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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 1

Soziale Offensive in Frankreich

San Francisco, 10.Dezember 1948 / Paris, 10.Dezember 1998

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die "als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal" formuliert: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit ... Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit ... Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der emnschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist."
  Paris, 10.Dezember 1998: Mehrere zehntausend Erwerbslose demonstrieren auf dem Platz der Menschenrechte für die Anhebung der sozialen Mindestleistungen; sie folgen dem Aufruf der vier großen Erwerbslosenorganisationen, der Gewerkschaften SUD sowie CFDT (Opposition). Das ist die französische Art daran zu erinnern, daß im triumphierenden Kapitalismus ohne gesellschaftliche Alternative allein in Frankreich über hundert Menschen während der jüngsten Kältewelle erfroren sind, die Zahl der Menschen ohne Einkommen und ohne Dach über dem Kopf zunimmt, die Menschenwürde Tag für Tag durch Armut, Hunger und Verfolgung mit Füßen getreten wird.
  Und was geschieht auf der rechten Seite des Rheins? Amnesty International lädt nach Frankfurt am Main zu einer Versammlung in der Paulskirche ein, auf der ein Vertreter von Siemens sagen darf, sein Unternehmen sei sich der Verantwortung für die Menschen bewußt und es sei ihm nicht bekannt, daß Kleinbauern, die gegen den Verlust ihres Landes durch den Bau des Narmada-Staudamms in Indien protestierten - an dem auch Siemens beteiligt ist - von der Polizei zusammengeschlagen wurden.
  Französisch klingt anders:
  Da haben sich die Eisenbahner wieder, wie schon im Winter 1995/96, an die Spitze des sozialen Protests gestellt und fordern mit Streiks, die bis heute andauern, ein Stop des Personalabbaus, Neueinstellungen und die Neuordnung des öffentlichen Transportsystems in Europa: bedarfsgerecht, billig, flächendeckend und sparsam im Energieverbrauch.
  •Am 23.November sind sie, zusammen mit den Eisenbahnergewerkschaften aus sieben anderen europäischen Ländern - Spanien, Italien, Portugal, Belgien, Luxemburg, Griechenland - in einen eintägigen europaweiten Streik gegen die weitere Privatisierung der Bahn getreten. Der erste europäische Streik dieser Art hat im Oktober 1992 stattgefunden; seither haben sich die europäischen Eisenbahner EU-weit gut koordiniert. Die GdED in Deutschland hat den Streik nur verbal unterstützt, angeblich war dies ein politischer Streik, der in Deutschland nicht erlaubt sei.
  Am 27.November haben die französischen Eisenbahner den Streik fortgesetzt. Die Lokführer fahren nicht mehr, die Kontrolleure fertigen nicht mehr ab und an den Schaltern werden keine Fahrkarten mehr verkauft: Seit 1992 sind 25000 Stellen bei der Bahn abgebaut worden, obwohl Verkehr wie Umsatz zugenommen haben. Die Bahn schaut nur darauf, daß ihr Haushalt ausgeglichen ist, und das geht voll auf die Arbeitsbedingungen und die Sicherheit (vgl. S.4).
  •Am 2. und 3.Dezember haben die Angestellten der Post und der Banken für die 35-Stunden-Woche und für mehr Arbeitsplätze gestreikt. Im Gesundheitswesen bereiten die Gewerkschaften CGT und SUD Aktionen gegen die Sparpläne in den Krankenhäusern vor, weil das Parlament demnächst über den Sozialversicherungshaushalt abstimmen will.
  •Und die Erwerbslosen sind wieder vol•mit von der Partie: Seit September organisieren die drei Erwerbslosenorganisationen AC!, MNCP und APEIS an jedem Monatsanfang Aktionstage zu einer bestimmten Forderung: kostenlose Beförderung, Anhebung der sozialen Mindestleistungen. Ende November hat die CGT - wie im letzten Jahr - 15000 Erwerbslose in Marseille zusammengetrommelt, um vor den Arbeitsämtern die alljährliche "Jahresendprämie" einzufordern. Das sind Überschüsse im Haushalt "Leistungen an Erwerbslose", die ihnen im vergangenen Jahr erstmals vorenthalten werden sollten; durch ihre Aktionen zwischen Weihnachten und Neujahr hatte die CGT damals ihre Ausschüttung erzwungen.
  Diesmal haben mehr Erwerbslose die Aktion befolgt als im vergangenen Jahr. In zahlreichen Städten des Landes besetzten sie die Arbeitsämter; in Marseille haben 300-400 Erwerbslose der CGT Arbeitsämter gestürmt, die die Auszahlung verweigern wollten. In Paris wurden die Ämter in der ersten Dezemberwoche vorsorglich für eine ganze Woche geschlossen.
  Die öffentliche Meinung ist auf der Seite der Erwerbslosen: wenn andere Weihnachtsgeld bekommen, warum nicht auch sie? Vor der Demonstration am 10.12. in Paris gab es eine Serie von Aktionstagen; spektakuläre Aktionen sind landesweit für den 21.12. geplant. Und auch nach den Feiertagen geht es weiter...
  Wieder einmal stehen Forderungen gegen die Privatisierung der öffentlichen Dienste, für Arbeitsplätze und für ein menschenwürdiges Einkommen im Mittelpunkt.
  Die Protestierenden lassen sich nicht davon beeindrucken, daß die Umweltministerin eine Grüne ist und der Verkehrsminister zur KP gehört, und auch nicht davon, daß die CGT deswegen zwar den europäischen Streik und die Aktionen der Erwerbslosen, aber nicht den nationalen Eisenbahnerstreik unterstützt; die Mobilisierung findet an der Basis statt.
  Geschichte wiederholt sich nicht. Diesmal unterstützen die Eisenbahner die Demonstration der Erwerbslosen am 10.12. nicht. Der Grund: Bei den Eisenbahnern sind es hauptsächlich die Kontrolleure, die streiken. Aber mit denen liegen die Erwerbslosen über Kreuz, denn die stellen ihnen immer nach. Trotzdem stehen die Chancen gut, daß die Proteste sich ausweiten.
  Angela Klein
 


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