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Ausgerüstet mit einem Diktiergerät und
einem kleinen Fotoapparat machte sich Frau Pureza Lopes Loyola im Jahr 1993 auf
den Weg, um ihren verschwundenen Sohn zu suchen. Die 54jährige
Landarbeiterin durchkämmte Fazendas (Gutsländereien) im Nordosten
Brasiliens. Sie stieß auf Menschen, die unter unsäglichen
Arbeitsbedingungen unentgeltlich arbeiteten.
"Auf der Suche nach meinem Sohn traf ich auf Hunderte Sklavenarbeiter …
Viele wurden geschlagen und hungerten. Auf einer Fazenda erzählten sie mir,
daß Arbeiter, die zu erschöpft zum arbeiten waren, an Bäumen
aufgehängt und von Revolvermännern als Zielscheiben benutzt
wurden" (Anti-Slavery International Reporter, 1998).
Die Suche nach ihrem Sohn wurde zu einer Dokumentation von Sklavenarbeit im
brasilianischen Bundesstaat Pará. Im Oktober 1997 wurde sie dafür mit dem
Anti-Slavery International Award ausgezeichnet. Mit diesem Preis würdigt die
seit 1839 arbeitende Organisation Anti-Slavery International (ASI) jedes Jahr
Einzelpersonen oder Institutionen für besondere Verdienste im Kampf gegen die
Sklaverei.
…in welche Freiheit?
Legal ist Versklavung auch in Brasilien nicht. Nicht zuletzt der Arbeit der ASI und
ihrer Unterstützung brasilianischer Antirassisten ist es zu verdanken, daß
die brasilianische Monarchie 1888 endlich, als letzter Staat, 40 Jahre nach der
französischen Menschenrechtserklärung, die Sklaverei verbot.
Bis zur Mitte des 17.Jahrhunderts war die portugiesische Kolonie Brasilien die
größte Zuckerproduzentin und Amerikas wichtigster Sklavenmarkt. Um
die Wälder im Nordosten zu roden und die riesigen Zuckerrohrplantagen
anzulegen und zu bearbeiten, wurden Unmengen von Arbeitskräften
benötigt. Die UreinwohnerInnen gingen an der Zwangsarbeit schnell zugrunde.
Fünf Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner wurden bis 1888 in die
Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen im Nordosten und die Goldminen von Minas Gerais
verschifft. Eine Million Menschen starb während der Überfahrt.
Nach der Freilassung stellten die Schwarzen die billigen Arbeitskräfte für
die Industriegesellschaft. Heute ist den Unternehmen die Hautfarbe ihrer
ZwangsarbeiterInnen zwar weitgehend egal, aber die sog. gatos (Kater), die Anwerber,
die unter falschen Versprechungen ganze Familien als Arbeitskräfte rekrutieren,
suchen ihre Opfer in der Unterschicht – und wieder sind es in der Mehrzahl Schwarze,
die ihrer Freiheit beraubt werden.
Die kirchliche Comissão Pastoral da Terra (CPT) kämpft seit vielen
Jahren gegen die modernen Formen der Sklaverei im Land. Längst sind Ketten
ihrer Einschätzung nach überflüssig geworden – heute fesseln
Schulden die Arbeitenden an ihren Patron. Die Besitzer großer Fazendas
verpflichten über Anwerber, gatos, LandarbeiterInnen mit falschen
Versprechungen zur Arbeit.
Im südlichen Pará geht es meist um die Rodung riesiger Waldflächen
für die Viehhaltung. Die Arbeitenden werden zu Hunderten auf die Fazenda
transportiert. Lebensmittel können sie nur in dem Laden der Fazenda kaufen.
Am Zahltag wird ihnen mitgeteilt, daß ihnen kein Lohn zustünde – im
Gegenteil: durch den Transport und die Lebensmittelkäufe seien Schulden
entstanden, die es abzuarbeiten gelte. Die Schulden abzuarbeiten ist unmöglich,
da ständig neue Schulden entstehen. Fluchtversuche enden nicht selten
tödlich, die Fazendas halten ihre ArbeiterInnen mit den berüchtigten
"Revolvermännern" in Schach.
Menschenrechtsorganisationen klagen an, daß es den heutigen Sklaven zum Teil
schlechter gehe als zu Zeiten der legalen Sklaverei. Früher versorgten die
Großgrundbesitzer ihr "Eigentum" zumindest so gut, daß es
ihnen so lange wie möglich erhalten blieb. Heute werden Arbeitskräfte
verbraucht und weggeworfen. Ein Sklave ist keine Investition mehr, zu groß ist
die Reservearmee der Armen im von der Kolonialzeit ausgebluteten
Nordosten.
Während einst mächtige Sklavenrebellionen das Land erschütterten,
rebelliert heute kaum jemand mehr. Selbst Fluchtversuche von Sklaven gibt es
erstaunlich wenige. In welche Freiheit? Vielen Arbeitenden erscheint der Weg von
einem Elend ins nächste sinnlos.
