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Die Rückkehr der Sozialdemokratie an die
Regierungsmacht hat die politische Lage in Europa verändert. Gleichzeitig sind
die Kräfte links von der Sozialdemokratie aus vielen Wahlen gestärkt
hervorgegangen.
Die Regierungskrise in Italien zeigt ein neues Problem, das sich jetzt fast überall
in Europa stellt: Wie kann man die Sozialdemokratie wenigstens zu einigen Schritten
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zwingen, ohne eine Rückkehr der
Rechten an die Regierung zu riskieren?
Eine Reihe von Ereignissen, die sich in den vergangenen Monaten in der
imperialistischen Europäischen Union (EU) abspielten, verdienen erhöhte
Aufmerksamkeit. Nach dem Wahlsieg der deutschen SPD regiert die Sozialdemokratie
nun in 13 von 15 Staaten der EU. In manchen Ländern wird sie dabei von den
Grünen oder von (ehemaligen) Kommunistischen Parteien
unterstützt.
Auf anderer Ebene macht die radikale Linke Fortschritte. Auf dem Parteitag von New
Labour mußte Tony Blair bei den Wahlen zum Exekutivkomitee eine Niederlage
einstecken: Es wurden vier linke und zwei rechte Kandidaten gewählt. In
Schottland entstand aus dem regionalen Flügel der Militant-Strömung
[Socialist Party] die Scottish Socialist Party (SSP), eine pluralistische Organisation aus
verschiedenen politischen und gewerkschaftlichen Strömungen, die ein gewisses
Gewicht in sozialen Fragen besitzt und bei den nächsten Wahlen respektabel
abschneiden kann.
In Griechenland erstarkt die radikale Linke. Und die Presse entdeckt den
"Trotzkismus": in Italien durch den Beitrag unserer Genossinnen und
Genossen aus der IV.Internationale zum Sieg von Bertinotti, in Frankreich durch die
geplante Einheitsliste aus Lutte OuvriŠre (LO) und LCR [Sektion der
IV.Internationale] zu den Europawahlen.
Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig. Hier kommen offensichtlich erste,
wirklich politische Kristallisationspunkte an die Oberfläche - Ergebnis eines
ideologischen und sozialen, wiewohl unklaren und komplizierten Widerstands in den
vergangenen 15 Jahren. Und es geschieht jetzt, weil sich der Neoliberalismus in eine
Sackgasse manövriert hat, weil er sich unfähig zeigt, die sozialen
Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.
Hierdurch ist eine allgemeine Debatte in der Bourgeoisie angestoßen und so mancher
kecke Vorstoß der Sozialdemokratie legitimiert. Die Frage nach einer wirklich
alternativen Politik gewinnt ihren Stellenwert zurück. Die Neuzusammensetzung
der Linken entwickelt sich künftig in einem teilweise neuen
Zusammenhang.
Niederlage der Rechten
Die aufeinanderfolgenden Wahlsiege sind vor allem eines, nämlich bedeutende
Niederlagen der Rechten: das Ende der unendlichen Regierungsperiode Kohl (16 Jahre
- ein Rekord für ein "klassisch" parlamentarisches System) und
davor die Niederlage von Margaret Thatcher und der Abgang von Jupp‚, die zuvor alle
über eine erdrückende parlamentarische Mehrheit
verfügten.
Diese reaktionären und notorisch antisozialen Figuren waren ein Klotz am Bein
für die Herausbildung der EU. Sie bildeten die politische Stütze der (heute
noch fortdauernden) Angriffe der Arbeitgeber, die in ihrer Dauer und Nachhaltigkeit
ihresgleichen suchen.
Heute schlägt das Pendel in der anderen Richtung aus. Infolge ihrer
Wahlniederlagen befinden sich die großen bürgerlichen Parteien in einer Krise,
wie sie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben (die Konservativen
in Großbritannien, die Neogaullisten in Frankreich, die Christdemokraten in Italien)
oder treten gerade in eine solche Krise ein (die CDU/CSU in Deutschland).
