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Erbarmen, die Hessen kommen - das muß wohl mancher Delegierte auf dem
4.Gewerkschaftstag der IG Medien gedacht haben. Denn die hessischen
TeilnehmerInnen haben die laufenden Diskussionen auf weiten Strecken nicht nur
geführt, sondern ihre Schwerpunkte auch maágeblich mitbestimmt.
[...]
Der Kongreß wurde mit einem abwechslungsreichen
politischen und kulturellen Programm eröffnet. Der Vorsitzende der IG Medien,
Detlef Hensche, [Ö] bezeichnete die Teilnahme der DGB-Gewerkschaften an
einem "Bündnis für Arbeit" zwar als
"unausweichlich", wollte diese allerdings an bestimmte Bedingungen
geknüpft wissen. Selbstverständlich wäre der Gesetzgeber - also
der Bundestag - gefordert, seinen Teil zur Veränderung beizutragen; bspw.
durch Rücknahme der "Reformen" beim
Kündigungssschutzgesetz oder durch Umlagefinanzierung bei der
Berufsausbildung.
In der Tarifpolitik bekannte sich Detlef Hensche zu den Niederlagen der letzten Jahre.
Die Taktik der Schwerpunktstreiks sei an ihre Grenzen gestoáen. Ohne breite
Arbeitskämpfe in möglichst vielen Betrieben seien die bestehenden
Tarifverträge kaum zu halten, geschweige denn neue Forderungen
durchzusetzen. Seine pauschale Aussage: "Wenn sich die Unternehmer in die
Betriebe zurückziehen, müssen wir ihnen folgen", also nach
Haustarifverträgen, wurde von mehreren Delegierten kritisiertÖ
Firmentarifverträge seien vielleicht für Groábetriebe - wie bspw. die
Zeitungsverlage - eine Alternative zum Flächentarifvertrag. Doch welche
Belegschaft von kleinen und mittleren Unternehmen habe die Kraft, die tariflichen
Rechte und Leistungen in den "eigenen vier Wänden" zu
verteidigen?
Der mehr als einjährige Streik der Beschäftigten von Schilder-Warweg in
Bielefeld zeige doch deutlich die Grenzen betrieblicher Tarifkämpfe auf: sowohl
finanziell, wenn es um die zeitliche Ausdehnung des Arbeitskampfes gehe, als auch
personell, wenn ein Arbeitgeber knochenhart bleibe und sich partout auf keinen
Kompromiá einlassen wolle.
Für viele Beschäftigte gebe es keine wirkliche Alternative zum
Flächentarifvertrag. Deshalb müsse die IG Medien, müáten sich die
leitenden Gremien auf allen Ebenen dazu durchringen, für sich selbst
festzulegen: Bis hierher und nicht weiter! Die IG Medien werde, anders als bisher, die
bestehenden Tarifverträge mit aller Kraft verteidigen!
Gegen diese kritische Einschätzung der tarifpolitischen Orientierung richteten
sich anschlieáend zahlreiche Diskussionsbeiträge. Vor allem manche Vertreter
aus groáen Unternehmen - auch aus Hessen - unterstrichen, daá auch für die
Zeitungsverlage keine wirkliche Alternative zum Flächentarifvertrag
bestehe.
Auch Detlef Hensche wollte diese Kritik so nicht stehen lassen. Er zeigte die
"unterschiedlichen Zwänge" auf, denen die IG Medien in ihrer
Tarifpolitik ausgesetzt sei: die Angst der Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz und die
daraus resultierende Forderung von Beschäftigten, betrieblich vom Tarifvertrag
abzuweichen; oder die Flucht der Unternehmer aus ihren Verbänden. Der
Vorsitzende warnte eindringlich vor einer "Illusionspolitik", die solche
Probleme ausblende. Doch zur Frage der Verständigung über eine
"Haltelinie" bei der Verteidigung der tariflichen Rechte und Leistungen
äuáerte er sich nicht.
In diesem Zusammenhang kam es beim Antrag des Hauptvorstands zur
Abschöpfung des Streikfonds auch zu einer harten Konfrontation
unterschiedlicher Meinungen. Insgesamt nahmen 32 Kolleginnen und Kollegen das
Wort. Dabei lagen die Differenzen nicht in der Einschätzung, daá die IG Medien
neue Projekte zur Mitgliedergewinnung starten müsse.
Vielmehr wurde von den Kritikern in Frage gstellt, daá dafür der Streikfonds
angetastet werden dürfe, weil dadurch die Kampffähigkeit
eingeschränkt würde. Von den Befürwortern wurde
entgegengehalten, die IG Medien besitze keinen finanziellen Spielraum mehr, und ohne
die Verringerung der Zuführung in den Streikfonds von bisher 5 Prozent der
Beiträge könne kein Geld mehr "locker" gemacht
werden.
