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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 6

620-Mark-Jobs

Immer noch gutes Geschäft für Arbeitgeber

Das Gezerre der neuen Regierungskoalition um Steuer- und Sozialversicherungsreformen ist nicht dazu angetan, das Wort "Reform" nach sechzehn Kohl-Jahren in neuem Licht schimmern zu lassen.
  Ein herausragendes Beispiel: der Kompromiß um die 620-Mark-Jobs. Trat man im Oktober noch mit der Vorstellung der Eindämmung ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse an, ist Ende November daraus ein Modell der Stabilisierung dieses Niedriglohnsektors geworden. Die Jobs soll es weiter geben – dies die wichtigste "Neuerung" der Schröder-Fischer- Regierung.
  Sie sollen aber nicht mehr vom Arbeitgeber pauschal mit 20 Prozent versteuert werden, sondern 12 Prozent sollen in die Renten- und 10 Prozent in die Krankenkassen fließen. Eine "Mehrbelastung" des Arbeitgebers von 12 Mark pro Job. Eine Umschichtung der Finanzen von Steuer- zu Sozialeinnahmen. Eine Ausweitung im Osten von bisher 520 Mark auf 620 Mark.
  Und die "frohe Botschaft" für die Beschäftigten: aus diesen Beiträgen zur Rentenkasse entsteht keinerlei Anspruch, es sei denn, sie tragen aus eigener Tasche 7,5 Prozent dazu bei.
  Mit dieser "Reform" – wenn sie denn so verwirklicht wird – kann vor allem eins nicht erreicht werden: eine Eindämmung der Aufteilung von Vollzeitstellen in Billiglohnjobs.
  Nach wie vor "lohnt" sich für den Arzt, Architekt, Zeitungsverlag, Filialkettenkonzern, Spielhallen- und Tankstellenbesitzer und Privatmann die Beschäftigung von Frauen in diesen prekären Beschäftigungsverhältnissen: als Putzfrau, Kassiererin, oft gut ausgebildete Helferin mit Billiglöhnen. Wer "Brutto wie Netto" zahlen kann, senkt das gesamte Lohnniveau.
  Daß auch viele Frauen als über den Ehemann "mitversorgte" Zuverdienerin zwangsläufig ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Jobs hatten, sei nicht verschwiegen. Vor allem haben aber auch deren Männer damit die Vorteile des steuer- und versicherungsfreien Familienzuverdienstes – auch diese geschlechtsspezifische Benachteiligung wird nicht angetastet.
  Und die voll arbeitenden Kolleginnen dieser Frauen müssen sich die niedrigen Löhne ja vorhalten lassen, und können kaum Solidarität für Forderungen dagegen finden.
  Für die Studenten und Rentner, die bisher einen 620-Mark-Job hatten, wäre eine Lösung machbar gewesen. Aber die generelle Einbeziehung aller Einkommen in die Versicherungspflicht war die Meßlatte für eine wirkliche "Reform" – sie ist nicht annähernd erreicht worden.
  Die "Bauchschmerzen" der SPD-Linken und -Frauen sowie die offensichtliche Verfassungsproblematik können diese "Reform" wohl nicht bremsen. Ein weiterer Effekt bleibt für die ungeschützten Beschäftigten: anhand der Sozialversicherungsnummer ist ihre Tätigkeit nun klar erfaßbar, kontrollierbar, und sie sind – bei Überschreitung von Grenzen – zur Zahlung leicht heranzuziehen.
  "Mißbrauch" wird also nur bei den 6 Millionen von 620-Mark-Jobs Abhängigen bekämpft werden, nicht jedoch der strukturelle Mißbrauch durch denjenigen, der die prekäre Lage der Geringbeschäftigten ausnutzt.
  Der Lob von Mittelstand, Handel und Industrie für "den Erhalt der 620- Mark-Jobs" ist ein deutliches Zeichen, was von derlei "Reformen" zu halten ist.
  Rolf Euler
 


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