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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 10.12.1998, Seite 12

Legitimationskrise der bürgerlichen Demokratie

Als "Modell Chile" bezeichnen Ökonomen gemeinhin den ersten Versuch, ein neoliberales Wirtschaftssystem zu installieren. Die Folgen dieses Experiments bekam die Bevölkerung des südamerikanischen Landes nicht nur unter der Diktatur Augusto Pinochets zu spüren, sondern sie wirken bis heute fort. Knut Rauchfuss sprach Ende November in Münster auf der Konferenz zum 25.Jahrestag des chilenischen Militärputschs mit Ivan Salidas, der in der Koordination der unabhängigen sozialen und politischen Organisationen Chiles tätig ist. Früher war Ivan Salidas als Europasprecher für den MIR (Bewegung der revolutionären Linken) aktiv.

Du bist jetzt nach Jahren wieder hier in Europa. Kurz zuvor ist Pinochet in Großbritannien verhaftet worden. Was bedeutet diese Verhaftung für die Bevölkerung in Chile?
 
  Ivan Salidas: Für uns ist diese Verhaftung ein Geschenk, denn niemend in Chile konnte sich vorstellen, daß dieser Tyrann einmal vor Gericht kommen könnte. Er ist in der Vergangenheit bereits mehrere Male in England gewesen, denn er hat dort zahlreiche Freunde, z.B. Margaret Thatcher und einige Unternehmer aus der Rüstungsbranche. Die sozialen und politischen Organisationen in Chile hat die Festnahme Pinochets völlig überrascht. Erst als 30.000 Faschisten – alte und junge Anhänger von Pinochet – auf die Straße gingen, waren wir uns sicher, daß er in London unter Arrest stand.
 
  In den vergangenen Jahren hast du stets die Ruhe kritisiert, die sich nach dem formalen Ende der Pinochet-Diktatur über Chile gelegt hat. Hat sich deine Einschätzung nach der Verhaftung geändert?
 
  Nach 1989 hat die Bevölkerung im Wahlkampf die Mehrparteienkoaltion Concertación unterstützt. Sie haben dieser Koalition, die den Übergang zur Demokratie versprach, ihr Vertrauen geschenkt. Diese Koalition hatte zuvor jedoch nie öffentlich zugegeben, daß sie einen vier Punkte umfassenden Pakt mit der Diktatur geschlossen hatte. Darin erklärte sie sich bereit, die Verfassung der Diktatur von 1980 zu respektieren.
  Die zweite Vereinbarung betraf die Fortführung des neoliberalen Wirtschaftsmodells. Drittens versprach sie die Respektierung des von Pinochet erlassenen Amnestiegesetzes, und viertens muß der chilenische Staat den Schutz der Familie Pinochets garantieren.
  Nach der Unterschrift unter diese Verträge waren der demokratischen Regierung natürlich die Hände gebunden. Ihre Spielräume waren total eingeschränkt. Aber wir – die Leute, die nicht Anhänger dieser Regierung sind – fragten uns, warum keine dieser Regierungen wirklich etwas gegen Pinochet unternimmt.
  Die erste Regierung von Patricio Aylwin war mit einer überragenden Mehrheit von ca. 60% gewählt worden. Millionen von Menschen gingen auf die Straße, jede Woche gab es Massendemonstrationen.
  Aber trotz all dieser Unterstützung änderte die Aylwin-Regierung nichts an der Verfassung. Statt dessen integrierte die Regierung die sozialen Organisationen – insbesondere deren Leitungen – in den Staatsapparat.
  Heute arbeiten zahlreiche unserer alten Genossinnen und Genossen, mit denen wir zusammen gegen die Diktatur gekämpft haben, innerhalb des Staatsapparats. Diese Freunde wurden bürokratisiert und unterstützen heute das neoliberale Wirtschaftsmodell. Dadurch verloren die sozialen Organisationen eine Menge erfahrener Leute. Nach und nach wurden die Bewegungen durch sog. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ersetzt.
  Dies war Teil einer gezielten Regierungspolitik zur Zerschlagung der sozialen Bewegungen. Und auch die Leute an der Basis – selbst die Armen, die soziale Unterstützung benötigen – wurden in das neoliberale Modell eingebunden.
  Die NGOs brachten ihnen bei, daß sie nicht mehr arm, sondern in erster Linie sog. "Mikrounternehmer" seien. Auf diese Art verwandelten sich zahlreiche Lohnarbeiter zu "Mikrounternehmern". Fabriken reduzierten ihren Personalstand teilweise um mehr als 50 Prozent, indem sie Beschäftigte nicht "entließen" sondern zu "Selbstständigen" deklarierten.
  Jede wirtschaftlichen Krise, insbesondere die jüngste Depression, trifft diese "Mikrounternehmer" besonders hart. Doch die Leute haben dann das Gefühl, daß sie selbst an ihrer Misere schuld seien, weil sie nicht genug gelernt oder nicht die besten neuesten Maschinen gekauft haben. Die einzige Unterstützung, die sie erhalten, sind immer wieder neue Kredite.
  Wir – eine große Gruppe von Leuten, die sich nicht von der Regierung haben aufsaugen lassen – haben seit einiger Zeit gemeinsam mit den Resten der sozialen Bewegungen eine neue Bewegung aufgebaut, die unabhängig von der Regierung, den NGOs und auch von der Kommunistischen Partei agiert.
 
