellschaftlichen Opposition --, die sich den Handlungszwaengen der Regierung, vor allem ihrer Wirtschaftshoerigkeit, nicht unterwirft.
Die wichtigste Rolle kommt dabei den Gewerkschaften zu. Sie haben es in der Hand, ob ihnen die Loyalitaet zu "ihrer" Regierung wichtiger ist als die Lebenssituation ihrer Mitglieder und der vielen Menschen, die erwerbslos oder in ungeschuetzter Beschaeftigung sind. Sie haben es in der Hand, ob die grosse Zahl jener, deren Lebensstandard und Existenzsicherheit unter der Kohl-Regierung gesunken ist, neue Hoffnung schoepfen kann, oder noch mehr frustriert wird.
7. Eine "rot"-gruene Regierung ist fuer die Linke eine Chance,aber nur, wenn sie den entstandenen Spielraum nutzt, eine neue soziale Protestbewegung aufzubauen. Dazu reicht es nicht, die SPD an ihre Wahlversprechen zu erinnern -- so viele Versprechen hat sie im Wahlkampf wohlweislich gar nicht erst gemacht. Wichtig ist, dass der Wahlsieg uebersetzt wird in die Reorganisation und den Wiederaufbau einer gesellschaftlichen Bewegung gegen die neoliberale Offensive und fuer eine neue Umverteilung von oben nach unten.
Jetzt muessen die Forderungen der sozialen Bewegungen eingeklagt werden: massive Arbeitszeitverkuerzung mit Personalausgleich und ohne Lohneinbussen; die Ruecknahme der sozialen Kuerzungen; doppelte Staatsbuergerschaft und Wahlrecht fuer Auslaender usw. Eine neue Linke muss sich herausbilden, und die erste Scheidelinie wird das angekuendigte Buendnis fuer Arbeit sein: hier erweist sich, wer auf die Zusammenarbeit mit den Unternehmern und wer auf die Staerkung einer neuen gesellschaftlichen Bewegung orientiert.
8. Die PDS kann fuer diesen Prozess ein Kristallisationspol sein-- wenn sie ihre Oppositionsrolle nicht nur im Parlament verwirklicht. Aber auch sie hat den Spagat zu ueberwinden zwischen einer moeglichen Koalition mit der SPD im Landtag von Schwerin und der Opposition gegen die SPD im 14.Deutschen Bundestag.
Angela Klein


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