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Du bist jetzt nach Jahren wieder hier in Europa. Kurz zuvor ist Pinochet in
Großbritannien verhaftet worden. Was bedeutet diese Verhaftung für die
Bevölkerung in Chile?
Ivan Salidas: Für uns ist diese Verhaftung ein Geschenk, denn niemend in Chile
konnte sich vorstellen, daß dieser Tyrann einmal vor Gericht kommen
könnte. Er ist in der Vergangenheit bereits mehrere Male in England gewesen,
denn er hat dort zahlreiche Freunde, z.B. Margaret Thatcher und einige Unternehmer
aus der Rüstungsbranche. Die sozialen und politischen Organisationen in Chile
hat die Festnahme Pinochets völlig überrascht. Erst als 30.000 Faschisten
– alte und junge Anhänger von Pinochet – auf die Straße gingen, waren
wir uns sicher, daß er in London unter Arrest stand.
In den vergangenen Jahren hast du stets die Ruhe kritisiert, die sich nach dem formalen
Ende der Pinochet-Diktatur über Chile gelegt hat. Hat sich deine
Einschätzung nach der Verhaftung geändert?
Nach 1989 hat die Bevölkerung im Wahlkampf die Mehrparteienkoaltion
Concertación unterstützt. Sie haben dieser Koalition, die den Übergang
zur Demokratie versprach, ihr Vertrauen geschenkt. Diese Koalition hatte zuvor jedoch
nie öffentlich zugegeben, daß sie einen vier Punkte umfassenden Pakt mit
der Diktatur geschlossen hatte. Darin erklärte sie sich bereit, die Verfassung der
Diktatur von 1980 zu respektieren.
Die zweite Vereinbarung betraf die Fortführung des neoliberalen
Wirtschaftsmodells. Drittens versprach sie die Respektierung des von Pinochet
erlassenen Amnestiegesetzes, und viertens muß der chilenische Staat den Schutz
der Familie Pinochets garantieren.
Nach der Unterschrift unter diese Verträge waren der demokratischen Regierung
natürlich die Hände gebunden. Ihre Spielräume waren total
eingeschränkt. Aber wir – die Leute, die nicht Anhänger dieser Regierung
sind – fragten uns, warum keine dieser Regierungen wirklich etwas gegen Pinochet
unternimmt.
Die erste Regierung von Patricio Aylwin war mit einer überragenden Mehrheit
von ca. 60% gewählt worden. Millionen von Menschen gingen auf die
Straße, jede Woche gab es Massendemonstrationen.
Aber trotz all dieser Unterstützung änderte die Aylwin-Regierung nichts
an der Verfassung. Statt dessen integrierte die Regierung die sozialen Organisationen –
insbesondere deren Leitungen – in den Staatsapparat.
Heute arbeiten zahlreiche unserer alten Genossinnen und Genossen, mit denen wir
zusammen gegen die Diktatur gekämpft haben, innerhalb des Staatsapparats.
Diese Freunde wurden bürokratisiert und unterstützen heute das
neoliberale Wirtschaftsmodell. Dadurch verloren die sozialen Organisationen eine
Menge erfahrener Leute. Nach und nach wurden die Bewegungen durch sog.
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ersetzt.
Dies war Teil einer gezielten Regierungspolitik zur Zerschlagung der sozialen
Bewegungen. Und auch die Leute an der Basis – selbst die Armen, die soziale
Unterstützung benötigen – wurden in das neoliberale Modell
eingebunden.
Die NGOs brachten ihnen bei, daß sie nicht mehr arm, sondern in erster Linie
sog. "Mikrounternehmer" seien. Auf diese Art verwandelten sich zahlreiche
Lohnarbeiter zu "Mikrounternehmern". Fabriken reduzierten ihren
Personalstand teilweise um mehr als 50 Prozent, indem sie Beschäftigte nicht
"entließen" sondern zu "Selbstständigen"
deklarierten.
Jede wirtschaftlichen Krise, insbesondere die jüngste Depression, trifft diese
"Mikrounternehmer" besonders hart. Doch die Leute haben dann das
Gefühl, daß sie selbst an ihrer Misere schuld seien, weil sie nicht genug
gelernt oder nicht die besten neuesten Maschinen gekauft haben. Die einzige
Unterstützung, die sie erhalten, sind immer wieder neue Kredite.
Wir – eine große Gruppe von Leuten, die sich nicht von der Regierung haben
aufsaugen lassen – haben seit einiger Zeit gemeinsam mit den Resten der sozialen
Bewegungen eine neue Bewegung aufgebaut, die unabhängig von der
Regierung, den NGOs und auch von der Kommunistischen Partei agiert.
Das neoliberale Wirtschaftsmodell der Diktatur hat sich nicht nur ökonomisch,
sondern auch kulturell in Chile durchgesetzt. Was schlägt sich das konkret in der
chilenischen Gesellschaft nieder?
