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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 26.11.1998, Seite 12

Europäische Union

Die Rückkehr der Sozialdemokratie

Die Rückkehr der Sozialdemokratie an die Regierungsmacht hat die politische Lage in Europa verändert. Gleichzeitig sind die Kräfte links von der Sozialdemokratie aus vielen Wahlen gestärkt hervorgegangen.
  Die Regierungskrise in Italien zeigt ein neues Problem, das sich jetzt fast überall in Europa stellt: Wie kann man die Sozialdemokratie wenigstens zu einigen Schritten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zwingen, ohne eine Rückkehr der Rechten an die Regierung zu riskieren?
  Eine Reihe von Ereignissen, die sich in den vergangenen Monaten in der imperialistischen Europäischen Union (EU) abspielten, verdienen erhöhte Aufmerksamkeit. Nach dem Wahlsieg der deutschen SPD regiert die Sozialdemokratie nun in 13 von 15 Staaten der EU. In manchen Ländern wird sie dabei von den Grünen oder von (ehemaligen) Kommunistischen Parteien unterstützt.
  Auf anderer Ebene macht die radikale Linke Fortschritte. Auf dem Parteitag von New Labour mußte Tony Blair bei den Wahlen zum Exekutivkomitee eine Niederlage einstecken: Es wurden vier linke und zwei rechte Kandidaten gewählt. In Schottland entstand aus dem regionalen Flügel der Militant-Strömung [Socialist Party] die Scottish Socialist Party (SSP), eine pluralistische Organisation aus verschiedenen politischen und gewerkschaftlichen Strömungen, die ein gewisses Gewicht in sozialen Fragen besitzt und bei den nächsten Wahlen respektabel abschneiden kann.
  In Griechenland erstarkt die radikale Linke. Und die Presse entdeckt den "Trotzkismus": in Italien durch den Beitrag unserer Genossinnen und Genossen aus der IV.Internationale zum Sieg von Bertinotti, in Frankreich durch die geplante Einheitsliste aus Lutte OuvriŠre (LO) und LCR [Sektion der IV.Internationale] zu den Europawahlen.
  Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig. Hier kommen offensichtlich erste, wirklich politische Kristallisationspunkte an die Oberfläche - Ergebnis eines ideologischen und sozialen, wiewohl unklaren und komplizierten Widerstands in den vergangenen 15 Jahren. Und es geschieht jetzt, weil sich der Neoliberalismus in eine Sackgasse manövriert hat, weil er sich unfähig zeigt, die sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.
  Hierdurch ist eine allgemeine Debatte in der Bourgeoisie angestoßen und so mancher kecke Vorstoß der Sozialdemokratie legitimiert. Die Frage nach einer wirklich alternativen Politik gewinnt ihren Stellenwert zurück. Die Neuzusammensetzung der Linken entwickelt sich künftig in einem teilweise neuen Zusammenhang.
  Niederlage der Rechten
  Die aufeinanderfolgenden Wahlsiege sind vor allem eines, nämlich bedeutende Niederlagen der Rechten: das Ende der unendlichen Regierungsperiode Kohl (16 Jahre - ein Rekord für ein "klassisch" parlamentarisches System) und davor die Niederlage von Margaret Thatcher und der Abgang von Jupp‚, die zuvor alle über eine erdrückende parlamentarische Mehrheit verfügten.
  Diese reaktionären und notorisch antisozialen Figuren waren ein Klotz am Bein für die Herausbildung der EU. Sie bildeten die politische Stütze der (heute noch fortdauernden) Angriffe der Arbeitgeber, die in ihrer Dauer und Nachhaltigkeit ihresgleichen suchen.
  Heute schlägt das Pendel in der anderen Richtung aus. Infolge ihrer Wahlniederlagen befinden sich die großen bürgerlichen Parteien in einer Krise, wie sie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt haben (die Konservativen in Großbritannien, die Neogaullisten in Frankreich, die Christdemokraten in Italien) oder treten gerade in eine solche Krise ein (die CDU/CSU in Deutschland).
