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Wenn gewählte Staatsdiener in Rußland
ermordet werden, nimmt man gemeinhin an, daß sie in dubiose Geschäfte
verwickelt waren. Von Galina Starowoitowa, die 52jährige Duma-Abgeordnete,
die für die Partei "Demokratisches Rußland" einen Wahlkreis
aus St.Petersburg vertrat und am 20.November dort umgebracht wurde, ist solches
nicht bekannt. Ungewöhnlich für russische Politiker, stand sie im Ruf, sich
eher von Ideen denn von Interessen leiten zu lassen. Unermüdlich
bekämpfte sie die öffentliche Korruption.
Sicher, wegen ihres Vertrauens in die Selbstheilungskräfte des Marktes wurde sie
oft mit Margaret Thatcher verglichen. Aber anders als diese, die jetzt dafür wirbt,
daß der Massenmörder Augusto Pinochet aus dem Gefängnis
entlassen wird, hat Starowoitowa sich ernsthaft für die Menschenrechte
eingesetzt.
Wer hat sie umgebracht? Der frühere Chef der Privatisierungsbehörde,
Anatoli Tschubais, zeigte sofort auf die Linke. Starowoitowa habe "den
Kommunisten und Banditen im Weg gestanden". Die Kommunisten hätten
Gründe gehabt, ihren Tod herbeizuwünschen, denn "alles, was sie
tat, tat sie, um zu gewährleisten, daß diese Ideologie nie wieder siegen
wird".
Der frühere Premierminister Jegor Gaidar nahm ebenfalls die KPRF ins Visier.
Der Mörder "hatte ein Ziel: die Gegner der Nazis und Faschisten
einzuschüchtern". Es sei nötig, "diesen Mord mit einem
entschlossenen Kampf gegen die abstoßende braune Horde zu beantworten, die in
jüngster Zeit so offensichtlich aus den roten Bannern der Kommunistischen
Partei hervorgekrochen ist". Starowoitowa hatte in den Wochen vor ihrem Tod
die KPRF wegen der antisemitischen Erklärungen ihres Abgeordneten Albert
Makaschow heftig kritisiert.
Trotzdem war die Vorstellung, die KP habe ihren Mörder gedungen, so sehr an
den Haaren herbeigezogen, daß nicht einmal die Moskauer Tagespresse sie
ernstnahm, die sonst keine Gelegenheit ausläßt, die Linke anzugreifen.
Wie hätten die Partei auch die geschätzten 150000 US-Dollar für
den Mord aufbringen sollen, wenn sie nicht einmal Geld für die Kampagne zu
den Kommunalwahlen in St.Petersburg am 6.Dezember hatten?
Unter Journalisten ist deshalb die gängige Meinung die, Starowoitowa sei
umgebracht worden, weil sie die gefährlichste Position innehatte, die man heute
in Rußland innehaben kann: die zwischen ehrgeizigen und verbrecherischen
Geschäftsleuten und viel Geld.
St.Petersburg ist bekannt als eine der am meisten vom Verbrechen heimgesuchten
Städte Rußlands. Der Einfluß von Verbrecherbanden reicht tief in
die städtische Verwaltung. Für Politiker, die mit Mafiabossen kooperieren,
fallen ein paar Krümel ab, für die, die sich verweigern, gibt es Kugeln
oder Bomben. Wenn Politiker ein Amt erobern oder halten wollen, müssen sie
allerdings energische Aktionen gegen das organisierte Verbrechen fordern.
Starowoitowa war jedoch bekannt dafür, daß sie für ihre Meinung
auch eintrat. Über die Jahr hat sie sich viele Feinde gemacht, vor allem im Lager
des Bürgermeisters Wladimir Jakowlew.
In der Stadtverwaltung konkurrieren verschiedene Clans um Geld und Macht, und die
Stadtoberhäupter sind nicht selten in der Situation, darüber entscheiden zu
müssen, wer die dicksten Brocken erhält. Ein Wahlamt ist deshalb ein
Preis, um den es sich lohnt zu kämpfen. Laut der Zeitung Segodnja war die
jüngste Kommunalwahlkampagne in St.Petersburg "die schmutzigste in
der russischen Geschichte ... In jedem Wahlkreis hat mindestens ein Vertreter des
organisierten Verbrechens kandidiert."
Starowoitowa hat damit gedroht, den Banditen das Spiel zu verderben, indem sie einen
Block von Kandidaten zusammenstellte, der sich nicht einschüchtern ließ.
Monatelang hat sie versucht, zersplitterte und demoralisierte liberale Grüppchen
zu überzeugen, daß sie ihre Differenzen begraben und eine gemeinsame
Kandidatenliste vorlegen. Durch ihren Tod ist ihr das auch gelungen.
Aber selbst wenn die neuen Abgeordneten todesmutig sind, stehen sie vor
unüberwindbaren Hindernissen. Und wie sie an die Sache rangehen, kommen sie
keinen Schritt weiter.
Starowoitowas Prämisse in ihrem Kampf gegen das organisierte Verbrechen war,
daß Rußlands neue Elite sich selbst reformieren will, Kernstücke von
ihr bereit sind, Opfer zu bringen und Risiken einzugehen, um Rechtsstaatlichkeit
durchzusetzen. Doch das war nie realistisch.
Zu Beginn dieses Jahrzehnts waren die ersten, die sich anschickten, die neuen
Kapitalisten zu werden, Industriemanager, die sich Staatseigentum aneigneten,
wendehälsige Bürokraten aus dem Staats- und Parteiapparat und die
bereits aufstrebende Mafia. Mit sehr wenigen Ausnahmen wurden die wirklich
großen Vermögen angehäuft durch widerrechtliche Aneignung von
öffentlichem Eigentum unter Bruch oder Umgehung der Gesetze.
Verblendet von einer antisozialistischen Phobie haben die Demokraten der
frühen "Reform"periode den Leuten den Weg bereitet, die jetzt ihre
Feinde sind. Natürlich wäre es eine Beleidigung der Tapferkeit und
Ehrlichkeit von Starowoitowa, wollte man sie jetzt für ihren Mord
mitverantwortlich machen. Aber jeder, der ihre demokratischen Positionen teilt,
muß ihre Illusionen in den Kapitalismus und die Kapitalisten abweisen. Keine
Reformströmung in der jetzigen Elite wird ernsthaft denen den Garaus machen,
die solche Killer anheuern, oder die korrupten Elemente aus den Ministerien
entfernen.
Die einzige Kraft, die in der Lage wäre, das organisierte Verbrechen zu schlagen
und Demokratie und Menschenrechten tatsächlich zum Durchbruch zu
verhelfen, wäre die Masse der Bevölkerung, die Arbeiter und Bauern, die
für ihre Anliegen kämpfen. Am Ende dieses Jahrhunderts steht, wie an
seinem Anfang, die russische Bevölkerung vor der Aufgabe der demokratischen
Revolution. Wieder einmal ist sie unauflöslich mit der einer sozialistischen
Revolution verknüpft.
Renfrey Clarke
Aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.343, 2.12.1998. (Übersetzung:
ak.)