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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 9

Am Zahltag nur Schuldscheine

In Brasilien leben viele Menschen unter den Bedingungen moderner Sklaverei

Ausgerüstet mit einem Diktiergerät und einem kleinen Fotoapparat machte sich Frau Pureza Lopes Loyola im Jahr 1993 auf den Weg, um ihren verschwundenen Sohn zu suchen. Die 54jährige Landarbeiterin durchkämmte Fazendas (Gutsländereien) im Nordosten Brasiliens. Sie stieß auf Menschen, die unter unsäglichen Arbeitsbedingungen unentgeltlich arbeiteten.
  "Auf der Suche nach meinem Sohn traf ich auf Hunderte Sklavenarbeiter … Viele wurden geschlagen und hungerten. Auf einer Fazenda erzählten sie mir, daß Arbeiter, die zu erschöpft zum arbeiten waren, an Bäumen aufgehängt und von Revolvermännern als Zielscheiben benutzt wurden" (Anti-Slavery International Reporter, 1998).
  Die Suche nach ihrem Sohn wurde zu einer Dokumentation von Sklavenarbeit im brasilianischen Bundesstaat Pará. Im Oktober 1997 wurde sie dafür mit dem Anti-Slavery International Award ausgezeichnet. Mit diesem Preis würdigt die seit 1839 arbeitende Organisation Anti-Slavery International (ASI) jedes Jahr Einzelpersonen oder Institutionen für besondere Verdienste im Kampf gegen die Sklaverei.
  …in welche Freiheit?
  Legal ist Versklavung auch in Brasilien nicht. Nicht zuletzt der Arbeit der ASI und ihrer Unterstützung brasilianischer Antirassisten ist es zu verdanken, daß die brasilianische Monarchie 1888 endlich, als letzter Staat, 40 Jahre nach der französischen Menschenrechtserklärung, die Sklaverei verbot.
  Bis zur Mitte des 17.Jahrhunderts war die portugiesische Kolonie Brasilien die größte Zuckerproduzentin und Amerikas wichtigster Sklavenmarkt. Um die Wälder im Nordosten zu roden und die riesigen Zuckerrohrplantagen anzulegen und zu bearbeiten, wurden Unmengen von Arbeitskräften benötigt. Die UreinwohnerInnen gingen an der Zwangsarbeit schnell zugrunde. Fünf Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner wurden bis 1888 in die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen im Nordosten und die Goldminen von Minas Gerais verschifft. Eine Million Menschen starb während der Überfahrt.
  Nach der Freilassung stellten die Schwarzen die billigen Arbeitskräfte für die Industriegesellschaft. Heute ist den Unternehmen die Hautfarbe ihrer ZwangsarbeiterInnen zwar weitgehend egal, aber die sog. gatos (Kater), die Anwerber, die unter falschen Versprechungen ganze Familien als Arbeitskräfte rekrutieren, suchen ihre Opfer in der Unterschicht – und wieder sind es in der Mehrzahl Schwarze, die ihrer Freiheit beraubt werden.
  Die kirchliche Comissão Pastoral da Terra (CPT) kämpft seit vielen Jahren gegen die modernen Formen der Sklaverei im Land. Längst sind Ketten ihrer Einschätzung nach überflüssig geworden – heute fesseln Schulden die Arbeitenden an ihren Patron. Die Besitzer großer Fazendas verpflichten über Anwerber, gatos, LandarbeiterInnen mit falschen Versprechungen zur Arbeit.
  Im südlichen Pará geht es meist um die Rodung riesiger Waldflächen für die Viehhaltung. Die Arbeitenden werden zu Hunderten auf die Fazenda transportiert. Lebensmittel können sie nur in dem Laden der Fazenda kaufen. Am Zahltag wird ihnen mitgeteilt, daß ihnen kein Lohn zustünde – im Gegenteil: durch den Transport und die Lebensmittelkäufe seien Schulden entstanden, die es abzuarbeiten gelte. Die Schulden abzuarbeiten ist unmöglich, da ständig neue Schulden entstehen. Fluchtversuche enden nicht selten tödlich, die Fazendas halten ihre ArbeiterInnen mit den berüchtigten "Revolvermännern" in Schach.
  Menschenrechtsorganisationen klagen an, daß es den heutigen Sklaven zum Teil schlechter gehe als zu Zeiten der legalen Sklaverei. Früher versorgten die Großgrundbesitzer ihr "Eigentum" zumindest so gut, daß es ihnen so lange wie möglich erhalten blieb. Heute werden Arbeitskräfte verbraucht und weggeworfen. Ein Sklave ist keine Investition mehr, zu groß ist die Reservearmee der Armen im von der Kolonialzeit ausgebluteten Nordosten.