  Es wäre deshalb falsch, im Schwenk zugunsten der Sozialdemokratie eine schlichte Weiterführung der neoliberalen Politik zu sehen. Der Kontext ändert sich und auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Regierung.
  Aber die zurückkehrende Sozialdemokratie wird nicht die herausragende Position wiedererringen, die sie einmal innehatte: weder wird sie die sozialen Bewegungen kontrollieren können noch die uneingeschränkte Unterstützung der abhängig Beschäftigten oder der Jugend erhalten. Sie gewinnt hinzu, solange sie in der Opposition ist, aber sie wird ihre Verluste gegenüber den 70er und 80er Jahren nicht vollständig wett machen können (Deutschland bildet hier eine Ausnahme); an der Regierung aber wird sie verlieren, in manchen Ländern sogar katastrophal (in Schweden oder in Griechenland bei den Kommunalwahlen im Oktober).
  Schwacher Auftakt
  Die Wahlen und der Amtsantritt von Mitte-Links-Regierungen kennzeichnen und verbessern ein stark verschobenes Kräfteverhältnis. Es ist ein gewachsenes Selbstvertrauen und ein Wiedererstarken linker Politik festzustellen. Doch das hat seine Grenzen. Symptomatisch dafür ist, mit wieviel Begeisterung jeder Wahlerfolg gefeiert wurde. Hier besteht ein krasses Mißverhältnis zu den Veränderungen in der Politik, die man vernünftigerweise erwarten kann.
  Kaum etwas macht dies deutlicher als die Bedeutungslosigkeit, die die Lohnabhängigen ihren eigenen sozialen Aktivitäten zumessen (mit der Ausnahme von Frankreich, wenn man sich den Winter 1995 vor Augen hält). Das wiederum stärkt Hoffnungen auf die Regierungspolitik. Auf der anderen Seite gibt es aber auch (kleine) gesellschaftliche Gruppen und AktivistInnen der Linken, die sich von dieser Illusion nicht oder nur wenig täuschen lassen.
  Dies erklärt sowohl die Schwierigkeiten für eine breite gesellschaftliche Mobilisierung wie auch die nicht unbedeutende Stimmabgabe für Parteien links von der Sozialdemokratie in einer Reihe europäischer Länder. Es handelt sich hier um einen klaren, wenn auch rudimentären Zug von politischem Bewußtsein.
  Das macht deutlich, wie heikel dieser Umschlag in der politischen Lage ist, für die Sozialdemokratie wie für die Kräfte links davon. Soziale Bewegungen versuchen ihren Nutzen aus der Situation zu ziehen, weil sozialer Druck auf diese Regierungen wesentlich mehr Erfolg verspricht. Die Regierungen dagegen versuchen, den auf sie ausgeübten Druck dadurch abzumildern, daß sie die Gewerkschaftsapparate in eine stärker organisierte Klassenkollaboration hineinziehen.
  Aber die Angst, sich plötzlich in einem isolierten oder erfolglosen Kampf wiederzufinden, oder einfach nur ohne Solidarität, bremst weiterhin die Aktivitäten. Das schließt nicht aus, daß große Demonstrationen stattfinden, wenn die Bedingungen stimmen (Frankreich, Belgien, Italien, Finnland, Schweiz). Doch bleiben sie meist ohne Perspektive, ohne Wirkung auf der Ebene der Organisierung.
  Auf der politischen Ebene drückt die Argumentation vom "kleineren Übel" schwer auf die Moral der Massen, wie auch auf den kämpferischen Elan und die Entwicklung einer radikal linken Alternative.
