Artikel |
Öcalan ist in Italien", verkündete die
Schlagzeile der prokurdischen Tageszeitung Özgür Politika schon am
Morgen des 29.Oktober - gut zwei Wochen zu früh. Zu diesem Zeitpunkt weilte
der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) noch in Ruáland, wo sich die
Abgeordneten der Duma um Asyl für ihn bemühten.
Als Öcalan schlieálich am Abend des 12.November tatsächlich in Rom
eintraf, schlug die Nachricht von seiner vermeintlichen Verhaftung wie eine Bombe ein.
Doch was der Weltöffentlichkeit als das unerwartete Auftauchen eines
gescheiterten, auf verzweifelter Flucht nach vorne befindlichen Guerilla-
Anführers erschien, ist in Wirklichkeit der vorläufige Höhepunkt
einer von langer Hand vorbereiteten diplomatischen Offensive der PKK.
Nicht nur in ihren internen Publikationen diskutiert die PKK seit mehr als einem Jahr
offen, daá ein Sieg über die türkische Unterdrückung nicht allein
auf militärischem Wege zu erringen sei. Nach 15 Jahren Krieg ist die kurdische
Bevölkerung ausgezehrt.
Das türkische Militär hat weite Strecken des Landes in einen verbrannten
und verminten Friedhof verwandelt. Unzählige Familien haben ein oder mehrere
Angehörige verloren, und wer überlebt hat, befindet sich heute auf der
Flucht, im Gefängnis oder in den Bergen bei der Guerilla.
Anders, als die türkischen Medien glauben machen wollen, steht die PKK
dennoch keineswegs vor der militärischen Niederlage. Aber die
Führungsebene der Partei hat erkannt, daá ein Krieg, der zwar weiterhin
führbar wäre, deswegen noch lange nicht gewonnen werden kann. Erst
recht nicht, wenn seine unnötige Verlängerung weiter auf dem
Rücken einer Bevölkerung ausgetragen werden muá, zu deren Befreiung
er eigentlich einmal begonnen wurde.
Daher betont die PKK seit geraumer Zeit immer wieder ihre Bereitschaft, einer
politischen Lösung den Vorzug zu geben. Dreimal hat sie einseitig einen
Waffenstillstand verkündet, zweimal scheiterte dieser in erster Linie an der
Uneinsichtigkeit der türkischen Armeeführung.
Seit dem 1.9. gilt der dritte einseitig ausgerufene Waffenstillstand, und diesmal scheint
es, daá sich die kurdische Guerilla nicht mit einem schleichenden Scheitern abfinden,
sondern die politische Lösung mit Hilfe einer diplomatischen Offensive
erzwingen will.
Während der letzten Jahre hat die kurdische Befreiungsbewegung in
mühsamer Kleinarbeit das Netz ihrer internationalen Kontakte erweitert. Von
Madrid bis Moskau, von Helsinki bis nach Athen ist es gelungen, Beziehungen
auszubauen und einfluáreiche Verbündete auf dem Weg zu einer politischen
Lösung der kurdischen Frage zu finden.
Doch obgleich die Forderung nach einer Beilegung des Konflikts immer häufiger
auch aus den Regierungsparteien verschiedener europäischer Staaten, bis hin
zum Europaparlament erhoben wird, setzt die türkische Seite mit unverminderter
Härte auf die militärische Karte. Dies fällt um so leichter, als die
europäischen Forderungen bisher auf der Ebene verbaler Bekundungen
geblieben sind.
Als Militär und Regierung der Türkei am 30.9. ein weiteres Mal zum sog.
endgültigen Schlag gegen die PKK ausholten, mit einem Groáaufgebiet die
Grenze zum Irak überschritten und Syrien mit einem Militärschlag
drohten, ging die PKK in die diplomatische Offensive.
Obgleich die türkische Aggression gegen Damaskus ins Leere zu laufen drohte,
da die von der Türkei erhoffte Unterstützung der beiden
Hauptverbündeten Israel und USA ausblieb; obwohl die Verhandlungen um eine
Entschärfung des Konflikts noch in vollem Gange waren und trotz der Tatsache,
daá die Bedrohung zu keinem Zeitpunkt ein Ausmaá erreicht hatte, das eine
unbedingte Flucht Öcalans aus Damaskus erfordert hätte, verlieá
Öcalan zwei Wochen nach Ausbruch der Krise Syrien und machte sich auf den
Weg nach Europa.
Dort liefen die Verhandlungen um eine etwaige Aufnahme des PKK-Chefs bereits auf
Hochtouren. In Ruáland, der ersten Etappe Öcalans, konnte man sich der breiten
Unterstützung der Duma sicher sein. Diese forderte die russische Regierung mit
einer Mehrheit von 298 Stimmen auf, Öcalan einen politischen Aufenthaltsstatus
zu gewähren, scheiterte jedoch an der Weigerung Primakows.
Sicherheitshalber wurden zeitgleich in Italien und anderen europäischen
Ländern Aufnahmeverhandlungen geführt. Dies war auch der
Türkei bekannt. Am 12.11. traf Öcalan in Rom ein und beantragte, einen
politischen Status in Italien zuerkannt zu bekommen.
Während die Türkei Italien mit Drohungen überschüttet,
bombardiert die türkische Luftwaffe die kurdische Region Dersim. Im ganzen
Land finden Massenverhaftungen statt. Über 700 Menschen, vorwiegend
Mitglieder der Partei HADEP, wurden in den vergangenen Tagen
festgenommen.
Aufgehetzt von Regierung und Medien begehen türkische Faschisten Lynchjustiz
in den Straáen. Im Gefängnis nahmen Anhänger der Grauen Wölfe
einen italienischen Mithäftling als Geisel und folterten ihn schwer.
Mit seiner Präsenz in Europa wirft der PKK-Vorsitzende die Frage
internationalen Handelns im Kurdistankonflikt neu auf. Jetzt liegt es an den
Regierungen Europas, ob eine politische Lösung gewollt ist. Wer an einer
friedlichen Beilegung des Krieges aufrichtig interessiert ist, muá die durch die
diplomatische Offensive der kurdischen Seite entstandene Dynamik nutzen und
nunmehr auch von der Türkei ein deutliches Signal für die Aufnahme von
Friedensgesprächen fordern.
Die Regierungen Italiens und auch der BRD haben sich in diesem Sinne
geäuáert. Nun gilt es, die Initiative zu ergreifen und parallel Delegationen zu
Öcalan und in die Türkei zu entsenden. Diese müssen im
Gespräch mit dem PKK-Vorsitzenden dessen Bereitschaft zu einem ernsthaften
Friedensdialog ausloten und in Ankara das erhebliche Gewicht der deutsch-
türkischen Beziehungen zugunsten eines Friedensdialogs in die Waagschale
werfen.
Noch immer wartet die vielfach geforderte internationale Konferenz "Frieden in
Kurdistan - Demokratie in der Türkei" auf ihre Realisierung.
Knut Rauchfuss