Es wäre deshalb falsch, im Schwenk zugunsten der Sozialdemokratie eine
schlichte Weiterführung der neoliberalen Politik zu sehen. Der Kontext
ändert sich und auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und
Regierung.
Aber die zurückkehrende Sozialdemokratie wird nicht die herausragende
Position wiedererringen, die sie einmal innehatte: weder wird sie die sozialen
Bewegungen kontrollieren können noch die uneingeschränkte
Unterstützung der abhängig Beschäftigten oder der Jugend erhalten.
Sie gewinnt hinzu, solange sie in der Opposition ist, aber sie wird ihre Verluste
gegenüber den 70er und 80er Jahren nicht vollständig wett machen
können (Deutschland bildet hier eine Ausnahme); an der Regierung aber wird sie
verlieren, in manchen Ländern sogar katastrophal (in Schweden oder in
Griechenland bei den Kommunalwahlen im Oktober).
Schwacher Auftakt
Die Wahlen und der Amtsantritt von Mitte-Links-Regierungen kennzeichnen und
verbessern ein stark verschobenes Kräfteverhältnis. Es ist ein gewachsenes
Selbstvertrauen und ein Wiedererstarken linker Politik festzustellen. Doch das hat seine
Grenzen. Symptomatisch dafür ist, mit wieviel Begeisterung jeder Wahlerfolg
gefeiert wurde. Hier besteht ein krasses Mißverhältnis zu den
Veränderungen in der Politik, die man vernünftigerweise erwarten
kann.
Kaum etwas macht dies deutlicher als die Bedeutungslosigkeit, die die
Lohnabhängigen ihren eigenen sozialen Aktivitäten zumessen (mit der
Ausnahme von Frankreich, wenn man sich den Winter 1995 vor Augen hält).
Das wiederum stärkt Hoffnungen auf die Regierungspolitik. Auf der anderen
Seite gibt es aber auch (kleine) gesellschaftliche Gruppen und AktivistInnen der
Linken, die sich von dieser Illusion nicht oder nur wenig täuschen
lassen.
Dies erklärt sowohl die Schwierigkeiten für eine breite gesellschaftliche
Mobilisierung wie auch die nicht unbedeutende Stimmabgabe für Parteien links
von der Sozialdemokratie in einer Reihe europäischer Länder. Es handelt
sich hier um einen klaren, wenn auch rudimentären Zug von politischem
Bewußtsein.
Das macht deutlich, wie heikel dieser Umschlag in der politischen Lage ist, für
die Sozialdemokratie wie für die Kräfte links davon. Soziale Bewegungen
versuchen ihren Nutzen aus der Situation zu ziehen, weil sozialer Druck auf diese
Regierungen wesentlich mehr Erfolg verspricht. Die Regierungen dagegen versuchen,
den auf sie ausgeübten Druck dadurch abzumildern, daß sie die
Gewerkschaftsapparate in eine stärker organisierte Klassenkollaboration
hineinziehen.
Aber die Angst, sich plötzlich in einem isolierten oder erfolglosen Kampf
wiederzufinden, oder einfach nur ohne Solidarität, bremst weiterhin die
Aktivitäten. Das schließt nicht aus, daß große Demonstrationen stattfinden, wenn
die Bedingungen stimmen (Frankreich, Belgien, Italien, Finnland, Schweiz). Doch
bleiben sie meist ohne Perspektive, ohne Wirkung auf der Ebene der
Organisierung.
Auf der politischen Ebene drückt die Argumentation vom "kleineren
Übel" schwer auf die Moral der Massen, wie auch auf den
kämpferischen Elan und die Entwicklung einer radikal linken
Alternative.
