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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 10

50 Jahre UN-Deklaration der Menschenrechte

Papier ist geduldig

Am 10.Dezember 1948 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte". In der Präambel wird festgestellt, daß "alle Mitglieder der menschlichen Familie" über Würde verfügen, daß sie "gleiche und unveräußerliche Rechte" haben, die die "Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt" bilden. Weiter heißt es, "die Verkennung und Mißachtung der Menschenrechte" hätten zu "Akten der Barbarei" geführt, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt hätten. Es sei wichtig, so die Präambel weiter, die "Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen", damit der Mensch nicht gezwungen sei, sich gewaltsam gegen "Tyrannei und Unterdrückung" zu erheben. Weiter bekräftigen die Mitgliedstaaten der VN ihren "Glauben an ... die Würde und den Wert der menschlichen Person", sie bekräftigen ihren Beschluß, "den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen bei größerer Freiheit" zu fördern. Die Mitgliedstaaten, so heißt es weiter, hätten sich verpflichtet, in "Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen".
  Gleichzeitig "verkündet die Generalversammlung", daß es sich bei der "vorliegenden Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" um das "von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal" handele. Jede Gesellschaft und alle ihre Organe sollten sich bemühen, "durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung der Mitgliedstaaten ... zu gewährleisten."
 
  Reaktion auf die Barbarei
  Der Schock über die Barbarei des Ersten und Zweiten Weltkriegs saß wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tief im Bewußtsein der Autoren der Menschenrechtscharta der UNO. Bilder von den Bergen ausgemergelter Leichen in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern der Nazis waren damals um die Welt gegangen. Man hatte gesehen, wie Bulldozer die zum Skelett abgehungerten Leichen in Massengräber schoben, wie geschwächte Überlebende auf Lastwagen gehoben wurden. Niemals sollten die ungläubig starrenden Augen aus Gesichtern wie Totenschädeln vergessen werden. All das prägte damals die Formulierungen nach dem Schutz und dem Recht auf Grundfreiheiten für alle "Mitglieder der menschlichen Familie".
  Im Laufe der folgenden Jahrzehnte folgten eine Fülle von Pakten, Zusatzabkommen, Protokollen und Beschlüssen über Sklaverei, Apartheid, Zwangsarbeit, Menschenhandel und Prostitution, Flüchtlinge, Staatenlose, Frauen, Kinder usw. Hervorzuheben sind die zwei zentralen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (verabschiedet am 19.12.1966). Weiterhin wurden regionale Vereinbarungen getroffen, so in Europa (Menschenrechtskonvention und Europäische Sozialcharta), in Amerika und Afrika. Im September 1998 unterzeichnete auch die chinesische Regierung den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte.
  Doch Papier ist geduldig. Zum Ende dieses Jahrhunderts, 50 Jahre nach der Verabschiedung der Menschenrechts-Charta durch die UNO, ist es berechtigt zu fragen, was denn aus diesen wohlmeinenden Ansprüchen geworden ist? Berichten von internationalen Menschenrechtsorganisationen zufolge hat es nie eine so hohe Zahl an Menschenrechtsverletzungen in der Welt gegeben wie heute.
  Jedes Jahrhundert hat seine Vernichtungskriege und Massaker gesehen. Im Römischen Reich, im Mittelalter während der Kreuzzüge, während der Inquisition, im Dreißigjährigen Krieg, bei der Eroberung neuer Kontinente oder während der Kolonialzeit – immer wurden für Macht und Geld von weltlichen und Kirchenfürsten Menschen und Völker hingeschlachtet. Ausgestattet mit einem Höchstmaß an Wissen und technischen Fertigkeiten haben es die Menschen bis heute nicht geschafft, ihre Intelligenz und ihre historische Erfahrung positiv einzusetzen, in gegenseitiger Anerkennung ihrer Würde.
  Heute lebt die Mehrheit der Menschen weit entfernt davon, daß ihre Würde, ihr Wert anerkannt würden. Hunger, Obdachlosigkeit, Armut, Arbeitslosigkeit und Krieg vertreiben Millionen von Menschen aus ihrer Heimat, machen sie zu Flüchtlingen.
