Artikel SoZ


SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 26.11.1998, Seite 1

Frieden in Kurdistan jetzt!

Der PKK-Vorsitzende setzt auf die politische Aktion

Öcalan ist in Italien", verkündete die Schlagzeile der prokurdischen Tageszeitung Özgür Politika schon am Morgen des 29.Oktober - gut zwei Wochen zu früh. Zu diesem Zeitpunkt weilte der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) noch in Ruáland, wo sich die Abgeordneten der Duma um Asyl für ihn bemühten.
  Als Öcalan schlieálich am Abend des 12.November tatsächlich in Rom eintraf, schlug die Nachricht von seiner vermeintlichen Verhaftung wie eine Bombe ein. Doch was der Weltöffentlichkeit als das unerwartete Auftauchen eines gescheiterten, auf verzweifelter Flucht nach vorne befindlichen Guerilla- Anführers erschien, ist in Wirklichkeit der vorläufige Höhepunkt einer von langer Hand vorbereiteten diplomatischen Offensive der PKK.
  Nicht nur in ihren internen Publikationen diskutiert die PKK seit mehr als einem Jahr offen, daá ein Sieg über die türkische Unterdrückung nicht allein auf militärischem Wege zu erringen sei. Nach 15 Jahren Krieg ist die kurdische Bevölkerung ausgezehrt.
  Das türkische Militär hat weite Strecken des Landes in einen verbrannten und verminten Friedhof verwandelt. Unzählige Familien haben ein oder mehrere Angehörige verloren, und wer überlebt hat, befindet sich heute auf der Flucht, im Gefängnis oder in den Bergen bei der Guerilla.
  Anders, als die türkischen Medien glauben machen wollen, steht die PKK dennoch keineswegs vor der militärischen Niederlage. Aber die Führungsebene der Partei hat erkannt, daá ein Krieg, der zwar weiterhin führbar wäre, deswegen noch lange nicht gewonnen werden kann. Erst recht nicht, wenn seine unnötige Verlängerung weiter auf dem Rücken einer Bevölkerung ausgetragen werden muá, zu deren Befreiung er eigentlich einmal begonnen wurde.
  Daher betont die PKK seit geraumer Zeit immer wieder ihre Bereitschaft, einer politischen Lösung den Vorzug zu geben. Dreimal hat sie einseitig einen Waffenstillstand verkündet, zweimal scheiterte dieser in erster Linie an der Uneinsichtigkeit der türkischen Armeeführung.
  Seit dem 1.9. gilt der dritte einseitig ausgerufene Waffenstillstand, und diesmal scheint es, daá sich die kurdische Guerilla nicht mit einem schleichenden Scheitern abfinden, sondern die politische Lösung mit Hilfe einer diplomatischen Offensive erzwingen will.
  Während der letzten Jahre hat die kurdische Befreiungsbewegung in mühsamer Kleinarbeit das Netz ihrer internationalen Kontakte erweitert. Von Madrid bis Moskau, von Helsinki bis nach Athen ist es gelungen, Beziehungen auszubauen und einfluáreiche Verbündete auf dem Weg zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage zu finden.
  Doch obgleich die Forderung nach einer Beilegung des Konflikts immer häufiger auch aus den Regierungsparteien verschiedener europäischer Staaten, bis hin zum Europaparlament erhoben wird, setzt die türkische Seite mit unverminderter Härte auf die militärische Karte. Dies fällt um so leichter, als die europäischen Forderungen bisher auf der Ebene verbaler Bekundungen geblieben sind.
  Als Militär und Regierung der Türkei am 30.9. ein weiteres Mal zum sog. endgültigen Schlag gegen die PKK ausholten, mit einem Groáaufgebiet die Grenze zum Irak überschritten und Syrien mit einem Militärschlag drohten, ging die PKK in die diplomatische Offensive.
  Obgleich die türkische Aggression gegen Damaskus ins Leere zu laufen drohte, da die von der Türkei erhoffte Unterstützung der beiden Hauptverbündeten Israel und USA ausblieb; obwohl die Verhandlungen um eine Entschärfung des Konflikts noch in vollem Gange waren und trotz der Tatsache, daá die Bedrohung zu keinem Zeitpunkt ein Ausmaá erreicht hatte, das eine unbedingte Flucht Öcalans aus Damaskus erfordert hätte, verlieá Öcalan zwei Wochen nach Ausbruch der Krise Syrien und machte sich auf den Weg nach Europa.
  Dort liefen die Verhandlungen um eine etwaige Aufnahme des PKK-Chefs bereits auf Hochtouren. In Ruáland, der ersten Etappe Öcalans, konnte man sich der breiten Unterstützung der Duma sicher sein. Diese forderte die russische Regierung mit einer Mehrheit von 298 Stimmen auf, Öcalan einen politischen Aufenthaltsstatus zu gewähren, scheiterte jedoch an der Weigerung Primakows.
  Sicherheitshalber wurden zeitgleich in Italien und anderen europäischen Ländern Aufnahmeverhandlungen geführt. Dies war auch der Türkei bekannt. Am 12.11. traf Öcalan in Rom ein und beantragte, einen politischen Status in Italien zuerkannt zu bekommen.
  Während die Türkei Italien mit Drohungen überschüttet, bombardiert die türkische Luftwaffe die kurdische Region Dersim. Im ganzen Land finden Massenverhaftungen statt. Über 700 Menschen, vorwiegend Mitglieder der Partei HADEP, wurden in den vergangenen Tagen festgenommen.
  Aufgehetzt von Regierung und Medien begehen türkische Faschisten Lynchjustiz in den Straáen. Im Gefängnis nahmen Anhänger der Grauen Wölfe einen italienischen Mithäftling als Geisel und folterten ihn schwer.
  Mit seiner Präsenz in Europa wirft der PKK-Vorsitzende die Frage internationalen Handelns im Kurdistankonflikt neu auf. Jetzt liegt es an den Regierungen Europas, ob eine politische Lösung gewollt ist. Wer an einer friedlichen Beilegung des Krieges aufrichtig interessiert ist, muá die durch die diplomatische Offensive der kurdischen Seite entstandene Dynamik nutzen und nunmehr auch von der Türkei ein deutliches Signal für die Aufnahme von Friedensgesprächen fordern.
  Die Regierungen Italiens und auch der BRD haben sich in diesem Sinne geäuáert. Nun gilt es, die Initiative zu ergreifen und parallel Delegationen zu Öcalan und in die Türkei zu entsenden. Diese müssen im Gespräch mit dem PKK-Vorsitzenden dessen Bereitschaft zu einem ernsthaften Friedensdialog ausloten und in Ankara das erhebliche Gewicht der deutsch- türkischen Beziehungen zugunsten eines Friedensdialogs in die Waagschale werfen.
  Noch immer wartet die vielfach geforderte internationale Konferenz "Frieden in Kurdistan - Demokratie in der Türkei" auf ihre Realisierung.
  Knut Rauchfuss
 


zum Anfang