Das hat zwei Gründe, die miteinander zusammenhängen: die
Massenarbeitslosigkeit und allgemeine Prekarisierung auf der einen, die daraus
resultierende Schwäche der sozialen Bewegungen auf der anderen Seite. Ein
dritter kommt hinzu: die Angst vor der Wiederkehr einer erstarkten, aggressiveren
Rechten. In einigen Ländern, wie z.B. Italien, handelt es sich um eine
"bonapartistische", halb außerparlamentarische Rechte (Berlusconi, Bossi,
Fini). In anderen Ländern zeigt sie sich im Aufflackern faschistischer Gewalt
und wachsender Organisierung (Deutschland, Belgien).
In Frankreich könnte es zu einer Mischform kommen, deren
Schlüsselelement eine "rechtspluralistische" Regierung unter
Beteiligung der Front National wäre. Dies stärkt die Position der
Linksregierungen gegenüber den sozialen Bewegungen und liefert gleichzeitig
das Alibi für eine Politik, die sich in vielen Bereichen nach rechts
bewegt.
EU unter sozialdemokratischer Führung
Die Sozialdemokratie ist also für die nächsten Jahre an der Macht, in den
Institutionen der EU und in 13 der 15 Mitgliedstaaten. Die Gleichzeitigkeit, mit der
dies eingetreten ist, die geografische Breite, die sozialen Wirkungen und die (relative)
politische Homogenität machen daraus eine außergewöhnliche politische
Erfahrung, die auf nationaler und europäischer Ebene unterschiedlich ablaufen
wird.
Auf EU-Ebene eröffnet sich eine völlig neue Perspektive. In den drei
Schlüsselstaaten der EU gibt es entweder eine rein sozialdemokratische
Regierung (Großbritannien) oder eine Regierung der "pluralistischen
Linken" (Frankreich und Deutschland) ohne Beteiligung bürgerlicher
Parteien, die sich auf eine linke Mehrheit im Parlament stützen kann. Insgesamt
gesehen führen die sozialdemokratischen Parteien die Exekutivinstitutionen der
EU: den Ministerrat und die Kommission. Selbst der Präsident der
Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, ist Sozialdemokrat.
Es gibt also keine Gründe mehr, jetzt nicht das umzusetzen, was immer
für die Zeit nach der Einführung des Euro versprochen worden ist: den
Abbau der Erwerbslosigkeit und das soziale Europa. Die Allgegenwart der
Sozialdemokratie macht eine offensive, homogene und koordinierte Politik
möglich.
Durch die Einführung des Euro und aufgrund ihrer geringen
ökonomischen Offenheit (nur rund 10% des Bruttoinlandsprodukts der EU
entspringen dem Außenhandel, ein Anteil, der ungefähr dem der USA oder
Japans vergleichbar ist) ist es der EU möglich, eine relativ autonome Politik zu
fahren, ihr berühmtes "soziales Modell" umzusetzen und sich einer
"Amerikanisierung" der Gesellschaft zu widersetzen.
Die freie Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten der EU (die die sozialen Normen
nach unten drückt) ist nicht mehr angesagt. Vielmehr sind es Maßnahmen, die
dem Kapital an die Wäsche gehen: Kapitalkontrolle, Harmonisierung der
Steuern, Tobin-Steuer etc.
Diese politisch-institutionelle Konstellation ist außergewöhnlich. Hier liegt eine
Möglichkeit, über die sich die sozialen Bewegungen klar werden
müssen, um durch ein größtmögliches Bündnis - derjenigen,
die gegen die EU sind, und derjenigen, die dafür sind, aber gegen die
katastrophalen Folgen dieser Politik ankämpfen - Änderungen zu
erzwingen.
Alles weist darauf hin, daß die EU ihre Politik nicht wie bisher fortsetzen kann. Im
Jahre 1998 konnten die Maastricht-Kriterien "auf wunderbare Weise"
erfüllt werden, weil es gerade eine ökonomische Schönwetterphase
gab. Im Jahre 1999 wird diese Meßlatte (verschärft um die Kriterien des
Stabilitätspakts: höchstens 1 Prozent Haushaltsdefizit) wohl unter
wesentlich schlechteren ökonomischen Bedingungen angelegt werden.