Über die Hälfte des Bodens gehört 1% der Bevölkerung. In
kaum einem Land weltweit gibt es eine extremere Besitzverteilung. Die traditionelle
Oligarchie verhindert erfolgreich jede Landreform – und ihre Partei, die PFL, ist
Regierungspartnerin des Präsidenten.
Kohle für die
Stahlproduktion
Die gatos heuern im Nordosten, dem Armenhaus Brasiliens, ganze Familien an. Aber
nicht nur dort gibt es Sklavenarbeit. Weiter südlich, in Minas Gerais, arbeiten
schätzungsweise 30000 ArbeiterInnen, darunter 4000 Kinder, in
Köhlereien, Subunternehmen der multinationalen Stahlproduzenten, die
für ihre ungeheuer energieaufwendigen Hochöfen billigen Brennstoff
benötigen. Aus Eukalyptusbäumen wird in primitiven Lehmöfen
Kohle hergestellt. Arbeitszeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sechs,
manchmal sieben Tage in der Woche. Nachts alle zwei Stunden aufstehen, um nach den
Öfen zu sehen. Überall beißender Rauch. Eine Hütte aus
Abfallholz direkt neben den Öfen. Eine Pritsche als Bett. Lohn gibt es keinen,
dafür immer weitere Schulden für Reis und Bohnen aus dem einzig
erreichbaren Lebensmittelladen, dem Laden des Subunternehmens (Die Zeit,
26.4.1996).
Die Sklavenarbeit sorgt für unerreicht billigen Brennstoff. Die Wälder
gehören den großen Stahlunternehmen. Sie sind die Gewinner des
Geschäfts und dank ihnen zählt Brasilien in der Stahlproduktion
international zur Spitze.
Obwohl die Zustände in Minas Gerais mittlerweile international angeprangert
werden, kommt es nur selten zu konkreten Anklagen. 1995 ermittelte die
Staatsanwaltschaft gegen die brasilianische Mannesmann, die in Minas Gerais
Roheisen und Stahlrohre mit der billigen Holzkohle produziert. Die
Arbeitsbedingungen auf dem Gelände von Mannesmann entsprachen eindeutig
der Zwangsarbeit, hieß es.
Der deutsche Multi will indes von den Zuständen auf dem eigenen Firmenareal
nichts gewußt haben. Er gelobte Besserung. Solange Mannesmann allerdings den
Großteil seines Brennstoffs billig bei Subunternehmen kauft, wird sich an den
Arbeitsbedingungen für die KöhlerInnen wenig ändern. Das
Käufermonopol bestimmt den Preis, und wenn der Preis stimmt, fragt niemand
mehr nach Sklavenarbeit. Die Stahlunternehmen nicht, und schon gar nicht die
Autohersteller aus Deutschland oder den USA, die den Stahl importieren.
Luiz Chaves, der Inspektor des örtlichen "Kommissariats für
Arbeit", der Mannesmann die Staatsanwaltschaft ins Haus geschickt hat und auch
gern mit Journalisten geplaudert haben soll, hat kurz darauf seinen Job verloren. Die
Abracave, der brasilianische Verband für pflanzliche Kohle, in dem sich die
Unternehmen organisieren, ist einflußreich in Minas Gerais.
Daß Luiz Chaves zumindest für kurze Zeit als staatlicher Inspektor gegen
die Sklavenarbeit vorgehen durfte, ist einem Auftritt von Darci Frigo, Rechtsanwalt der
CPT, auf einem UNO-Forum in Genf im April 1994 zu verdanken. Er berichtete dort
mit Unterstützung der ASI über die Sklaverei in seinem Heimatland und
bezichtigte den brasilianischen Staat der Mißachtung internationaler Abkommen
zu Sklavenarbeit.
Die Mühlen der Justiz
Für die gleiche Aussage war Darci Frigo ein paar Jahre zuvor in Brasilien wegen
Verleumdung verurteilt worden. Doch angesichts des Interesses der
Weltöffentlichkeit lenkte die brasilianische Regierung ein. Ja, es gebe
Landarbeiterfamilien, die als Gefangene skrupelloser Landbesitzer
arbeiteten.
Engagierte Staatsanwälte brachten die eingerosteten Mühlen der Justiz
langsam, sehr langsam, ans Laufen. Am 17.Juni 1995 beklagte der
Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso in einer Rundfunkansprache das
Schicksal der versklavten Frauen, Männer und Kinder in Brasilien und speziell
in den Köhlereien von Minas Gerais. Er verkündete die Gründung
einer Exekutivgruppe des Arbeitsministeriums zur Bekämpfung der
Sklavenarbeit.
Diese Arbeitsgruppe arbeitet weitgehend unabhängig unter Beteiligung sozialer
Bewegungen. In mobilen Teams werden Inspektionen durchgeführt, die Beamte
dürfen nicht aus den Bundesstaaten kommen, in denen sie eingesetzt werden. Im
vergangenen Jahr wurden von der Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit der
Bundespolizei einige wirksame Kontrollen durchgeführt.