Ohne Widerspruch blieben die einleitenden Worte Detlef Hensches zur
Einschätzung der abgelaufenen Regierungsperiode der CDU/CSU-FDP-
Koalition. Sie sei von steigenden Gewinnen und explodierenden Börsenkursen
bei gleichzeitig wachsender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet gewesen. Dadurch habe
sich die Spaltung innerhalb der Gesellschaft vertieft. Die wichtigste Aufgabe der neuen
Regierung sei ein erkennbarer Beitrag zum Abbau der
Massenarbeitslosigkeit.
Dies wollte der Vorsitzende der IG Medien auch in bezug auf die Europäischen
Währungsunion gewürdigt wissen: "Warum drohen eigentlich nur
Sanktionen bei zu hoher Staatsverschuldung? Warum nicht gleiches bei
Überschreitung einer bestimmten Arbeitslosenquote?"
Wie erwartet stand die Fusion zur Megadienstleistungsgewerkschaft im Mittelpunkt des
Gewerkschaftstags. Das wurde schon dadurch unterstrichen, daá diese Frage als
eigenständiger Diskussionspunkt aus dem ergänzenden
Rechenschaftsbericht des Geschäftsführenden Hauptvorstands
ausgeklammert war. Darüber hinaus begann die Debatte mit einer
vierstündigen Podiumsdiskussion, zu der die Vorsitzenden der ÖTV,
Herbert Mai, der Deutschen Postgewerkschaft, Kurt van Haaren, und der Deutschen
Angestelltengewerkschaft, Roland Issen, angereist waren.
Ein längeres Interview mit Margret Mönig-Raane, der Vorsitzenden der
Gewerkschaft HBV, lief als Video auf einer Groáleinwand, denn die HBV veranstaltete
parallel zur IG Medien ihren Gewerkschaftstag in Bremen. Angesichts dieses
"Brimboriums" ist die Kritik von Detlef Hensche und anderen Delegierten
nicht nachvollziehbar, der Gewerkschaftstag habe sich übermäáig lang -
eineinhalb Tage - mit der Fusion beschäftigt.
Wie wichtig den Delegierten die Debatte um die organisationspolitische Zukunft der IG
Medien war, zeigt die groáe Zahl von mehr als 40 Rednern zu diesem
Tagesordnungspunkt. Zur Diskussion stand - um nur die "Gegenpole"
aufzuzeigen - der Antrag der Mitgliederversammlung des Ortsvereins Wiesbaden auf
Ablehnung und ein Antrag des Hauptvorstands auf eine an gewisse Bedingungen
geknüpfte Befürwortung des Zusammenschlusses der IG Medien mit drei
weiteren DGB-Gewerkschaften und der DAG. Ablehnende, kritische und
befürwortende Meinungen wurden in den Delegationen aller Landesbezirke
sichtbar. Selbstverständlich beteiligte sich nur eine geringere Zahl von
Delegierten an der Diskussion. Doch die Pausen offenbarten mehr Vorbehalte und
Ängste, als dies in den Redebeiträgen und im Abstimmungsergebnis zum
Ausdruck kam.
Nach der Generaldebatte zu diesem Punkt des Geschäftsberichts und der
Antragsdiskussion, die jeweils einen halben Tag dauerten, lehnte der Gewerkschaftstag
den "Wiesbadener Antrag" erwartungsgemäá mit groáer Mehrheit
ab. Grob geschätzt sprachen sich ungefähr 25 Prozent der Delegierten
für ein Nein zur Mega-Gewerkschaft aus. Auch zwei Anträge des
Landesbezirkstags Hessen, die einen Zusammenschluá mit der Erfüllung
weitreichender Bedingungen - bspw. die Erarbeitung von gesellschaftspolitischen
Zielorientierungen und gewerkschaftlichen Handlungsstrategien - verbunden sehen
wollten, fielen durch. Im Gegenzug wurden alle Anträge, die sich nicht
prinzipiell gegen eine Fusion richteten, mit groáer Mehrheit angenommen.
Neben diesen thematischen Schwerpunkten wurden eine Reihe organisations- und
(tarif)politischer Anträge beschlossen: die Bildung einer Personengruppe
"Arbeitslose"; eine Entschlieáung zu einer aktiven Lohnpolitik an der Seite
der IG Metall; die Verteidigung der 35-Stunden-Woche; die perspektivische Forderung
nach der 30-Stunden-Woche; die Versicherungspflicht für 620-Mark-
Jobs.
Aus: Impuls, Informationsblatt der IG Medien, Bezirk Wiesbaden, Nr.39,
30.10.1998.