  Das hat zwei Gründe, die miteinander zusammenhängen: die Massenarbeitslosigkeit und allgemeine Prekarisierung auf der einen, die daraus resultierende Schwäche der sozialen Bewegungen auf der anderen Seite. Ein dritter kommt hinzu: die Angst vor der Wiederkehr einer erstarkten, aggressiveren Rechten. In einigen Ländern, wie z.B. Italien, handelt es sich um eine "bonapartistische", halb außerparlamentarische Rechte (Berlusconi, Bossi, Fini). In anderen Ländern zeigt sie sich im Aufflackern faschistischer Gewalt und wachsender Organisierung (Deutschland, Belgien).
  In Frankreich könnte es zu einer Mischform kommen, deren Schlüsselelement eine "rechtspluralistische" Regierung unter Beteiligung der Front National wäre. Dies stärkt die Position der Linksregierungen gegenüber den sozialen Bewegungen und liefert gleichzeitig das Alibi für eine Politik, die sich in vielen Bereichen nach rechts bewegt.
  EU unter sozialdemokratischer Führung
  Die Sozialdemokratie ist also für die nächsten Jahre an der Macht, in den Institutionen der EU und in 13 der 15 Mitgliedstaaten. Die Gleichzeitigkeit, mit der dies eingetreten ist, die geografische Breite, die sozialen Wirkungen und die (relative) politische Homogenität machen daraus eine außergewöhnliche politische Erfahrung, die auf nationaler und europäischer Ebene unterschiedlich ablaufen wird.
  Auf EU-Ebene eröffnet sich eine völlig neue Perspektive. In den drei Schlüsselstaaten der EU gibt es entweder eine rein sozialdemokratische Regierung (Großbritannien) oder eine Regierung der "pluralistischen Linken" (Frankreich und Deutschland) ohne Beteiligung bürgerlicher Parteien, die sich auf eine linke Mehrheit im Parlament stützen kann. Insgesamt gesehen führen die sozialdemokratischen Parteien die Exekutivinstitutionen der EU: den Ministerrat und die Kommission. Selbst der Präsident der Europäischen Zentralbank, Wim Duisenberg, ist Sozialdemokrat.
  Es gibt also keine Gründe mehr, jetzt nicht das umzusetzen, was immer für die Zeit nach der Einführung des Euro versprochen worden ist: den Abbau der Erwerbslosigkeit und das soziale Europa. Die Allgegenwart der Sozialdemokratie macht eine offensive, homogene und koordinierte Politik möglich.
  Durch die Einführung des Euro und aufgrund ihrer geringen ökonomischen Offenheit (nur rund 10% des Bruttoinlandsprodukts der EU entspringen dem Außenhandel, ein Anteil, der ungefähr dem der USA oder Japans vergleichbar ist) ist es der EU möglich, eine relativ autonome Politik zu fahren, ihr berühmtes "soziales Modell" umzusetzen und sich einer "Amerikanisierung" der Gesellschaft zu widersetzen.
  Die freie Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten der EU (die die sozialen Normen nach unten drückt) ist nicht mehr angesagt. Vielmehr sind es Maßnahmen, die dem Kapital an die Wäsche gehen: Kapitalkontrolle, Harmonisierung der Steuern, Tobin-Steuer etc.
  Diese politisch-institutionelle Konstellation ist außergewöhnlich. Hier liegt eine Möglichkeit, über die sich die sozialen Bewegungen klar werden müssen, um durch ein größtmögliches Bündnis - derjenigen, die gegen die EU sind, und derjenigen, die dafür sind, aber gegen die katastrophalen Folgen dieser Politik ankämpfen - Änderungen zu erzwingen.
  Alles weist darauf hin, daß die EU ihre Politik nicht wie bisher fortsetzen kann. Im Jahre 1998 konnten die Maastricht-Kriterien "auf wunderbare Weise" erfüllt werden, weil es gerade eine ökonomische Schönwetterphase gab. Im Jahre 1999 wird diese Meßlatte (verschärft um die Kriterien des Stabilitätspakts: höchstens 1 Prozent Haushaltsdefizit) wohl unter wesentlich schlechteren ökonomischen Bedingungen angelegt werden.
