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SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 01.10.1998, Seite 12

Eine neue Protestbewegung



Der russische Finanzkrach und die Bergleute

"Wenn wir kein Geld haben, kann der Dollarpreis zehnmal steigen -- das macht fuer uns keinen Unterschied!" Ljudmila Tjulenko sitzt vor einer Notunterkunft vor dem Regierungsgebaeude der Russischen Foederation in Moskau. Ihre Sicht vom Zusammenbruch des russischen Finanzsystems ist ziemlich anders als die der neuen Moskauer Mittelklasse, die die Banken gestuermt hat, um ihre Ersparnisse in Sicherheit zu bringen. Sie ist fuer die Mehrzahl der russischen Bevoelkerung repraesentativer. Laut Umfragen ist naemlich nur ein Viertel ueberhaupt im Besitz von Ersparnissen, die floeten gehen koennen. Menschen mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen in Rubel -- vor der Krise war es etwa 180 US-Dollar wert, danach nur noch die Haelfte -- koennen sich westliche Konsumgueter nicht leisten.
Dass die russische Wirtschaft noch nicht ganz zusammengebrochen ist, liegt daran, dass 70 0er Transaktionen zwischen den Unternehmen in Naturalien vorgenommen werden. Der Barter-Tausch ist frueher ohne Rubel ausgekommen und tut dies auch heute. Daneben etabliert sich mehr und mehr der US- Dollar als Parallelwaehrung -- angeblich werden 20 Milliarden US-Dollar in Sparstruempfen gehortet und auch im Alltagsgeschaeft eingesetzt. Solche Mechanismen helfen zwar zum Ueberleben, aber darauf laesst sich keine stabile Oekonomie aufbauen, die z.B. die regelmaessige Zahlung von Loehnen und Renten sichern koennte.Ljudmila Tjulenko hat es besonders schwer, sie kommt aus Ostsibirien. Seit drei Jahren ist in diese Gegend kein Geld mehr gekommen, um die Arbeiter in den Goldminen zu bezahlen. Die Bergleute leben von Beeren und Pilzen aus dem Wald und Fischen aus den Fluessen .Der nackten Subsistenz ueberdruessig, hat sich Ljudmila in die russische Hauptstadt aufgemacht, um den Forderungen der Bergleute in einem Protestlager vor dem "Weissen Haus" Nachdruck zu verleihen. Sie ist nicht die einzige, die ueber das Dilemma der Regierung spottet."Die Bergleute hatten ihre Finanzkrise schon viel frueher", sagt Viktor Semjonow, fuehrender Vertreter der Bergleute aus dem Kohlerevier von Workuta und Wortfuehrer im Camp. "Deswegen sind wir schon drei Monate hier." Massnahmen wie die Entlassung des Premierministers Kirijenko am 23.August lassen ihn kalt.Dabei waren die Bergleute noch Augenzeugen seines Abgangs geworden: Nach der Entlassung war Kirijenko in Begleitung seines Stellvertreters, Boris Nemzow, spaet am Abend mit einer Flasche Wodka unterm Arm in das Camp gekommen und wollte zu den Bergleuten sprechen. Nemzow erklaerte, er wolle sich ihrem Protest anschliessen. Aber die Bergleute hatten unfreundlich reagiert -- sie erinnerten sich, dass Nemzow sie in den ersten Augusttagen wegen ihrer Eisenbahnblockaden verhaften lassen wollte -- und die Flasche Wodka war nach dem Abgang der beiden zerschlagen worden.Zum designierten Nachfolger Tschernomyrdin meint Semjonow lakonisch: "Er hat die Probleme geschaffen, die wir jetzt haben." Tschernomyrdin ist der Kandidat der sog. "Oligarchen", der maechtigen Industriemagnaten; waehrend seiner fuenfjaehrigen Amtszeit haben sie durch Insider-Privatisierungdeals