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Nach 15 Jahren Krieg in Kurdistan, mehr als 30.000
Toten, Millionen von Flüchtlingen, unzähligen Verletzten, Verhafteten
und Verschwundenen ist die kurdische Frage, genauso wie die Frage der
Demokratisierung der Türkei, an einem Wendepunkt angekommen: Für
die europäischen Regierungen, weil sie ein gerüttelt Maß an
Verantwortung für die Massaker in Kurdistan tragen; für die
Türkei, weil hier immer mehr Menschen wissen und auch zunehmend
öffentlich sagen, daß die Fortführung des Krieges keine Perspektive
für die Zukunft sein kann; für die PKK selbst, weil sie sich für eine
diplomatische Lösung der Kurdistanfrage entschieden hat und nunmehr gefordert
ist, diesen Weg zu konkretisieren.
Doch genau hierzu hüllt sich die PKK bis heute in geheimnisvolles Schweigen.
Zwar war die Ankunft Öcalans in Europa organisatorisch gut vorbereitet, doch
drängt sich die Frage auf, ob inhaltliche Konzepte für eine politische
Lösung bereits ebenso weit gedacht wurden. Die diesbezüglichen
Verlautbarungen aus Rom wirken mehr wie ein hilfloses Rudern im Ozean der neu
gewonnen Medienöffentlichkeit denn wie eine zielgerichtete Offensive zur
Stärkung der politischen Positionen der Partei.
Stellungnahmen Öcalans, die mit der eigenen Rolle als Vorsitzender der Partei
auch die Verantwortung für die Vergangenheit der Organisation zur Disposition
stellen und nicht davor zurückschrecken, die eigenen AnhängerInnen zu
beschimpfen und der Weltöffentlichkeit den Bären aufbinden zu wollen, er
sei von der eigenen Organisation über Jahrzehnte hinweg falsch verstanden
worden, sind nicht nur realitätsfremd und vermessen. Sie werden obendrein dort
gefährlich, wo sie – und sei es aus propagandistischem Pokerspiel heraus – den
Eindruck erwecken, der politische und militärische Führer der PKK
zöge sich aus seiner Verantwortung zurück und suche einen privaten
Lebensabend zwischen Europa und den USA.
Auch wenn die PKK eine wirkliche Demokratisierung und Dezentralisierung ihrer
Strukturen mehr als nötig hat, so wäre es für eine Organisation, die
sich im bewaffneten Kampf befindet, mehr als fatal, zum Zeitpunkt einer
diplomatischen Offensive die Führung auszutauschen, obendrein wenn, wie im
Falle der PKK die gesamte, auch zivile, Struktur in zentralistischer Weise auf eben jene
Führung ausgerichtet ist. Ein Abgang Öcalans, und sei er auch nur ein
angedrohter, hieße mit dem Eindruck zu spielen, die PKK könnte zum
Zeitpunkt diplomatischer Stärke plötzlich kopflos werden, bevor neue
Köpfe Einfluß gewinnen konnten. Die Auswirkungen für die
kurdische Sache wären nur schwer kontrollierbar.
Mehr Medienöffentlichkeit ließe sich hingegen mit Positionen und
Forderungen an die türkische Seite und an die europäischen Regierungen
erzielen, die über die bloße Forderung nach kultureller Autonomie
hinausgehen. Kulturelle Autonomie kann sich schlimmstenfalls darin erschöpfen,
der Türkei das Zugeständnis abzuringen, daß im sog. "Osten
des Landes" ein wenig kurdisch gesprochen, Volkstänze getanzt und zu
Volksfesten auch kurdische Trachten getragen werden dürfen. Für diese
Form der "Autonomie" sind die Menschen in den letzten 15 Jahren nicht
gestorben, haben sich die Inhaftierten nicht foltern lassen, haben Angehörige
nicht das Verschwinden ihrer Söhne und Töchter beweint. Eine wirkliche
Autonomie umfaßt Konzepte für Selbstverwaltungsstrukturen, politische
Verfaßtheit, Bildungs- und Erziehungswesen, Sozialsysteme, kurzum für
alle Gesellschaftsbereiche nicht nur der autonomen Region selbst, sondern auch
Forderungen an die Verfaßtheit jener türkischen Republik, die in Zukunft
den Fortbestand einmal getätigter Zugeständnisse an eine kurdische
Autonomie garantieren soll, ohne daß diese von den kemalistischen Eliten
jederzeit nach Gutdünken wieder eingeschränkt oder
zurückgenommen werden können.
Solche Konzepte und Forderungen liegen jedoch bislang nicht auf dem Tisch. Die PKK
hat den Krieg gegen das türkische Militär über lange Zeit mit dem
Ziel geführt, einen freien kurdischen Staat zu erkämpfen. Strategie und
Taktik der Kriegführung und das Primat des Militärischen über
dem Politischen waren darauf ausgerichtet. 1993 wurde die Forderung nach einem
eigenen Staat durch die nach kultureller Autonomie innerhalb einer föderativen
Türkei ersetzt. Konzepte für die neuen Kampfziele wurden jedoch nicht
entwickelt. Weiterhin bestimmte die rücksichtslose Unterdrückung jeden
kurdischen Selbstbewußtseins durch den Repressionsapparat des
türkischen Staates den Lebensalltag der Menschen und beförderte damit
eine Selbstwahrnehmung, die sich in der Rolle der ewigen Opfer sieht, sich darin jedoch
auch zu erschöpfen droht. Dies hat die PKK daran gehindert, Visionen für
eine Gesellschaft nach Beendigung des Kriegs zu entwickeln und Forderungen daraus
abzuleiten.
Heute ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die PKK ultimativ gefordert ist diese
aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Andernfalls verspielt sie das Vertrauen der
kurdischen Bevölkerung in eine bessere Zukunft.