  Sehen wir nach Afrika, wo die Folgen der kolonialen Grenzziehung ihren Tribut fordern. Tausende von Stämmen und Völkern leben auf dem afrikanischen Kontinent, der schließlich erst durch die Kolonialisierung im 18. und 19.Jahrhundert in Interessenssphären der Kolonialstaaten aufgeteilt wurde.
  Oder sehen wir nach Afghanistan, das zusammen mit den zentralasiatischen Staaten und dem Kaukasus heute bereits als das "Schlachtfeld der Zukunft" bezeichnet wird. Wo durch Intervention von außen und gezielte Destabilisierung Stellvertreterkriege geführt werden, die nahezu ausschließlich die Sicherung von Bodenschätzen und Öltransportwegen zum Ziel haben.
  Sehen wir nach Lateinamerika, wo eltern- und obdachlose Kinder auf Müllkippen leben und von Todesschwadronen ermordet werden.
  Sehen wir nach Nordamerika, in die USA, deren Regierung sich weigert, das Recht der Menschen auf Nahrung und Wohnung anzuerkennen; wo die Todesstrafe durch elektrischen Stuhl oder Giftspritzen vollstreckt wird.
  Sehen wir nach Westeuropa, wo Flüchtlinge, die vor Bürgerkriegen und aus Existenznot ihre Heimat verlassen haben, schon an den Grenzen zurückgewiesen werden. Das reiche Westeuropa, in dem Heere von Arbeitslosen heranwachsen, Menschen, die die kapitalistische Marktwirtschaft als überflüssig ausspuckt.
  Sehen wir nach Osteuropa, in die Länder der ehemaligen UdSSR, wo ein junger Lehrer an den Folgen eines Hungerstreiks stirbt, den er zusammen mit KollegInnen begann, weil er seit fast einem halben Jahr nicht einmal seinen mageren Monatslohn von umgerechnet 40 Mark ausgezahlt bekam. Wo alte Menschen vor den neuen Kaufpalästen stehen und betteln müssen, weil ihre Alterssicherung nicht mehr gewährleistet ist.
  Sehen wir nach Saudi-Arabien, wo Frauen heute noch behandelt werden, als seien sie Untermenschen, sehen wir nach Israel, wo die Rechtmäßigkeit von Folter bei Verhören gesetzlich festgeschrieben wurde.
  Und sehen wir in die Türkei, richten wir unseren Blick auf Kurdistan, wo sich in den systematisch zerstörten Dörfern, in den Foltergefängnissen, in den Gecekondus alle Barbarei der Welt widerspiegelt.
  Als mit der Französischen Revolution im Jahre 1789 der Ruf nach "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" erscholl, schien sich nach langen Jahren feudaler Herrschaft und Unterdrückung in Europa eine grundlegende Änderung abzuzeichnen. Noch heute rühmt sich die "westliche Welt", am weitesten fortgeschritten zu sein in der Umsetzung der Menschenrechte. Doch so hoffnungsvoll die damals erkämpften Ideale auch waren, schon wenige Jahre später wurde deutlich, daß in den Kolonien andere Maßstäbe galten als in den Kolonialstaaten. Manche, so heißt es sarkastisch in der bekannten Fabel Die Farm der Tiere, sind eben gleicher als andere. In diesem Fall waren die Europäer, die "Weißen", gleicher als die Indianer, die Farbigen des lateinamerikanischen Kontinents. Die Guillotine, Inbegriff von Willkür und Herrschaft, wütete gegen alle, die sich dem westlichen Fortschrittsbegriff nicht beugen wollten.
  Den westlich abendländischen politischen und wirtschaftlichen Eliten bedeuteten damals wie heute die Werte und Erfahrungen der amerikanischen indigenen Völker genauso wenig wie die der asiatischen, afrikanischen oder arabischen Völker. Der abendländische Freiheitsbegriff wurde zum bestimmenden Faktor der "neuen Welt" und ist es bis heute geblieben.
  Fast zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Versuchs in der UdSSR bedeutet der westliche Begriff von Freiheit die Freiheit der kapitalistischen Marktwirtschaft. Sie wird gleichgesetzt mit Fortschritt und Entwicklung. Doch bedeuten sie in der Realität für die Mehrheit der Weltbevölkerung Umweltzerstörung, Ausbeutung von Land und Menschen, Flüchtlingsströme, Bürger- und Stellvertreterkriege. Diese "Freiheit" wird abgesichert durch Wirtschafts- und Militärpakte und durch militärische Interventionen unter dem Deckmantel, Menschenrechte achten zu wollen.
 