  Das neoliberale Wirtschaftsmodell der Diktatur hat sich nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell in Chile durchgesetzt. Was schlägt sich das konkret in der chilenischen Gesellschaft nieder?
 
  Nach 17 Jahren der Diktatur hatten die Menschen sehr viel Angst. Ungefähr 3000 waren unter der Diktatur verschwunden. Alle hatten von den vielen politischen Gefangenen gehört und von den Folgen der Folter.
  Nach Angaben von Amnesty International waren rund 400.000 Menschen schwer gefoltert worden. Viele aus dieser Generation haben einfach Angst sich zu organisieren.
  Und danach kam die Institutionalisierung des Neoliberalismus, die neue chilenische Verfassung, die ganzen Privatisierungswellen von Renten- und Krankenversicherung, Erziehungswesen und Wohnungsbauprogrammen.
  Ebenfalls die finanzielle Unterstüzung von sozial Bedürftigen, die seither auf Kredit leben.
  "Selbständigkeit und Eigenverantwortung" sind die Schlagworte, die die Menschen auseinanderdividieren und individualisieren. Die meisten waren zunächst gutgläubig und arbeiteten die ganze Zeit zu miserablen Bedingungen, um ihre Kredite abzubezahlen. Sich zu organisieren kam ihnen nicht in den Sinn, denn sie waren davon überzeugt, selbst an ihrer Situation Schuld zu sein.
  Die Generation, die heute zwischen 25 und 40 Jahre alt ist, orientiert ausschließlich auf Konsum. Und ist hochverschuldet. Zwar haben diese Leute allerlei soziale Statussymbole – Autos, Motorräder –, allerdings auf Kredit. An Politik verschwenden sie keinen Gedanken.
  Anders die neue Generation: die, die unter 22 Jahre alt sind, stehen dem System sehr kritisch gegenüber.
  Obwohl es in Chile eine Wahlpflicht gibt, verweigerten viele der Jungwähler bei den Wahlen im letzten Dezember ihre Stimmabgabe oder wählten ungültig. Ungefähr 1,2 Millionen Jugendliche haben sich gar nicht erst in die Wahlregister einschreiben lassen.
  Knapp 40% der wahlpflichtigen Bevölkerung haben in irgendeiner Weise nicht gewählt. Sie haben jegliches Vertrauen in das parlamentarische System verloren und engagieren sich entweder gar nicht mehr oder wollten ein bewußtes Zeichen des Protests gegen die herrschende Politik setzen.
  Jugendliche aus rechten Familien haben sich alle brav in die Wahlregister eintragen lassen und wählen ihre Kandidaten. Es sind die demokratischen Kräfte, die kein Interesse mehr an Wahlen haben. Aber gleichzeitig sind diese Menschen auch isoliert, und es ist sehr schwer, sie zu erreichen. Einige kommen jedoch zu unseren Veranstaltungen.
  Im Oktober 1997 haben wir eine Veranstaltung im Nationalstadion, einem der früheren Konzentrationslager, anläßlich des Todestags von Che Guevara durchgeführt. Mehr als 80.000 füllten das Stadion, davon waren 90 Prozent unter 22 Jahre alt. Ähnlicher Beteiligung erfreute sich eine Gedenkveranstaltung zum Wahlerfolg Salvador Allendes vor 28 Jahren.
  Die Zusammenarbeit zwischen den alten Führungskräften der sozialen Organisationen mit der Regierung und dem Staatsapparat erschwert uns die Arbeit zusätzlich.
  Doch es gibt wieder Hoffnung, und es entstehen neue soziale Bewegungen. Mit dem Fall Pinochet ist eine neue Dynamik entstanden. Uns ist jetzt klar, daß die Regierung mehr Wert auf die Respektierung der Verträge mit Pinochet und den rechten Kräften legt als auf ihre bisherigen Unterstützerinnen und Unterstützer.
 
  Du bist, wie viele andere deiner ehemaligen Genossinnen und Genossen, 1994 nach Chile zurückgekehrt, nachdem du lange im europäischen Exil gelebt und für den MIR, eine straff organisierte Organisation, gearbeitet hast. Welche Organisationen stehen dir heute nahe?
 
