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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 26.11.1998, Seite 16

Kalkül und Macht

Nikaragua nach der Katastrophe

Geh zu den Toten, Mörder!" rufen Menschen auf einer Straáe in Le¢n im Norden Nikaraguas, während ein Mann sich anschickt, aus einer silbergrauen Staatskarosse zu steigen. Es ist Arnoldo Alem n, seit fast zwei Jahren nikaraguanischer Staatspräsident. Zu diesem Vorfall in Le¢n kam es am 3.November 1998, vier Tage nach einer der gröáten Naturkatastrophen, die praktisch den gesamten mittelamerikanischen Raum heimsuchte. Noch ist nicht sicher, wie hoch die Zahl der Todesopfer ist, aber die Überlebenden in Le¢n halten Alem n und seine Regierung für mitschuldig am Tod mehrerer tausend Menschen.
  Das "Nikaraguanisches Institut für territoriale Studien" verkündete bereits eine Woche vor Beginn der Regenfälle Mitte Oktober die Gefahr, daá der Hurrikan Mitch das nationale Gebiet heimsuchen könnte. Die Regierung veranlaáte daraufhin weder präventive Maánahmen, noch wurde die Bevölkerung in Alarmbereitschaft versetzt. Auch wurden keine Helfergruppen zusammengestellt, wie etwa beim Hurrikan Joan 1988.
  Das Ausmaá der Katastrophe und ihre Auswirkungen wurden bagatellisiert. Eindeutiger Ausdruck hiervon: die Gefahr, die von einem möglichen Erdrutsch am Vulkan Casitas in Posoltega ausging, wurde von der Regierung heruntergespielt und die Bürgermeisterin, die im Vorfeld vor der Gefahr warnte, beschuldigt, Gerüchte zu verbreiten. Durch den Erdrutsch starben über 1500 Menschen.
  Die ersten Transporte von Hilfsgütern mit Medikamenten und Kleidung für die Überlebenden trafen hier erst am 5.November ein. Auch in den anderen betroffenen Gebieten fehlte es an den elementarsten Versorgungsgütern. Erst am 31.10. begann die Armee mit der Bergung und der Notversorgung. Seitdem ist sie zwar pausenlos im Einsatz, doch Hubschrauber stehen bei weitem nicht in ausreichendem Maáe zur Verfügung. Die ihrer Existenzgrundlage beraubten Menschen fühlen sich von der Regierung alleingelassen.
  Trotz dieser offensichtlichen Notlage erklärten verschiedene Ministerien wiederholt, der Notstand sei nur vorübergehend, es gebe reichlich und genügend Nahrungsmittel, die Beinträchtigung der Ernten sei nicht alarmierend und die Straáen und Brücken würden schnell repariert.
  Der Vizepräsident der Republik lehnte Lebensmittelhilfen zunächst mit der Begründung ab, daá die Bevölkerung daran gewöhnt sei, gallo pinto (Reis mit Bohnen) zu essen und Lagervorräte ausreichend vorhanden seien.
  Offensichtlich ging es der Regierung darum, gegenüber dem IWF, ausländischen Regierungen und vor allem Investoren, das Bild eines sich stabilisierenden Landes aufrechtzuerhalten. Darin sind nicht nur Streiks, Straáenschlachten und bewaffnete Banden auf dem Land unerwünscht, sondern auch Naturkatastrophen, die Instabilität bedeuten. So sagte der Minister für Auswärtige Zusammenarbeit: "Das Strukturanpassungsprogramm ESAF II wird durch die jetzige Situation keinerlei Modifizierung erleiden. Es wird erfüllt."
  Trotz ausbrechender Epidemien lehnte Alem n das Angebot Kubas, eine kubanische Ärztebrigade sowie Medikamente zu schicken, ab. Diese Zurückweisung ist bei der Bevölkerung auf groáes Unverständnis gestoáen, da selbst der Diktator Somoza beim Erdbeben 1972 kubanische Ärztebrigaden akzeptierte. Die Ablehnung kommentierte Alem n zynisch: "Wollen Sie, daá die kubanischen Ärzte zum Essen hier nach Nikaragua kommen?"
  Die Auswirkungen des Hurrikans prägen die politischen Auseinandersetzungen und das Tagesgeschehen in Nikaragua. Machtkonstellationen, die sich seit Januar 1997, dem Machtantritt des erzkonservativen Präsidenten Alem n ergeben haben, verändern sie bislang nicht.
  Die radikale Rhetorik der
  FSLN, die seit Januar 1997 die liberale, durch Machtmiábrauch gekennzeichnete Politik der liberalen Regierung angreift, wurde im öffentlichen Kontext beibehalten. Hinter den Kulissen jedoch, prägen geheime Verhandlungen das politische Geschehen. An einem Tisch finden sich die regierenden Liberalen mit der immer noch gröáten Oppositionspartei FSLN. Ziel der Verhandlungen ist die Machtkonsolidierung, die Aufteilung von Räumen zwischen den beiden politischen Polen.
  Beide Parteien wollen eine Wahlreform, die die Hauptparteien finanziell begünstigt. Die
  FSLN fordert darüber hinaus eine Neubesetzung und mehr Sitze im Obersten Wahlrat, da sie dieses Wahlmanagementgremium für die eigene Wahlniederlage von 1996 verantwortlich macht. Des weiteren fordert sie mehr Sitze beim Obersten Gerichtshof.