Nach 17 Jahren der Diktatur hatten die Menschen sehr viel Angst. Ungefähr
3000 waren unter der Diktatur verschwunden. Alle hatten von den vielen politischen
Gefangenen gehört und von den Folgen der Folter.
Nach Angaben von Amnesty International waren rund 400.000 Menschen schwer
gefoltert worden. Viele aus dieser Generation haben einfach Angst sich zu
organisieren.
Und danach kam die Institutionalisierung des Neoliberalismus, die neue chilenische
Verfassung, die ganzen Privatisierungswellen von Renten- und Krankenversicherung,
Erziehungswesen und Wohnungsbauprogrammen.
Ebenfalls die finanzielle Unterstüzung von sozial Bedürftigen, die seither
auf Kredit leben.
"Selbständigkeit und Eigenverantwortung" sind die Schlagworte, die
die Menschen auseinanderdividieren und individualisieren. Die meisten waren
zunächst gutgläubig und arbeiteten die ganze Zeit zu miserablen
Bedingungen, um ihre Kredite abzubezahlen. Sich zu organisieren kam ihnen nicht in
den Sinn, denn sie waren davon überzeugt, selbst an ihrer Situation Schuld zu
sein.
Die Generation, die heute zwischen 25 und 40 Jahre alt ist, orientiert
ausschließlich auf Konsum. Und ist hochverschuldet. Zwar haben diese Leute
allerlei soziale Statussymbole – Autos, Motorräder –, allerdings auf Kredit. An
Politik verschwenden sie keinen Gedanken.
Anders die neue Generation: die, die unter 22 Jahre alt sind, stehen dem System sehr
kritisch gegenüber.
Obwohl es in Chile eine Wahlpflicht gibt, verweigerten viele der Jungwähler bei
den Wahlen im letzten Dezember ihre Stimmabgabe oder wählten
ungültig. Ungefähr 1,2 Millionen Jugendliche haben sich gar nicht erst in
die Wahlregister einschreiben lassen.
Knapp 40% der wahlpflichtigen Bevölkerung haben in irgendeiner Weise nicht
gewählt. Sie haben jegliches Vertrauen in das parlamentarische System verloren
und engagieren sich entweder gar nicht mehr oder wollten ein bewußtes Zeichen
des Protests gegen die herrschende Politik setzen.
Jugendliche aus rechten Familien haben sich alle brav in die Wahlregister eintragen
lassen und wählen ihre Kandidaten. Es sind die demokratischen Kräfte, die
kein Interesse mehr an Wahlen haben. Aber gleichzeitig sind diese Menschen auch
isoliert, und es ist sehr schwer, sie zu erreichen. Einige kommen jedoch zu unseren
Veranstaltungen.
Im Oktober 1997 haben wir eine Veranstaltung im Nationalstadion, einem der
früheren Konzentrationslager, anläßlich des Todestags von Che
Guevara durchgeführt. Mehr als 80.000 füllten das Stadion, davon waren
90 Prozent unter 22 Jahre alt. Ähnlicher Beteiligung erfreute sich eine
Gedenkveranstaltung zum Wahlerfolg Salvador Allendes vor 28 Jahren.
Die Zusammenarbeit zwischen den alten Führungskräften der sozialen
Organisationen mit der Regierung und dem Staatsapparat erschwert uns die Arbeit
zusätzlich.
Doch es gibt wieder Hoffnung, und es entstehen neue soziale Bewegungen. Mit dem
Fall Pinochet ist eine neue Dynamik entstanden. Uns ist jetzt klar, daß die
Regierung mehr Wert auf die Respektierung der Verträge mit Pinochet und den
rechten Kräften legt als auf ihre bisherigen Unterstützerinnen und
Unterstützer.
Du bist, wie viele andere deiner ehemaligen Genossinnen und Genossen, 1994 nach
Chile zurückgekehrt, nachdem du lange im europäischen Exil gelebt und
für den MIR, eine straff organisierte Organisation, gearbeitet hast. Welche
Organisationen stehen dir heute nahe?
Die Niederlage der Linken war ein weltweites Phänomen und nicht nur auf Chile
beschränkt. Auch wenn wir – anders als die KP – nicht mit dem Ostblock
zusammengearbeitet, sondern diese Art von Sozialismus kritisiert haben, wurden wir
auch vom Zusammenbruch der Ostblockstaaten getroffen.
Viele kleine und große Organisationen sind zerfallen. Alte Genossen und
Genossinnen arbeiten heute im Staatsapparat, in den Behörden, Ministerien und
NGOs. Sie machen Politik von oben und denken, es sei gut für die Menschen,
aber in Wirklichkeit verdienen sie gutes Geld und stabilisieren das System.
Und sie kennen uns und wir kennen sie. Es ist sehr schwer, diese Leute wieder von
diesen Machtpositionen in die sozialen Bewegungen zurückzuholen. Statt dessen
bieten sie uns attraktive Posten an.