  Die Niederlage der Linken war ein weltweites Phänomen und nicht nur auf Chile beschränkt. Auch wenn wir – anders als die KP – nicht mit dem Ostblock zusammengearbeitet, sondern diese Art von Sozialismus kritisiert haben, wurden wir auch vom Zusammenbruch der Ostblockstaaten getroffen.
  Viele kleine und große Organisationen sind zerfallen. Alte Genossen und Genossinnen arbeiten heute im Staatsapparat, in den Behörden, Ministerien und NGOs. Sie machen Politik von oben und denken, es sei gut für die Menschen, aber in Wirklichkeit verdienen sie gutes Geld und stabilisieren das System.
  Und sie kennen uns und wir kennen sie. Es ist sehr schwer, diese Leute wieder von diesen Machtpositionen in die sozialen Bewegungen zurückzuholen. Statt dessen bieten sie uns attraktive Posten an.
  Wir, die "anderen" haben uns jedoch in den Basisorganisationen wiedergetroffen. Menschen mit ehemals maoistischem Hintergrund, aus trotzkistischen Organisationen, ehemalige MIR- und KP-Mitglieder. Wir sind weder in die Regierung noch in die NGOs gegangen, sondern wollen eine neue demokratische, unabhängige Kraft der Linken aufbauen.
 
  Hat die Verhaftung Pinochets diesen Bewegungen, die für eine wirkliche Demokratisierung Chiles kämpfen, Auftrieb gegeben?
 
  Einmal mehr läßt sich die Regierung der Concertación von der Rechten unter Druck setzen und verteidigt den Diktator, als wäre all das ein Problem des Staates. Heute gibt es intensive Diskussionen innerhalb der sozialen Organisationen über die Rolle, die die Regierung im Fall Pinochet gespielt hat.
  Das Vertrauen der ersten Jahre ist komplett geschwunden, und es gab Demonstrationen mit vielen tausend Leuten.
  Der Fall Pinochet hat die politischen Verhältnisse Chiles ins Wanken gebracht. Mit dem Bruch des Tabus der Unantastbarkeit des Diktators, mit dessen ganz gewöhnlicher Verhaftung, ist auch ein Bruch in der chilenischen Politik erfolgt.
  Die real existierende formale Demokratie, die in Wirklichkeit nichts anderes als eine Verwalterin des politischen und ökonomischen Erbes der Diktatur ist, wird nicht länger als die maximale Form der Demokratie angesehen, die ein Land wie Chile ertragen kann.
  Die außerparlamentarische Linke und die unabhängigen sozialen Bewegungen haben sich zum Feiern zusammengefunden. Sie sind auf die Straße gegangen, um in jeder Form ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Zur selben Zeit macht sich ein Schamgefühl breit, weil wir selbst nicht fähig waren, dem Diktator Chiles den Prozess zu machen und ihn dort zu verurteilen, wo er seine Verbrechen begangen hat.
  Die Demonstrationen, die Lieder, die satirischen Verunglimpfungen und Wandmalereien sind ebenso zahlreich wie die offenen Diskussionen, die jetzt in der chilenischen Gesellschaft geführt werden.
  Der Übergang zur Demokratie ist ein Prozeß, der nach 17 Jahren Militärdiktatur bislang noch nicht abgeschlossen ist. Noch immer fehlt die Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Entscheidungsfindung. Die Diktatur und ihre Verfassung waren dazu gedacht, gestaltet und eingesetzt, eben jene Partizipation zu verhindern, und es waren die Regierungen der Concertación, die die Rolle reiner Verwalterin des neoliberalen Systems und der von der Diktatur eingesetzten politischen, ökonomischen und administrativen Modelle angenommen hat.
  Angesicht dieser Zustände wollen wir klarmachen, daß die einzig mögliche Alternative, die soziale, ökonomische, politische und verfassungsrechtliche Fortschritte voranbringen kann, in der aktiven Teilnahme der sozialen Bewegungen, die sich in den Elendsvierteln, den Kommunen, auf dem Land, in den studentischen Organisationen an den Universitäten und in den Gewerkschaften Chiles entwickeln, besteht. Sie sind autonome Organisationen, unabhängig von Staat, traditionellen Parteien und längst etablierten NGOs.
  Ihre Aufgabe ist es, die Demokratie, die Autonomie und die Einigkeit zu vertiefen und dafür zu sorgen, daß Partizipation in allen Bereichen der chilenischen Gesellschaft heute und in Zukunft ausgeübt wird.
  Seit einiger Zeit wenden sich die Menschen verstärkt diesen Organisationen zu. Sie sind einem immensen Druck ausgesetzt, der nicht nur von den Militärs, sondern ebenso durch Staat, traditionelle Parteien und die sog. NGOs auf sie ausgeübt wird. Sie haben alle ein Interesse daran, daß die demokratischen Ausdrucksformen sich nicht entwickeln, denn sie gefährden die Existenz dieser Institutionen.
  Die Parteien und Regierungen der sogenannten "entwickelten Länder" haben selbstverständlich nicht nur die Politik der christdemokratischen, "sozialistischen" und sozialdemokratischen Regierungen Chiles, sondern auch die der NGOs unterstützt. Die Mehrheit der NGOs in Chile ist jedoch nichts anderes als der verlängerte Arm der Regierungspolitik.
  Wir stellen dies in dieser Form dar, damit die Organisationen der deutschen Linken mitbekommen, daß in Chile außerdem eine unabhängige Kraft an der Basis existiert, die aus den sozialen Bewegungen heraus fur die Verteidigung ihrer Rechte kämpft – fur eine wirkliche Demokratisierung des Landes.
 


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