  Während einst mächtige Sklavenrebellionen das Land erschütterten, rebelliert heute kaum jemand mehr. Selbst Fluchtversuche von Sklaven gibt es erstaunlich wenige. In welche Freiheit? Vielen Arbeitenden erscheint der Weg von einem Elend ins nächste sinnlos.
  Über die Hälfte des Bodens gehört 1% der Bevölkerung. In kaum einem Land weltweit gibt es eine extremere Besitzverteilung. Die traditionelle Oligarchie verhindert erfolgreich jede Landreform – und ihre Partei, die PFL, ist Regierungspartnerin des Präsidenten.
  Kohle für die
  Stahlproduktion
  Die gatos heuern im Nordosten, dem Armenhaus Brasiliens, ganze Familien an. Aber nicht nur dort gibt es Sklavenarbeit. Weiter südlich, in Minas Gerais, arbeiten schätzungsweise 30000 ArbeiterInnen, darunter 4000 Kinder, in Köhlereien, Subunternehmen der multinationalen Stahlproduzenten, die für ihre ungeheuer energieaufwendigen Hochöfen billigen Brennstoff benötigen. Aus Eukalyptusbäumen wird in primitiven Lehmöfen Kohle hergestellt. Arbeitszeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sechs, manchmal sieben Tage in der Woche. Nachts alle zwei Stunden aufstehen, um nach den Öfen zu sehen. Überall beißender Rauch. Eine Hütte aus Abfallholz direkt neben den Öfen. Eine Pritsche als Bett. Lohn gibt es keinen, dafür immer weitere Schulden für Reis und Bohnen aus dem einzig erreichbaren Lebensmittelladen, dem Laden des Subunternehmens (Die Zeit, 26.4.1996).
  Die Sklavenarbeit sorgt für unerreicht billigen Brennstoff. Die Wälder gehören den großen Stahlunternehmen. Sie sind die Gewinner des Geschäfts und dank ihnen zählt Brasilien in der Stahlproduktion international zur Spitze.
  Obwohl die Zustände in Minas Gerais mittlerweile international angeprangert werden, kommt es nur selten zu konkreten Anklagen. 1995 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen die brasilianische Mannesmann, die in Minas Gerais Roheisen und Stahlrohre mit der billigen Holzkohle produziert. Die Arbeitsbedingungen auf dem Gelände von Mannesmann entsprachen eindeutig der Zwangsarbeit, hieß es.
  Der deutsche Multi will indes von den Zuständen auf dem eigenen Firmenareal nichts gewußt haben. Er gelobte Besserung. Solange Mannesmann allerdings den Großteil seines Brennstoffs billig bei Subunternehmen kauft, wird sich an den Arbeitsbedingungen für die KöhlerInnen wenig ändern. Das Käufermonopol bestimmt den Preis, und wenn der Preis stimmt, fragt niemand mehr nach Sklavenarbeit. Die Stahlunternehmen nicht, und schon gar nicht die Autohersteller aus Deutschland oder den USA, die den Stahl importieren.
  Luiz Chaves, der Inspektor des örtlichen "Kommissariats für Arbeit", der Mannesmann die Staatsanwaltschaft ins Haus geschickt hat und auch gern mit Journalisten geplaudert haben soll, hat kurz darauf seinen Job verloren. Die Abracave, der brasilianische Verband für pflanzliche Kohle, in dem sich die Unternehmen organisieren, ist einflußreich in Minas Gerais.
  Daß Luiz Chaves zumindest für kurze Zeit als staatlicher Inspektor gegen die Sklavenarbeit vorgehen durfte, ist einem Auftritt von Darci Frigo, Rechtsanwalt der CPT, auf einem UNO-Forum in Genf im April 1994 zu verdanken. Er berichtete dort mit Unterstützung der ASI über die Sklaverei in seinem Heimatland und bezichtigte den brasilianischen Staat der Mißachtung internationaler Abkommen zu Sklavenarbeit.
  Die Mühlen der Justiz
  Für die gleiche Aussage war Darci Frigo ein paar Jahre zuvor in Brasilien wegen Verleumdung verurteilt worden. Doch angesichts des Interesses der Weltöffentlichkeit lenkte die brasilianische Regierung ein. Ja, es gebe Landarbeiterfamilien, die als Gefangene skrupelloser Landbesitzer arbeiteten.
  Engagierte Staatsanwälte brachten die eingerosteten Mühlen der Justiz langsam, sehr langsam, ans Laufen. Am 17.Juni 1995 beklagte der Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso in einer Rundfunkansprache das Schicksal der versklavten Frauen, Männer und Kinder in Brasilien und speziell in den Köhlereien von Minas Gerais. Er verkündete die Gründung einer Exekutivgruppe des Arbeitsministeriums zur Bekämpfung der Sklavenarbeit.