Wird die EU unter sozialdemokratischer Ägide eine monetaristische,
prozyklische Politik fahren, die den wirtschaftlichen Rückgang noch
verstärkt? Oder hat sie den Willen und die Kraft, das neoliberale Korsett zu
sprengen, das sich die EU umgelegt hat? Ist sie bereit, die Kriterien zu
übertreten, auf deren Grundlage die Europäische Zentralbank
gegründet wurde und deren Einhaltung von der EU-Kommission
überwacht wird? Riskiert sie eine Krise der Institutionen oder kapituliert sie
wieder einmal im Namen der Stabilität der Institutionen und der Verteidigung
des Euro? Riskiert sie, bei der erstbesten Gelegenheit von der Rechten aus der
Regierung gekegelt zu werden und damit vielleicht der faschistischen Rechten Platz zu
machen? Wenn die Arbeitslosigkeit 1999 und 2000 weiter steigt, ist das ein
mögliches Szenario.
Land für Land muß dagegen angekämpft werden, und auf EU-Ebene
selbst ebenfalls. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) ist ein wichtiger
Faktor: Versteckt er sich weiter hinter der EU-Kommission im Namen der
"Stabilität des Euro" oder besinnt er sich auf seine autonomen
Forderungen? Auf seiten solcher Initiativen wie des Euromarschs hängt viel von
der Gewerkschaftslinken ab.
Europäisierung des politischen Lebens
Der Aufbau einer aktiven sozialen Bewegung auf europäischer Ebene wird eine
wichtige Rolle spielen. Das betrifft unmittelbar die Neuzusammensetzung der Linken.
Die Entstehung eines europäischen Protostaats wird sich auf das politische Leben
auswirken. Und das wird sich zuallererst im alltäglichen Leben zeigen.
Die sozialdemokratischen Parteien werden sich eine Wahlplattform geben, die sie mit
einem linken Profil ausstattet. Die (früheren) Kommunistischen Parteien haben
sich bereits zweimal europaweit getroffen (im Juni in Berlin, im September in Rom),
um eine gemeinsame Strategie für Wahlkämpfe zu finden. Es gelang
ihnen allerdings noch nicht, sich auf einen politischen Abschlußtext zu
einigen.
Die Europäischen Märsche und die diversen Gegengipfel (zu EU-Gipfeln,
zu den G7-Treffen) haben der radikalen Linken Auftrieb gegeben. Es ist eine bestimmte
Form der Zivilgesellschaft im kleinen Maßstab entstanden, angeschoben von den
Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sozialen Bewegungen und allen
möglichen Koordinationen. Und in all dem spielte das Europäische
Parlament (das nicht wirklich ein Parlament ist) die Rolle einer positiven
Ergänzung. Allgemein wird daraus eine grenzüberschreitende
Zusammenarbeit im politischen, sozialen, kulturellen und intellektuellen Leben
resultieren.
Die besser koordinierten Kommunistischen Parteien können die
Orientierungsdebatte nicht ignorieren, die [in Italien] die Partei der Kommunistischen
Neugründung [PRC] zerrissen und zur Entstehung der "neuen PCI"
geführt hat. Und der symbolträchtige Spitzenkandidat der
französischen Grünen, Daniel Cohn-Bendit, wird wahrscheinlich
gleichzeitig Berater von Joseph Fischer, dem neuen deutschen Außenminister,
sein.
Dieser hat allerdings schon erklärt, es gebe "keine grüne
Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik". Das wird für den
ehemals "roten Dany", der schon 1991 den Golfkrieg unterstützte,
sicher kein Problem sein. Doch diesmal wird eine solche Parteinahme schnell
über die deutschen Grenzen hinaus bekannt werden und zur Klärung in
Paris, Rom und Brüssel beitragen.
Das ist der viel klarere Rahmen, in dem ab 1999 die Erschütterungen des Euro,
die Verlangsamung des Wachstums, die Euromärsche und andere wichtige
soziale Proteste stattfinden werden.