Wir, die "anderen" haben uns jedoch in den Basisorganisationen
wiedergetroffen. Menschen mit ehemals maoistischem Hintergrund, aus trotzkistischen
Organisationen, ehemalige MIR- und KP-Mitglieder. Wir sind weder in die Regierung
noch in die NGOs gegangen, sondern wollen eine neue demokratische,
unabhängige Kraft der Linken aufbauen.
Hat die Verhaftung Pinochets diesen Bewegungen, die für eine wirkliche
Demokratisierung Chiles kämpfen, Auftrieb gegeben?
Einmal mehr läßt sich die Regierung der Concertación von der Rechten
unter Druck setzen und verteidigt den Diktator, als wäre all das ein Problem des
Staates. Heute gibt es intensive Diskussionen innerhalb der sozialen Organisationen
über die Rolle, die die Regierung im Fall Pinochet gespielt hat.
Das Vertrauen der ersten Jahre ist komplett geschwunden, und es gab Demonstrationen
mit vielen tausend Leuten.
Der Fall Pinochet hat die politischen Verhältnisse Chiles ins Wanken gebracht.
Mit dem Bruch des Tabus der Unantastbarkeit des Diktators, mit dessen ganz
gewöhnlicher Verhaftung, ist auch ein Bruch in der chilenischen Politik
erfolgt.
Die real existierende formale Demokratie, die in Wirklichkeit nichts anderes als eine
Verwalterin des politischen und ökonomischen Erbes der Diktatur ist, wird nicht
länger als die maximale Form der Demokratie angesehen, die ein Land wie Chile
ertragen kann.
Die außerparlamentarische Linke und die unabhängigen sozialen
Bewegungen haben sich zum Feiern zusammengefunden. Sie sind auf die Straße
gegangen, um in jeder Form ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Zur selben Zeit macht
sich ein Schamgefühl breit, weil wir selbst nicht fähig waren, dem
Diktator Chiles den Prozess zu machen und ihn dort zu verurteilen, wo er seine
Verbrechen begangen hat.
Die Demonstrationen, die Lieder, die satirischen Verunglimpfungen und
Wandmalereien sind ebenso zahlreich wie die offenen Diskussionen, die jetzt in der
chilenischen Gesellschaft geführt werden.
Der Übergang zur Demokratie ist ein Prozeß, der nach 17 Jahren
Militärdiktatur bislang noch nicht abgeschlossen ist. Noch immer fehlt die
Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Entscheidungsfindung. Die
Diktatur und ihre Verfassung waren dazu gedacht, gestaltet und eingesetzt, eben jene
Partizipation zu verhindern, und es waren die Regierungen der Concertación, die die
Rolle reiner Verwalterin des neoliberalen Systems und der von der Diktatur
eingesetzten politischen, ökonomischen und administrativen Modelle
angenommen hat.
Angesicht dieser Zustände wollen wir klarmachen, daß die einzig
mögliche Alternative, die soziale, ökonomische, politische und
verfassungsrechtliche Fortschritte voranbringen kann, in der aktiven Teilnahme der
sozialen Bewegungen, die sich in den Elendsvierteln, den Kommunen, auf dem Land, in
den studentischen Organisationen an den Universitäten und in den
Gewerkschaften Chiles entwickeln, besteht. Sie sind autonome Organisationen,
unabhängig von Staat, traditionellen Parteien und längst etablierten
NGOs.
Ihre Aufgabe ist es, die Demokratie, die Autonomie und die Einigkeit zu vertiefen und
dafür zu sorgen, daß Partizipation in allen Bereichen der chilenischen
Gesellschaft heute und in Zukunft ausgeübt wird.
Seit einiger Zeit wenden sich die Menschen verstärkt diesen Organisationen zu.
Sie sind einem immensen Druck ausgesetzt, der nicht nur von den Militärs,
sondern ebenso durch Staat, traditionelle Parteien und die sog. NGOs auf sie
ausgeübt wird. Sie haben alle ein Interesse daran, daß die demokratischen
Ausdrucksformen sich nicht entwickeln, denn sie gefährden die Existenz dieser
Institutionen.
Die Parteien und Regierungen der sogenannten "entwickelten
Länder" haben selbstverständlich nicht nur die Politik der
christdemokratischen, "sozialistischen" und sozialdemokratischen
Regierungen Chiles, sondern auch die der NGOs unterstützt. Die Mehrheit der
NGOs in Chile ist jedoch nichts anderes als der verlängerte Arm der
Regierungspolitik.
Wir stellen dies in dieser Form dar, damit die Organisationen der deutschen Linken
mitbekommen, daß in Chile außerdem eine unabhängige Kraft an
der Basis existiert, die aus den sozialen Bewegungen heraus fur die Verteidigung ihrer
Rechte kämpft – fur eine wirkliche Demokratisierung des Landes.