Artikel |
Das Gezerre der neuen Regierungskoalition um Steuer-
und Sozialversicherungsreformen ist nicht dazu angetan, das Wort
"Reform" nach sechzehn Kohl-Jahren in neuem Licht schimmern zu
lassen.
Ein herausragendes Beispiel: der Kompromiß um die 620-Mark-Jobs. Trat man
im Oktober noch mit der Vorstellung der Eindämmung ungeschützter
Beschäftigungsverhältnisse an, ist Ende November daraus ein Modell der
Stabilisierung dieses Niedriglohnsektors geworden. Die Jobs soll es weiter geben – dies
die wichtigste "Neuerung" der Schröder-Fischer-
Regierung.
Sie sollen aber nicht mehr vom Arbeitgeber pauschal mit 20 Prozent versteuert werden,
sondern 12 Prozent sollen in die Renten- und 10 Prozent in die Krankenkassen
fließen. Eine "Mehrbelastung" des Arbeitgebers von 12 Mark pro
Job. Eine Umschichtung der Finanzen von Steuer- zu Sozialeinnahmen. Eine
Ausweitung im Osten von bisher 520 Mark auf 620 Mark.
Und die "frohe Botschaft" für die Beschäftigten: aus diesen
Beiträgen zur Rentenkasse entsteht keinerlei Anspruch, es sei denn, sie tragen
aus eigener Tasche 7,5 Prozent dazu bei.
Mit dieser "Reform" – wenn sie denn so verwirklicht wird – kann vor allem
eins nicht erreicht werden: eine Eindämmung der Aufteilung von Vollzeitstellen
in Billiglohnjobs.
Nach wie vor "lohnt" sich für den Arzt, Architekt, Zeitungsverlag,
Filialkettenkonzern, Spielhallen- und Tankstellenbesitzer und Privatmann die
Beschäftigung von Frauen in diesen prekären
Beschäftigungsverhältnissen: als Putzfrau, Kassiererin, oft gut
ausgebildete Helferin mit Billiglöhnen. Wer "Brutto wie Netto"
zahlen kann, senkt das gesamte Lohnniveau.
Daß auch viele Frauen als über den Ehemann "mitversorgte"
Zuverdienerin zwangsläufig ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Jobs
hatten, sei nicht verschwiegen. Vor allem haben aber auch deren Männer damit
die Vorteile des steuer- und versicherungsfreien Familienzuverdienstes – auch diese
geschlechtsspezifische Benachteiligung wird nicht angetastet.
Und die voll arbeitenden Kolleginnen dieser Frauen müssen sich die niedrigen
Löhne ja vorhalten lassen, und können kaum Solidarität für
Forderungen dagegen finden.
Für die Studenten und Rentner, die bisher einen 620-Mark-Job hatten,
wäre eine Lösung machbar gewesen. Aber die generelle Einbeziehung
aller Einkommen in die Versicherungspflicht war die Meßlatte für eine
wirkliche "Reform" – sie ist nicht annähernd erreicht
worden.
Die "Bauchschmerzen" der SPD-Linken und -Frauen sowie die
offensichtliche Verfassungsproblematik können diese "Reform" wohl
nicht bremsen. Ein weiterer Effekt bleibt für die ungeschützten
Beschäftigten: anhand der Sozialversicherungsnummer ist ihre Tätigkeit
nun klar erfaßbar, kontrollierbar, und sie sind – bei Überschreitung von
Grenzen – zur Zahlung leicht heranzuziehen.
"Mißbrauch" wird also nur bei den 6 Millionen von 620-Mark-Jobs
Abhängigen bekämpft werden, nicht jedoch der strukturelle
Mißbrauch durch denjenigen, der die prekäre Lage der
Geringbeschäftigten ausnutzt.
Der Lob von Mittelstand, Handel und Industrie für "den Erhalt der 620-
Mark-Jobs" ist ein deutliches Zeichen, was von derlei "Reformen" zu
halten ist.
Rolf Euler