  Wird die EU unter sozialdemokratischer Ägide eine monetaristische, prozyklische Politik fahren, die den wirtschaftlichen Rückgang noch verstärkt? Oder hat sie den Willen und die Kraft, das neoliberale Korsett zu sprengen, das sich die EU umgelegt hat? Ist sie bereit, die Kriterien zu übertreten, auf deren Grundlage die Europäische Zentralbank gegründet wurde und deren Einhaltung von der EU-Kommission überwacht wird? Riskiert sie eine Krise der Institutionen oder kapituliert sie wieder einmal im Namen der Stabilität der Institutionen und der Verteidigung des Euro? Riskiert sie, bei der erstbesten Gelegenheit von der Rechten aus der Regierung gekegelt zu werden und damit vielleicht der faschistischen Rechten Platz zu machen? Wenn die Arbeitslosigkeit 1999 und 2000 weiter steigt, ist das ein mögliches Szenario.
  Land für Land muß dagegen angekämpft werden, und auf EU-Ebene selbst ebenfalls. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) ist ein wichtiger Faktor: Versteckt er sich weiter hinter der EU-Kommission im Namen der "Stabilität des Euro" oder besinnt er sich auf seine autonomen Forderungen? Auf seiten solcher Initiativen wie des Euromarschs hängt viel von der Gewerkschaftslinken ab.
  Europäisierung des politischen Lebens
  Der Aufbau einer aktiven sozialen Bewegung auf europäischer Ebene wird eine wichtige Rolle spielen. Das betrifft unmittelbar die Neuzusammensetzung der Linken. Die Entstehung eines europäischen Protostaats wird sich auf das politische Leben auswirken. Und das wird sich zuallererst im alltäglichen Leben zeigen.
  Die sozialdemokratischen Parteien werden sich eine Wahlplattform geben, die sie mit einem linken Profil ausstattet. Die (früheren) Kommunistischen Parteien haben sich bereits zweimal europaweit getroffen (im Juni in Berlin, im September in Rom), um eine gemeinsame Strategie für Wahlkämpfe zu finden. Es gelang ihnen allerdings noch nicht, sich auf einen politischen Abschlußtext zu einigen.
  Die Europäischen Märsche und die diversen Gegengipfel (zu EU-Gipfeln, zu den G7-Treffen) haben der radikalen Linken Auftrieb gegeben. Es ist eine bestimmte Form der Zivilgesellschaft im kleinen Maßstab entstanden, angeschoben von den Nichtregierungsorganisationen (NGOs), sozialen Bewegungen und allen möglichen Koordinationen. Und in all dem spielte das Europäische Parlament (das nicht wirklich ein Parlament ist) die Rolle einer positiven Ergänzung. Allgemein wird daraus eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit im politischen, sozialen, kulturellen und intellektuellen Leben resultieren.
  Die besser koordinierten Kommunistischen Parteien können die Orientierungsdebatte nicht ignorieren, die [in Italien] die Partei der Kommunistischen Neugründung [PRC] zerrissen und zur Entstehung der "neuen PCI" geführt hat. Und der symbolträchtige Spitzenkandidat der französischen Grünen, Daniel Cohn-Bendit, wird wahrscheinlich gleichzeitig Berater von Joseph Fischer, dem neuen deutschen Außenminister, sein.
  Dieser hat allerdings schon erklärt, es gebe "keine grüne Außenpolitik, sondern nur eine deutsche Außenpolitik". Das wird für den ehemals "roten Dany", der schon 1991 den Golfkrieg unterstützte, sicher kein Problem sein. Doch diesmal wird eine solche Parteinahme schnell über die deutschen Grenzen hinaus bekannt werden und zur Klärung in Paris, Rom und Brüssel beitragen.
  Das ist der viel klarere Rahmen, in dem ab 1999 die Erschütterungen des Euro, die Verlangsamung des Wachstums, die Euromärsche und andere wichtige soziale Proteste stattfinden werden.