Beispiel Bertinotti
Der Führer der italienischen PRC, Fausto Bertinotti, sagt über die
politische Landschaft in Europa: "Bis zu einem gewissen Grad existiert in ganz
Europa, von Schweden bis Deutschland, wie in Frankreich, Spanien und Portugal eine
kommunistische, alternative und antagonistische Linke ['antagonistisch' ist der Begriff,
den die PRC gern benutzt, um sich von einer reformistischen Linken abzugrenzen]. Die
regierenden Sozialdemokraten müssen dem Rechnung tragen."
Die Fakten sind klar. Der Schub für die Sozialdemokratie wird begleitet vom
Legitimationsverlust für die neoliberale Rechte, die sich in ihrer Regierungszeit
kompromittierte. Deshalb sind "große Koalitionen" viel schwieriger
geworden, insbesondere in den Augen eines Teils der linken Wählerschaft (die
neue italienische Regierung unter D'Alema, zusammen mit der christdemokratischen
Rechten und Cossuttas Neo-PCI wird ein erster Test sein).
Die Stimmengewinne der Gruppierungen links von der Sozialdemokratie machen hier
eine Alternativlösung möglich. Es bleibt festzuhalten, daß es im
Augenblick keinen wirklichen Politikwechsel gibt.
Die Debatte um die Bildung solcher (oft verwirrend als "Mitte-Links"
bezeichneten) Regierungen wird in den nächsten Jahren einen wichtigen Platz im
politischen und sozialen Leben einnehmen. Diese Debatte ist ein wichtiger Faktor
für die Politisierung der sozialen Bewegungen heute - wenn nicht sogar der
wichtigste. Sie ist aber auch ein klärender Faktor, und häufig eine
Trennungslinie zwischen der Linken und der Sozialdemokratie.
Diese Frage hat der PRC seit ihrer Gründung 1991 schon zwei Spaltungen
eingebracht. In Frankreich untergräbt sie die PCF aufgrund ihrer unklaren
Ausrichtung und droht, sie in die finale Krise zu treiben. In Schweden führte sie
direkt nach der Wahl zu einer Links-Rechts-Spaltung innerhalb der Linkspartei, und
das angesichts einer an Neoliberalismus und EU-Beitritt festhaltenden
Sozialdemokratie. In Deutschland kündigte der Chef der PDS während
des Wahlkampfs eine "programmatische Anpassung" an, was allerorten als
Versuch gewertet wurde, die Partei salonfähig zu machen. Und das Ziel,
regierungsfähig zu werden, bestimmt schon seit vielen Jahren die Politik der
Grünen überall dort, wo das für sie irgendwie greifbar ist.
Revolutionäre Linke
Die revolutionäre Linke ist kaum oder gar nicht auf die Auseinandersetzung mit
diesem taktischen Problem vorbereitet, einem Problem von immenser Bedeutung, das
sich jetzt konkret stellt. Tatsächlich weiß man schon im voraus, daß eine solche
"Mitte-Links-Regierung" nicht mit dem Kapitalismus brechen und auch
kaum die neoliberale Politik aussetzen wird.
Gleichzeitig läuft eine, auch nur indirekte, Begünstigung einer
Rückkehr der Rechten an die Regierung Gefahr, in den Augen breiter
Wählerschichten und wichtiger Teile der Basis der sozialen Bewegungen als
Katastrophe zu erscheinen.
Eine genauere Analyse, eine behutsame und intelligente Taktik, eine Gesamtheit von
gleichzeitig "realistischen" und radikalen Forderungen, eine am
öffentlichen Bedürfnis ausgerichtete Diskussion - die Frage der
"politischen Pädagogik" ist entscheidend dafür, daß die
antikapitalistische Linke in der Debatte Fuß fassen kann.
Die Erfahrungen zeigen, daß dies sehr kompliziert ist. Einer Regierung der Linken
erlauben, ins Amt zu kommen? Einverstanden, aber: wie soll man das formulieren?