unkontrolliert ungeheure Macht und Reichtum akkumulieren koennen. Sie waren es auch, die auf Jelzin Druck gemacht haben, dass er Kirijenko fallen laesst, weil dieser Konkursverfahren gegen Unternehmen mit hohen Steuerschulden eingeleitet hatte.Die Sicht, dass der finanzielle Zusammenbruch Russlands fuer die Arbeiterklasse keine Folgen haben wird, ist weit verbreitet, aber falsch. ArbeiterInnen und RentnerInnen werden am meisten unter der Inflation zu leiden haben, die jetzt einsetzt. Das wird in den Betrieben fuer neuen Unmut sorgen und bestaerkt die Organisatoren des Protestcamps in ihrer Suche nach aktiver Selbsthilfe. Der Vorsitzende der Unabhaengigen Bergarbeitergewerkschaft im sibirischen Belowo erklaert: "Wir haben ein allrussisches Streikkomitee gebildet. Wir wollen eine politisch-soziale Bewegung aufbauen."Die Bergleute fordern den Ruecktritt Jelzins. åber die Monate hinweg hat sich die Stimmung politisiert, die Forderungen sind radikaler geworden: "Alle Macht den Streikkomitees!", ist auf einem Transparent zu lesen.
Wie lange soll das Camp noch laufen? "Bis wir gewinnen", sagt Semjonow. "Und wir sind nicht wegen Jelzin hierhergekommen. Wir sind gekommen wegen des ganzen Systems."Die Leute im Camp sind nicht allein mit ihrem Protest. Laut einer Meldung der Financial Times vom 4.September haben die Bergleute aus dem Kusbass- Becken erklaert, sie planten eine neue Blockade von Eisenbahnlinien, vor allem der Transsibirischen, um ihre ausstehenden Loehne einzufordern.*1989, als die Bergarbeiter mit ihren periodischen Streiks begannen, haben sie nur fuer sich selbst gekaempft, nach der Devise: "Wir kaempfen, deswegen haben wir auch ein Recht auf..." Von Solidaritaet mit anderen betroffenen Bevoelkerungsschichten war wenig zu spueren.Seit Juni, seit dem Beginn des Protestcamps, hat sich das geaendert. Ihre Ohren sind fuer die Probleme anderer Schichten der Arbeiterklasse offener geworden. Das Camp hat sich zu einem Kristallisationspunkt entwickelt. Im Juli hat die Campzeitung einen sehr politischen Aufruf an die Bevoelkerung veroeffentlicht, der von Bergleuten, aber auch von anderen Beschaeftigten, selbst von LehrerInnen, unterschrieben wurde. Den ganzen Sommer ueber sind Beschaeftigte aus anderen Regionen und anderen Betrieben (z.B. dem Autowerk Togliatti) ins Camp gekommen.
Hier gaert etwas, wird Neues ausgebruetet, eine allererste Keimform einer neuen russischen Arbeiterbewegung, die untereinander Solidaritaet uebt und politisch denkt. Das ist ein aeusserst wichtiger Prozess, wenn er auch zahlenmaessig nur sehr wenige umfasst. Die Aktion geht ueber den rein symbolischen Charakter hinaus und hat eine erste organisierende Wirkung.
Derzeit diskutieren die Bergleute ueber die Schaffung eines gemeinsamen Streikkomitees, das die verschiedenen Kaempfe der arbeitenden Bevoelkerung zusammenfuehren kann. Gegenueber vorher ist das ein grosser Fortschritt.
Renfrey Clark/Eric Laurent
* [Fuer den 7.Oktober haben die Bergarbeitergewerkschaften zu einem landesweiten Protesttag aufgerufen, an dem Praesident Jelzin zum Ruecktritt gezwungen werden soll. Dem Aufruf haben sich auch andere Gewerkschaften angeschlossen. -- Ende Juli betrug die Summe der nicht ausgezahlten Loehne 70 Milliarden Rubel, ein Betrag, der staendig waechst.]


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