  Beispiel Bertinotti
  Der Führer der italienischen PRC, Fausto Bertinotti, sagt über die politische Landschaft in Europa: "Bis zu einem gewissen Grad existiert in ganz Europa, von Schweden bis Deutschland, wie in Frankreich, Spanien und Portugal eine kommunistische, alternative und antagonistische Linke ['antagonistisch' ist der Begriff, den die PRC gern benutzt, um sich von einer reformistischen Linken abzugrenzen]. Die regierenden Sozialdemokraten müssen dem Rechnung tragen."
  Die Fakten sind klar. Der Schub für die Sozialdemokratie wird begleitet vom Legitimationsverlust für die neoliberale Rechte, die sich in ihrer Regierungszeit kompromittierte. Deshalb sind "große Koalitionen" viel schwieriger geworden, insbesondere in den Augen eines Teils der linken Wählerschaft (die neue italienische Regierung unter D'Alema, zusammen mit der christdemokratischen Rechten und Cossuttas Neo-PCI wird ein erster Test sein).
  Die Stimmengewinne der Gruppierungen links von der Sozialdemokratie machen hier eine Alternativlösung möglich. Es bleibt festzuhalten, daß es im Augenblick keinen wirklichen Politikwechsel gibt.
  Die Debatte um die Bildung solcher (oft verwirrend als "Mitte-Links" bezeichneten) Regierungen wird in den nächsten Jahren einen wichtigen Platz im politischen und sozialen Leben einnehmen. Diese Debatte ist ein wichtiger Faktor für die Politisierung der sozialen Bewegungen heute - wenn nicht sogar der wichtigste. Sie ist aber auch ein klärender Faktor, und häufig eine Trennungslinie zwischen der Linken und der Sozialdemokratie.
  Diese Frage hat der PRC seit ihrer Gründung 1991 schon zwei Spaltungen eingebracht. In Frankreich untergräbt sie die PCF aufgrund ihrer unklaren Ausrichtung und droht, sie in die finale Krise zu treiben. In Schweden führte sie direkt nach der Wahl zu einer Links-Rechts-Spaltung innerhalb der Linkspartei, und das angesichts einer an Neoliberalismus und EU-Beitritt festhaltenden Sozialdemokratie. In Deutschland kündigte der Chef der PDS während des Wahlkampfs eine "programmatische Anpassung" an, was allerorten als Versuch gewertet wurde, die Partei salonfähig zu machen. Und das Ziel, regierungsfähig zu werden, bestimmt schon seit vielen Jahren die Politik der Grünen überall dort, wo das für sie irgendwie greifbar ist.
  Revolutionäre Linke
  Die revolutionäre Linke ist kaum oder gar nicht auf die Auseinandersetzung mit diesem taktischen Problem vorbereitet, einem Problem von immenser Bedeutung, das sich jetzt konkret stellt. Tatsächlich weiß man schon im voraus, daß eine solche "Mitte-Links-Regierung" nicht mit dem Kapitalismus brechen und auch kaum die neoliberale Politik aussetzen wird.
  Gleichzeitig läuft eine, auch nur indirekte, Begünstigung einer Rückkehr der Rechten an die Regierung Gefahr, in den Augen breiter Wählerschichten und wichtiger Teile der Basis der sozialen Bewegungen als Katastrophe zu erscheinen.
  Eine genauere Analyse, eine behutsame und intelligente Taktik, eine Gesamtheit von gleichzeitig "realistischen" und radikalen Forderungen, eine am öffentlichen Bedürfnis ausgerichtete Diskussion - die Frage der "politischen Pädagogik" ist entscheidend dafür, daß die antikapitalistische Linke in der Debatte Fuß fassen kann.