Und wenn das (wegen institutioneller Regeln) voraussetzt, daß dem Haushalt
zugestimmt werden muß? Soll man Änderungswünsche einbringen - also
den Text verbessern - oder andere Zugeständnisse fordern? Und wie weit geht
diese "Toleranz"?
Wann ist die politische Bilanz der Regierung negativ, weil sie ihren Kredit bei den
Arbeitenden und der Jugend verspielt hat? Ab wann ist die "Politik des kleineren
Übels" kontraproduktiv? Unter welchen Bedingungen zieht man sich
zurück? Und wie überwindet man die Kräfte der Trägheit,
des Konservatismus, die sich genau auf dem Boden einer solche
Regierungsunterstützung bilden: die Gewählten, die materiellen Mittel des
Funktionierens, der Zugang zu den Medien?
Antikapitalistische Umgruppierung
Mit diesem Problem muß man sich auseinandersetzen, es geht um mehr als ein
politisches Spiel. Es geht um die unmittelbaren sozialen Forderungen der
Beschäftigten, der Frauen, der Jugend. Es geht um den politisch bewußten Teil
der sozialen Bewegung. Es geht um das zu schmiedende Bündnis zwischen der
revolutionären Linken und anderen radikalen politischen Strömungen im
Umfeld der Kommunistischen oder grünen Parteien und der Sozialdemokratie.
Wir müssen ein offenes Auge haben für Umgruppierungen, die sich auf
die sozialdemokratischen Parteien und damit auf die ihre Mitglieder in den sozialen
Bewegungen auswirken.
Die anarchosyndikalistischen Strömungen ziehen es im allgemeinen vor, dieses
Problem zu ignorieren. Dasselbe gilt auch für einige Strömungen, die sich
auf den Trotzkismus berufen. Doch es ist eine Schlüsselfrage. Die gesamte
Geschichte der sozialen Bewegungen beweist dies.
In dem Maße, wie ihr Einfluß in der Gesellschaft wuchs, versuchte sie auch immer, ihre
Wirkung politisch-institutionell auszuweiten: über das Parlament oder eine
Regierungsbeteiligung. Keine Massengewerkschaft kann es sich sparen, politisch aktiv
zu werden, kann darauf verzichten, selbst eine Partei zu gründen [bspw. die
britische Labour Party zu Beginn und die PT in Brasilien am Ende dieses
Jahrhunderts].
Aus der Sicht der antikapitalistischen Umgruppierung sind solche Schritte grundlegend:
Solange sie ihre Taufe in allgemeinen Wahlen nicht erfolgreich (mit eine signifikanten
Zahl von Abgeordneten) absolviert hat, bleibt jede revolutionäre Linke eine
"Aktionsgruppe". Sicher ist sie politisch, aber ihre
"Nützlichkeit" beschränkt sich auf den Rahmen der sozialen
Kämpfe. Doch jeder wirkliche Erfolg fordert sofort tagtägliche politische
Entscheidungen, die auch "binden".
Die Perspektive einer Neuformierung "auf der Linken der Linken" besteht
in der Aussicht auf die Entstehung einer neuen breiten und vielfältigen
politischen Kraft - antikapitalistisch, feministisch, internationalistisch und mit
Masseneinfluß.
Der Erfolg wird sich in der vor uns liegenden Phase in zweierlei Hinsicht zu erweisen
haben: Wird es gelingen, sich mit den kämpferischen Kräften zu
verbünden, die aus Konflikten zwischen sozialen Bewegungen und der
regierenden Sozialdemokratie hervorgehen? Und wird es gelingen, ein Bezugspunkt im
Hinblick auf Politik, Institutionen und Wahlen zu werden? Diese beiden Aspekte
hängen sehr eng miteinander zusammen.
Es tut sich also in der kommenden Periode, zumindest in einigen Ländern, eine
wirkliche praktische Chance auf.
Francois Vercammen
Francois Vercammen ist Mitglied des Vereinigten Sekretariats der
IV.Internationale.