  Militärisch sichern?
  Der II. Golfkrieg 1991, als eine hochtechnisierte und gerüstete Armada der Allierten Golfkriegskräfte gegen den Irak zog, kennzeichnet den Beginn der "neuen Weltordnung", wie es der damalige US-Präsident Bush formulierte. Der "Sozialismus sei am Ende" wurde gebetsmühlenartig wiederholt. Es sei an der Zeit, die Welt nach den Maßstäben des Westens neu zu ordnen. Neu ist dabei lediglich, daß es weltweit keine Macht mehr gibt, die diesem Kapitalexpansionismus etwas entgegensetzen könnte. Zwar wird in vielen Regionen der Erde um Befreiung gekämpft, doch keiner dieser Kämpfe konnte in den letzten zehn Jahren wirklich zu einer radikalen Befreiung führen. Wer sich der "neuen Weltordnung" nicht unterordnet, wird gnadenlos niedergemacht. Der weltumspannende, globalisierte Markt schluckt sie alle.
  Die militärische Sicherung des Friedens und der Einhaltung von Menschenrechten nimmt in den außenpolitischen Debatten einen immer größeren Raum ein. Selbst die Grünen stimmen "humanitären Interventionen" der Bundeswehr zu, in der PDS- Opposition wird um diese Frage gestritten. Selbst gestandene Abrüstungsbefürworter und NATO-Gegner sind in diese Falle getappt. Vergessen scheint, daß es noch immer ungerechte Lebensbedingungen, daß es politische, ökonomische, soziale und kulturelle Unterdrückung sind, die zu innerstaatlichen bewaffneten Konflikten führen. Und natürlich pure Machtinteressen von Staaten und/oder herrschenden Eliten.
  Durch die Debatte um die "Militärintervention zum Schutz der Menschenrechte" werden Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) immer mehr von staatlichen Außenämtern in die Politik einbezogen. Im Auswärtigen Amt bspw. gibt es regelmäßige Treffen mit großen Hilfsorganisationen, Vertreter von NGOs werden in Regierungsdelegationen als sachkundige Ratgeber auf Reisen mitgenommen. Eine frühere NGO-Vertreterin, Uschi Eid, ist heute Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
  Es ist ein Dilemma, daß die Linke in Deutschland seit Anfang der 60er Jahre keinen radikalen, selbstbestimmten Begriff darüber entwickelt hat, was Menschenrechte, was der Menschen Recht ist und wie es erkämpft werden kann. Wenn es dazu überhaupt Positionen gab, orientierten diese sich an solchen, die von Befreiungsbewegungen des Trikonts entwickelt worden waren und nur bedingt in einer imperialistischen Metropole angewandt werden konnten, weil die Entwicklungs- und Lebensbedingungen hier ganz andere sind. Ohne eigene radikale Definition über der Menschen Recht wird die Linke in dieser wichtigen Diskussion auch in Zukunft außen vor bleiben.
  Karin Leukefeld
 
  Karin Leukefeld ist Mitarbeiterin der Informationsstelle Kurdistan.
 


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