Revolvermänner, Anwerber, die Geschäftsführer von vier Fazendas
und immerhin drei Großgrundbesitzer standen beim Bundesgerichtshof Marabá
vor Gericht.
Aufsehen erregte dabei der Fall der Fazenda Flor de Mata. Im August 1997 war einem
Jungen die Flucht von dieser Fazenda im Bundesstaat Pará gelungen. Er alarmierte die
Inspektoren, und es gelang, 220 Sklaven zu befreien. Der Besitzer der Fazenda wurde
gezwungen – das ist in der Geschichte Brasiliens bisher einmalig –, dem Staat seinen
Besitz zum gängigen Marktpreis zu verkaufen. Bezahlte Enteignung.
Der Fall irritierte die Gemeinschaft der Grundbesitzer in Pará erheblich – ihr
Einfluß ist groß, und so ist zu befürchten, daß Flor de Mata ein
Einzelfall bleibt.
Die meisten Inspektionen haben weniger Folgen. Am 11.September 1997 fand die
Polizei auf der Fazenda Industria e Comércio Cearense in einem 25 Meter tiefen
Brunnen die Gebeine von acht Menschen. Der Besitzer der Fazenda war bereits zu
einem früheren Zeitpunkt von der CPT wegen Sklavenarbeit angezeigt worden.
Bis es zu der Inspektion kam, war er längst über alle Berge.
Henri Burin des Roziers, Aktivist der CPT, gibt zu bedenken: "Wir haben
Zweifel, daß diese Inspektionen effektiv sind. Trotz der Inspektionen,
Strafprozesse und Bestrafungen der letzten drei Jahre bedienen sich Grundbesitzer
immer noch der Sklavenarbeit. Die Strafen sind eindeutig nicht hoch genug, um sie
davon abzuhalten. Die Strafe des Zwangsverkaufs wurde nur ein einziges Mal, im Fall
Flor de Mata, angewandt. Außerdem schreckt das kaum ab, weil die
Eigentümer ja für den Verlust ihres Landes bezahlt wurden.
Darüber hinaus werden Verfahren so lange vor sich hergeschoben, bis sie
schließlich irgendwie im Sand verlaufen" (Anti-Slavery International
Reporter, Oktober 1998).
Im Dezember 1997 verabschiedete das brasilianische Parlament ein Gesetz gegen die
modernen Formen der Sklaverei und verschärfte das Strafgesetz. Der Vorschlag
von ASI und CPT, Enteignung als Strafe einzuführen, wurde
zurückgewiesen. Das Gesetz muß allerdings noch vom Senat
bestätigt werden. Daß dies, ein Jahr später, immer noch nicht
geschehen ist, deutet darauf hin, daß einflußreiche Interessen der
Ratifizierung des Gesetzes entgegenstehen.
Verteidigung alter Werte
Im Juni 1998 demonstrierten Gutsbesitzer in Redeno im Bundesstaat Pará gegen die
Anti-Sklaverei-Maßnahmen in Brasilien. Der relative Erfolg der Inspektoren
veranlaßte Landeigentümer und Lokalpolitiker dazu, eine Allianz zu
gründen. Diese Allianz verurteilt zwar Zwangsarbeit, fordert aber, daß die
Gesetze gemäß der "soziokulturellen Eigenheiten" der
verschiedenen Landstriche Brasiliens interpretiert werden müsse.
Zu diesem Zweck verlangt sie, die Inspektionen für 120 Tage auszusetzen, und
statt dessen Parás "spezielle Eigenheiten" erforschen zu lassen. Und dazu
gehört ihrer Meinung nach offensichtlich unbezahltes Arbeiten unter
menschenunwürdigen Bedingungen. Die Inspektionen werden zwar offiziell
fortgesetzt, doch die zahme Art, wie das passiert, zeigt deutlich, daß die
Regierung dem Druck der traditionellen Oligarchie nicht standhält.
Die Menschenrechtsorganisation FIAN koordiniert derzeit eine internationale
Kampagne für die Durchführung der längst
überfälligen Agrarreform in Brasilien. Gerade hat Staatspräsident
Cardoso angekündigt, die Finanzmittel für die Agrarreform im
nächsten Jahr zu halbieren. Sogar von einer Abschaffung des zuständigen
Ministeriums ist die Rede.
In Brasilien gelten 4 Millionen Menschen als landlos, gleichzeitig sind 80 Millionen
Hektar Land als brachliegend registriert. 30 Millionen Menschen hungern im reichsten
Land Lateinamerikas. Die Landlosenbewegung in Brasilien kämpft seit Jahren
für die Reform. Weder Inspektionen noch Gesetze werden die unmenschliche
Ausbeutung von Menschen durch Sklavenarbeit abschaffen können – das kann
nur die grundsätzliche Umverteilung des Landbesitzes.
Birgit Huber