  Die Erfahrungen zeigen, daß dies sehr kompliziert ist. Einer Regierung der Linken erlauben, ins Amt zu kommen? Einverstanden, aber: wie soll man das formulieren? Und wenn das (wegen institutioneller Regeln) voraussetzt, daß dem Haushalt zugestimmt werden muß? Soll man Änderungswünsche einbringen - also den Text verbessern - oder andere Zugeständnisse fordern? Und wie weit geht diese "Toleranz"?
  Wann ist die politische Bilanz der Regierung negativ, weil sie ihren Kredit bei den Arbeitenden und der Jugend verspielt hat? Ab wann ist die "Politik des kleineren Übels" kontraproduktiv? Unter welchen Bedingungen zieht man sich zurück? Und wie überwindet man die Kräfte der Trägheit, des Konservatismus, die sich genau auf dem Boden einer solche Regierungsunterstützung bilden: die Gewählten, die materiellen Mittel des Funktionierens, der Zugang zu den Medien?
  Antikapitalistische Umgruppierung
  Mit diesem Problem muß man sich auseinandersetzen, es geht um mehr als ein politisches Spiel. Es geht um die unmittelbaren sozialen Forderungen der Beschäftigten, der Frauen, der Jugend. Es geht um den politisch bewußten Teil der sozialen Bewegung. Es geht um das zu schmiedende Bündnis zwischen der revolutionären Linken und anderen radikalen politischen Strömungen im Umfeld der Kommunistischen oder grünen Parteien und der Sozialdemokratie. Wir müssen ein offenes Auge haben für Umgruppierungen, die sich auf die sozialdemokratischen Parteien und damit auf die ihre Mitglieder in den sozialen Bewegungen auswirken.
  Die anarchosyndikalistischen Strömungen ziehen es im allgemeinen vor, dieses Problem zu ignorieren. Dasselbe gilt auch für einige Strömungen, die sich auf den Trotzkismus berufen. Doch es ist eine Schlüsselfrage. Die gesamte Geschichte der sozialen Bewegungen beweist dies.
  In dem Maße, wie ihr Einfluß in der Gesellschaft wuchs, versuchte sie auch immer, ihre Wirkung politisch-institutionell auszuweiten: über das Parlament oder eine Regierungsbeteiligung. Keine Massengewerkschaft kann es sich sparen, politisch aktiv zu werden, kann darauf verzichten, selbst eine Partei zu gründen [bspw. die britische Labour Party zu Beginn und die PT in Brasilien am Ende dieses Jahrhunderts].
  Aus der Sicht der antikapitalistischen Umgruppierung sind solche Schritte grundlegend: Solange sie ihre Taufe in allgemeinen Wahlen nicht erfolgreich (mit eine signifikanten Zahl von Abgeordneten) absolviert hat, bleibt jede revolutionäre Linke eine "Aktionsgruppe". Sicher ist sie politisch, aber ihre "Nützlichkeit" beschränkt sich auf den Rahmen der sozialen Kämpfe. Doch jeder wirkliche Erfolg fordert sofort tagtägliche politische Entscheidungen, die auch "binden".
  Die Perspektive einer Neuformierung "auf der Linken der Linken" besteht in der Aussicht auf die Entstehung einer neuen breiten und vielfältigen politischen Kraft - antikapitalistisch, feministisch, internationalistisch und mit Masseneinfluß.
  Der Erfolg wird sich in der vor uns liegenden Phase in zweierlei Hinsicht zu erweisen haben: Wird es gelingen, sich mit den kämpferischen Kräften zu verbünden, die aus Konflikten zwischen sozialen Bewegungen und der regierenden Sozialdemokratie hervorgehen? Und wird es gelingen, ein Bezugspunkt im Hinblick auf Politik, Institutionen und Wahlen zu werden? Diese beiden Aspekte hängen sehr eng miteinander zusammen.
  Es tut sich also in der kommenden Periode, zumindest in einigen Ländern, eine wirkliche praktische Chance auf.
  Francois Vercammen
  Francois Vercammen ist Mitglied des Vereinigten Sekretariats der IV.Internationale.
 


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