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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 5

"Unser Ziel muß Frieden sein!"

Türkei reagiert mit Massenverhaftungen auf Friedensangebot

Seit der Ankunft des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, in Rom ist die Frage einer politischen Lösung des Krieges in Kurdistan auf der europäischen Tagesordnung. Nach einigen Wochen des Tauziehens zwischen der Türkei, Italien, Deutschland und den USA hat zumindest die Bundesregierung mit ihrem Verzicht auf die Auslieferung Öcalans ein Zeichen gesetzt, das Anerkennung verdient. Daß in der öffentlichen Diskussion der Verzicht als Inkonsequenz kritisiert wurde, hat sie sich jedoch selbst zuzuschreiben.
  Zu sehr hatten ihre Repräsentanten sogenannte "Sicherheitsbedenken" ins Zentrum der Begründung gestellt und damit dem alten Kriminalisierungsklischee von den gewalttätigen KurdInnen neue Nahrung verschafft.
  Bis ins Unerträgliche steigerte sich die Rhetorik der Kriminalisierung in den Kommentaren der Süddeutschen Zeitung und der Taz. Dort verhöhnen die Autoren Joffe und Pickert, die Öcalan wahlweise mit Diktatoren, Tyrannen oder Kriegsverbrechern wie Pinochet oder Karadzic gleichsetzen, nicht nur die Opfer in Chile, in Bosnien, in Kurdistan und in der Türkei, sie gießen auch Öl ins Feuer der Kriegstreiber in Ankara.
  Ob wohlgesonnen oder feindselig, die internationale Diskussion kreist vorwiegend um die Dämonisierung oder Entzauberung der Person Öcalan. Nur schwer können sich Stimmen, die den sogenannten Fall Öcalan als Fall Kurdistan thematisieren möchten Gehör verschaffen. Die Chance, die die Entscheidung für die Initialisierung einer politischen Lösung bietet, tritt dabei fast völlig in den Hintergrund.
  Unterdessen hat die türkische Regierung im Einklang mit den staatstragenden Medien die Jagd auf die BefürworterInnen eines Friedensprozesses eröffnet. Ununterbrochen kombiniert die Fernsehpropaganda die Bilder weinender schreiender Angehöriger auf Begräbnissen von Soldaten, mit den Hinweisen auf die hohe Anzahl von zivilen UnterstützerInnen der PKK.
  So werden z.B. die Vizevorsitzenden des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin und Osman Baydemir, systematisch als verlängerter Arm der PKK denunziert, und laufen ständig Gefahr, ebenfalls Opfer von Übergriffen und Anschlägen zu werden, ähnlich wie ihr Vorsitzender Akin Birdal, der im Mai schwer verletzt nur um Haaresbreite ein Attentat überlebte.
  Seit sich abzeichnet, daß Öcalan nicht an die Türkei ausgeliefert wird, erfassen Ausschreitungen das gesamte Land. Gruppen von über tausend Zivilfaschisten ziehen vor kurdischen Einrichtungen auf, dringen dort ein, verprügeln die Anwesenden, zerstören die Einrichtungen und lassen die Büros zuweilen in Flammen aufgehen.
  "Wie auf ein Zeichen stürzten sich Unmengen von Leuten auf die kleine Gruppe und begannen alle, die sie in die Hände bekamen, brutal zu verprügeln. Viele wurden blutig geschlagen und lagen verletzt auf der Straße – erst dann kam auf einmal Polizei. Doch statt die Angreifer festzunehmen, nahmen sie die verletzten Kurden fest und führten sie zu Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten schon in den Händen der Polizei befanden, wurde die Menge nicht daran gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den Polizeifahrzeugen schlug auch die Polizei auf die Festgenommenen ein … In sämtlichen neun Stockwerken des Gebäudes begannen Personalkontrollen. Ich konnte beobachten, daß sie Menschen unter Schlägen abführten, die nichts mit der Sache zu tun hatten, nur weil ihr Geburtsort im Ausweis ein kurdischer ist. Neben mir wurden drei kurdische Jugendliche festgenommen … Sie führten sie ab und ketteten sie dann mit Handschellen von außen an die Gitter des Passageneinganges. So übe! rließen sie sie der weiter tobenden Menge, die begann, die Jugendlichen unter Parolen wie ‚Die Türkei ist groß, es lebe Atatürk‘, zusammenzuschlagen. Sie schrien um Hilfe und baten die Polizei, sie zu den Polizeibussen zu bringen", heißt es in einem Augenzeugenbericht.
  Während in den Straßen der größeren Städte Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe italienische Fahnen und Waren in Flammen aufgehen lassen, italienische Einrichtungen belagern und zerstören, so daß Angestellte der Botschaft das Gebäude nur noch durch den Hintereingang verlassen können, werden italienische Geschäfte geschlossen, italienischer Sprachunterricht vom Stundenplan gestrichen und der Fernsehsender RAI an der Ausstrahlung gehindert. Die Pogrome werden im Fernsehen wiederum als "Demonstrationen der nationalen Einheit" gepriesen.
  Gleichzeitig brechen die Verhaftungswellen sämtliche Rekorde seit dem Militärputsch von 1980. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins war Ende November die Zahl der festgenommenen Mitglieder der noch immer legalen Demokratischen Partei des Volkes (HADEP), bereits auf 3064 Personen angewachsen.
  Fast alle HADEP-Büros, ebenso wie die Redaktion der prokurdischen Tageszeitung Ülkede Gündem, sind heute zerstört oder geschlossen. Zwei der Inhaftierten, Hamit Cakir und Metin Yurtsever, wurden im Zuge ihrer Verhaftung von der Polizei totgeschlagen.
  Haftbefehl erlassen wurde auch gegen den Vorsitzenden der Partei, Murat Bozlak, der bereits einen großen Teil dieses Jahres hinter Gittern verbracht hat. Gegen ihn sind Verfahren anhängig, die ihn bis zu 22 Jahren hinter Gitter bringen können.
  Bozlaks erneute Inhaftierung geht auf einen Aufruf unter dem Titel "Unser Ziel muß Frieden sein!" zurück, mit dem er Mitte November öffentlich erklärt hatte:
  "Das kurdische Problem ist ein Problem aller, die in der Türkei leben. Es ist das Problem von uns allen. Eine friedliche und demokratische Lösung dieses Problems ist eine Notwendigkeit. Wir müssen Anstrengungen unternehmen, jegliches weitere Leiden zu verhindern, und jene Bedingungen schaffen, die nötig sind, daß 62 Millionen Menschen gleichberechtigt und frei zusammenleben können.
  Ganz Kurdistan, insbesondere die Provinz Dersim wird von türkischen Jagdflugzeugen systematisch bombardiert. Allein dort sind mittlerweile mehr Soldaten stationiert, als der Provinz EinwohnerInnen verblieben sind. Jeden Tag mehren sich die Meldungen über Tote und Verletzte. Doch die Öffentlichkeit beschäftigt der sogenannte "Fall Öcalan", als handle es sich lediglich um einen Gerichtsthriller.
  In dieser Situation haben die Außenminister Italiens und der BRD den Auftrag erhalten, für die EU eine Problemlösung herbeizuführen. Sollte es nicht gelingen, sie dazu zu bringen, die Kriegssituation, die Menschenrechtsverletzungen und die Verbrechen der türkischen Machthaber als das eigentliche Problem wahrzunehmen und dieses einer demokratischen Verhandlungslösung zuzuführen, wird der "Fall Öcalan" nichts weiter als eine erneute Bankrotterklärung Europas in Menschenrechtsfragen charakterisieren.
  Knut Rauchfuss
 


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