  Diese Arbeitsgruppe arbeitet weitgehend unabhängig unter Beteiligung sozialer Bewegungen. In mobilen Teams werden Inspektionen durchgeführt, die Beamte dürfen nicht aus den Bundesstaaten kommen, in denen sie eingesetzt werden. Im vergangenen Jahr wurden von der Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei einige wirksame Kontrollen durchgeführt. Revolvermänner, Anwerber, die Geschäftsführer von vier Fazendas und immerhin drei Großgrundbesitzer standen beim Bundesgerichtshof Marabá vor Gericht.
  Aufsehen erregte dabei der Fall der Fazenda Flor de Mata. Im August 1997 war einem Jungen die Flucht von dieser Fazenda im Bundesstaat Pará gelungen. Er alarmierte die Inspektoren, und es gelang, 220 Sklaven zu befreien. Der Besitzer der Fazenda wurde gezwungen – das ist in der Geschichte Brasiliens bisher einmalig –, dem Staat seinen Besitz zum gängigen Marktpreis zu verkaufen. Bezahlte Enteignung.
  Der Fall irritierte die Gemeinschaft der Grundbesitzer in Pará erheblich – ihr Einfluß ist groß, und so ist zu befürchten, daß Flor de Mata ein Einzelfall bleibt.
  Die meisten Inspektionen haben weniger Folgen. Am 11.September 1997 fand die Polizei auf der Fazenda Industria e Comércio Cearense in einem 25 Meter tiefen Brunnen die Gebeine von acht Menschen. Der Besitzer der Fazenda war bereits zu einem früheren Zeitpunkt von der CPT wegen Sklavenarbeit angezeigt worden. Bis es zu der Inspektion kam, war er längst über alle Berge.
  Henri Burin des Roziers, Aktivist der CPT, gibt zu bedenken: "Wir haben Zweifel, daß diese Inspektionen effektiv sind. Trotz der Inspektionen, Strafprozesse und Bestrafungen der letzten drei Jahre bedienen sich Grundbesitzer immer noch der Sklavenarbeit. Die Strafen sind eindeutig nicht hoch genug, um sie davon abzuhalten. Die Strafe des Zwangsverkaufs wurde nur ein einziges Mal, im Fall Flor de Mata, angewandt. Außerdem schreckt das kaum ab, weil die Eigentümer ja für den Verlust ihres Landes bezahlt wurden. Darüber hinaus werden Verfahren so lange vor sich hergeschoben, bis sie schließlich irgendwie im Sand verlaufen" (Anti-Slavery International Reporter, Oktober 1998).
  Im Dezember 1997 verabschiedete das brasilianische Parlament ein Gesetz gegen die modernen Formen der Sklaverei und verschärfte das Strafgesetz. Der Vorschlag von ASI und CPT, Enteignung als Strafe einzuführen, wurde zurückgewiesen. Das Gesetz muß allerdings noch vom Senat bestätigt werden. Daß dies, ein Jahr später, immer noch nicht geschehen ist, deutet darauf hin, daß einflußreiche Interessen der Ratifizierung des Gesetzes entgegenstehen.
  Verteidigung alter Werte
  Im Juni 1998 demonstrierten Gutsbesitzer in Redeno im Bundesstaat Pará gegen die Anti-Sklaverei-Maßnahmen in Brasilien. Der relative Erfolg der Inspektoren veranlaßte Landeigentümer und Lokalpolitiker dazu, eine Allianz zu gründen. Diese Allianz verurteilt zwar Zwangsarbeit, fordert aber, daß die Gesetze gemäß der "soziokulturellen Eigenheiten" der verschiedenen Landstriche Brasiliens interpretiert werden müsse.
  Zu diesem Zweck verlangt sie, die Inspektionen für 120 Tage auszusetzen, und statt dessen Parás "spezielle Eigenheiten" erforschen zu lassen. Und dazu gehört ihrer Meinung nach offensichtlich unbezahltes Arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Inspektionen werden zwar offiziell fortgesetzt, doch die zahme Art, wie das passiert, zeigt deutlich, daß die Regierung dem Druck der traditionellen Oligarchie nicht standhält.
  Die Menschenrechtsorganisation FIAN koordiniert derzeit eine internationale Kampagne für die Durchführung der längst überfälligen Agrarreform in Brasilien. Gerade hat Staatspräsident Cardoso angekündigt, die Finanzmittel für die Agrarreform im nächsten Jahr zu halbieren. Sogar von einer Abschaffung des zuständigen Ministeriums ist die Rede.
  In Brasilien gelten 4 Millionen Menschen als landlos, gleichzeitig sind 80 Millionen Hektar Land als brachliegend registriert. 30 Millionen Menschen hungern im reichsten Land Lateinamerikas. Die Landlosenbewegung in Brasilien kämpft seit Jahren für die Reform. Weder Inspektionen noch Gesetze werden die unmenschliche Ausbeutung von Menschen durch Sklavenarbeit abschaffen können – das kann nur die grundsätzliche Umverteilung des Landbesitzes.
  Birgit Huber
 


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