  Alem n hingegen versucht seine Mehrheiten im Obersten Wahlrat und Obersten Gerichtshof zu behalten, ist aber offensichtlich dennoch bereit, den Spielraum der FSLN zu vergröáern, wenn im Gegenzug das Wahlgesetz bezüglich der Wiederwahl zum Präsidenten geändert wird und so seine Wiederwahl technisch ermöglicht wird.
  Ein weiterer Verhandlungspunkt ist die Etablierung eines Zweikammersystems (Nationalversammlung und Senat), sowie die Ernennung aller Expräsidenten zu Senatoren auf Lebenszeit. Die Ernennung zum Senator auf Lebenszeit soll mit Ortega beginnen. Das schlösse eine lebenslange Immunität ein. Dies würde für Ortega bedeuten, daá er bezüglich der Anklage seiner Stieftochter Zoilam‚rica wegen jahrelangen sexuellen Miábrauchs zeitlebens strafrechtlich nicht zu belangen wäre.
  Darüber hinaus stehen bei den Verhandlungen für die FSLN-Führer gut dotierte Machtpositionen in den Vorständen staatlicher Institutionen und der Banken sowie Steuervergünstigungen für FSLN-Unternehmen und die endgültige Klärung bezüglich der APT-Betriebe (arbeitereigene Betriebe) zur Position, in denen wichtige FSLN-Führungskader persönliche ökonomische Interessen haben.
  Wenn Ortega dem Vorwurf, unter Ausschluá der Öffentlichkeit mit Alem n zu paktieren, entgegenhält, es gäbe keinen Pakt, sondern die FSLN beanspruche lediglich einen Spielraum, der ihr als zweite Kraft nach den Wahlen zustehe, stellt sich die Frage, warum die FSLN-Fraktion aufgrund ihres derzeitigen Übergewichts im Parlament, mit 36 gegenüber 33 Abgeordneten der Liberalen Partei, nicht den Spielraum nutzt, um eine vehemente Oppositionspolitik zu betreiben, eine Politik, die sich gemeinsam mit der Basis für die Belange der verarmten Bevölkerungsmehrheit einsetzt, statt sich in inoffiziellen und fragwürdigen Verhandlungen aufzureiben.
  Doch in der jeweiligen Situation, in der sich beide Parteien (bzw. ihre Führungskräfte) befinden, scheinen sowohl die von Alem n geführte PLC als auch die von Ortega dominierte FSLN trotz verbal betonter extremer ideologischer Gegensätze, hauptsächlich daran interessiert zu sein, eigene Positionen zu stabilisieren, Machtquoten aufzuteilen und sich diese gegenseitig zu garantieren.
  Ein gefährliches Spiel für die FSLN, die immer mehr an Glaubwürdigkeit einbüát und eine enttäuschte Basis zurückläát. An dieser politischen Leitlinie änderte auch die Katastrophe bislang nichts. Zwar versuchten die FSLN-Parlamentarier den Präsidenten aufgrund des Miámanagements bei der Soforthilfe abzusetzen. Doch die Initiative scheiterte.
  Ein Abbruch der Verhandlungen zwischen Regierung und FSLN-Führungsspitze ist dennoch nicht in Sicht. Sie sollen "zur gegebenen Zeit" fortgesetzt werden. Das "Politische", so FSLN-Chef Orgega, sei von der derzeitigen Situation zu trennen und "sollte nicht vermischt werden".
  Daá das Politische nicht von der derzeitigen Situation zu trennen ist, zeigt Alem ns Umgang mit den internationalen Hilfslieferungen. Sein erster Versuch, alle Lieferungen über das von ihm gesteuerte Nationale Notstandskomitee zu kanalisieren, scheiterte am nationalen wie internationalen Druck. Seitdem können die Lieferungen direkt an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) weitergeleitet werden.
  Die Hilfsleistungen, die an die Regierung flieáen, werden - so sie nicht auf den Märkten auftauchen, was auch schon vorgekommen ist - unter der Flagge der liberal-konstitutionellen Partei Alem ns verteilt. Da, wo diese nicht präsent ist, es jedoch für Alem n darum geht, sandinistische Basisstrukturen und Gemeindevertretungen zu umgehen, eilt die katholische Amtskirche zum Schulterschluá herbei - ein Vorgehen, das an die massive Wahlkampfhilfe, die Alem n 1997 vom katholischen Kardinal Obando y Bravo erfuhr, anknüpft.
  Auf der Strecke bleiben die Menschen. Über 60 Prozent der Ernten sind zerstört, in den am härtesten betroffenen Regionen Chinandega, Le¢n, Esteli, Jinotega, Matagalpa und der Costa Atl ntica ist das Wasser von nicht geborgenen Leichen und Tierkadavern verseucht. Cholera breitet sich aus. Die Menschen brauchen neben der Nothilfe langfristige Unterstützung, die effizient über dezentrale NGOs kanalisiert wird. Um den Wiederaufbau des Landes vorantreiben zu können, müssen langfristig Basisorganisationen gestärkt werden.
  Annette Massmann
 


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