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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 01 vom 05.01.1999, Seite 3

PKK und Friedensverhandlungen

Wo bleiben die Konzepte?

von KNUT RAUCHFUSS

Nach 15 Jahren Krieg in Kurdistan, mehr als 30.000 Toten, Millionen von Flüchtlingen, unzähligen Verletzten, Verhafteten und Verschwundenen ist die kurdische Frage, genauso wie die Frage der Demokratisierung der Türkei, an einem Wendepunkt angekommen: Für die europäischen Regierungen, weil sie ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die Massaker in Kurdistan tragen; für die Türkei, weil hier immer mehr Menschen wissen und auch zunehmend öffentlich sagen, daß die Fortführung des Krieges keine Perspektive für die Zukunft sein kann; für die PKK selbst, weil sie sich für eine diplomatische Lösung der Kurdistanfrage entschieden hat und nunmehr gefordert ist, diesen Weg zu konkretisieren.
  Doch genau hierzu hüllt sich die PKK bis heute in geheimnisvolles Schweigen. Zwar war die Ankunft Öcalans in Europa organisatorisch gut vorbereitet, doch drängt sich die Frage auf, ob inhaltliche Konzepte für eine politische Lösung bereits ebenso weit gedacht wurden. Die diesbezüglichen Verlautbarungen aus Rom wirken mehr wie ein hilfloses Rudern im Ozean der neu gewonnen Medienöffentlichkeit denn wie eine zielgerichtete Offensive zur Stärkung der politischen Positionen der Partei.
  Stellungnahmen Öcalans, die mit der eigenen Rolle als Vorsitzender der Partei auch die Verantwortung für die Vergangenheit der Organisation zur Disposition stellen und nicht davor zurückschrecken, die eigenen AnhängerInnen zu beschimpfen und der Weltöffentlichkeit den Bären aufbinden zu wollen, er sei von der eigenen Organisation über Jahrzehnte hinweg falsch verstanden worden, sind nicht nur realitätsfremd und vermessen. Sie werden obendrein dort gefährlich, wo sie – und sei es aus propagandistischem Pokerspiel heraus – den Eindruck erwecken, der politische und militärische Führer der PKK zöge sich aus seiner Verantwortung zurück und suche einen privaten Lebensabend zwischen Europa und den USA.
  Auch wenn die PKK eine wirkliche Demokratisierung und Dezentralisierung ihrer Strukturen mehr als nötig hat, so wäre es für eine Organisation, die sich im bewaffneten Kampf befindet, mehr als fatal, zum Zeitpunkt einer diplomatischen Offensive die Führung auszutauschen, obendrein wenn, wie im Falle der PKK die gesamte, auch zivile, Struktur in zentralistischer Weise auf eben jene Führung ausgerichtet ist. Ein Abgang Öcalans, und sei er auch nur ein angedrohter, hieße mit dem Eindruck zu spielen, die PKK könnte zum Zeitpunkt diplomatischer Stärke plötzlich kopflos werden, bevor neue Köpfe Einfluß gewinnen konnten. Die Auswirkungen für die kurdische Sache wären nur schwer kontrollierbar.
  Mehr Medienöffentlichkeit ließe sich hingegen mit Positionen und Forderungen an die türkische Seite und an die europäischen Regierungen erzielen, die über die bloße Forderung nach kultureller Autonomie hinausgehen. Kulturelle Autonomie kann sich schlimmstenfalls darin erschöpfen, der Türkei das Zugeständnis abzuringen, daß im sog. "Osten des Landes" ein wenig kurdisch gesprochen, Volkstänze getanzt und zu Volksfesten auch kurdische Trachten getragen werden dürfen. Für diese Form der "Autonomie" sind die Menschen in den letzten 15 Jahren nicht gestorben, haben sich die Inhaftierten nicht foltern lassen, haben Angehörige nicht das Verschwinden ihrer Söhne und Töchter beweint. Eine wirkliche Autonomie umfaßt Konzepte für Selbstverwaltungsstrukturen, politische Verfaßtheit, Bildungs- und Erziehungswesen, Sozialsysteme, kurzum für alle Gesellschaftsbereiche nicht nur der autonomen Region selbst, sondern auch Forderungen an die Verfaßtheit jener türkischen Republik, die in Zukunft den Fortbestand einmal getätigter Zugeständnisse an eine kurdische Autonomie garantieren soll, ohne daß diese von den kemalistischen Eliten jederzeit nach Gutdünken wieder eingeschränkt oder zurückgenommen werden können.
  Solche Konzepte und Forderungen liegen jedoch bislang nicht auf dem Tisch. Die PKK hat den Krieg gegen das türkische Militär über lange Zeit mit dem Ziel geführt, einen freien kurdischen Staat zu erkämpfen. Strategie und Taktik der Kriegführung und das Primat des Militärischen über dem Politischen waren darauf ausgerichtet. 1993 wurde die Forderung nach einem eigenen Staat durch die nach kultureller Autonomie innerhalb einer föderativen Türkei ersetzt. Konzepte für die neuen Kampfziele wurden jedoch nicht entwickelt. Weiterhin bestimmte die rücksichtslose Unterdrückung jeden kurdischen Selbstbewußtseins durch den Repressionsapparat des türkischen Staates den Lebensalltag der Menschen und beförderte damit eine Selbstwahrnehmung, die sich in der Rolle der ewigen Opfer sieht, sich darin jedoch auch zu erschöpfen droht. Dies hat die PKK daran gehindert, Visionen für eine Gesellschaft nach Beendigung des Kriegs zu entwickeln und Forderungen daraus abzuleiten.
  Heute ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die PKK ultimativ gefordert ist diese aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Andernfalls verspielt sie das Vertrauen der kurdischen Bevölkerung in eine bessere Zukunft.
 


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