Artikel SoZ

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 01 vom 05.01.1999, Seite 15

Kritik der revolutionären Ungeduld

Buchrezension

Der marxistische Philosoph Wolfgang Harich (1923 - 1995) verfaßte 1969 als Sympathisant der Neuen Linken eine Kritik des Anarchismus, um "den antiautoritär gesinnten Genossen warnend vor Augen zu führen, daß ihre vermeintlich taufrischen Lieblingsideen und bevorzugten Praktiken in Wahrheit weder originell sind noch sich jemals bewährt haben - bewährt im Sinne der herbeigesehnten Revolution" (S. 139). Der Essay, der im selben Jahr auszugsweise im Kursbuch 19 ("Kritik des Anarchismus") und zwei Jahre später vollständig als Raubdruck in der Schweiz erschien, ist nun vom Verlag der linken Tageszeitung junge Welt als Buch neu herausgegeben worden*.
  Der Verlag hat damit einen guten Griff getan. Denn obwohl der Text fast dreißig Jahre alt ist, ist er nach wie vor aktuell. Zwar ist der Anarchismus als eigenständige Strömung der Linken nur eine Randerscheinung. Doch einzelne anarchistische Anschauungen und Haltungen sind vor allem in der "autonomen" Szene und bisweilen sogar unter erklärten Marxistinnen und Marxisten anzutreffen.
  Das gilt bspw. für die "revolutionäre Ungeduld", die für Harich das Grundmotiv des Anarchismus und eine "Ausgeburt des Wunschdenkens" ist, noch mehr aber für die den Anarchismus kennzeichnende pauschale Ablehnung von Institutionen, das "Mißbehagen an jeder Art von Apparat".
  Besonders gründlich und provokant rechnet Harich in seinem Buch mit der Vorstellung ab, "Freiheiten des künftigen herrschaftslosen Zustandes in die Gegenwart hineinzuziehen, nichtautoritäre Verhaltensweisen inmitten der autoritären Gesellschaft vorzuleben". Er zeigt, daß solche Versuche "im Kern reformistisch" (S.134) sind.
  In Kapitel VIII ("Der Anarchismus als Zwillingsbruder des Anarchimus") demonstriert der Autor, wie das Versäumnis der Anarchisten (und der sog. "Rätekommunisten"), in organisierter Form eine dem Reformismus gegenüber alternative politische Führung aufzubauen, diesem Reformismus regelrecht in die Hände arbeitet: "Es war schlimm, daß 1918/19 der Apparat der reformistischen SPD konterrevolutionäre Politik betrieb. Es war jedoch ebenso schlimm, daß der Spartakusbund über gar keinen Apparat verfügte. Und da halfen auch die schönsten Arbeiter- und Soldatenräte nichts. Räte haben den großen Vorteil, potentiell das den Massen naheliegendste, für sie praktikabelste Instrument zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates von unten bis oben zu sein (weshalb es sehr zu begrüßen ist, daß heute [1969] die Neue Linke dem Rätegedanken zu einer Renaissance in den westeuropäischen kapitalistischen Ländern verhelfen will). Räte haben aber auch den Nachteil, als Produkte eines spontan aufbrechenden revolutionären Massenenthusiasmus ihrer Natur nach labil zu sein und daher leicht zum Spielball revolutionsfeindlicher Taktiker des reformistischen Apparats werden zu können, mit der Endkonsequenz ihrer ‚freiwilligen‘ Selbstauflösung ... Und dagegen gibt es nur ein Mittel der Rettung: Es müssen einheitlich handelnde, straff organisierte, von einem generalstabsartigen Zentrum aus geleitete Revolutionäre in den Räten den reformistischen Einfluß zurückdrängen und selbst die politische Führung erringen, um Existenz und Aktion der Räte über den Augenblick des Enthusiasmus hinweg auf Dauer zu stellen." (S.129f.)
  Der Autor zeigt, daß das Ziel einer herrschaftsfreien und staatenlosen Gesellschaft für den Anarchismus gar nicht kennzeichnend ist - diese Auffassung teilt er vielmehr mit dem Marxismus. Für den Anarchismus charakteristisch ist die (letztlich nur abstrakt-moralisch begründete) Ablehnung politischer Machtausübung zur Erreichung dieses Ziels, d.h. die Ablehnung der Diktatur des Proletariats in Verbindung mit der Ablehnung jeder Staatsmacht. Das Abstruse und Widersprüchliche der anarchistischen Auffassungen wird den Leserinnen und Lesern von Harich auf originelle Weise nahe gebracht. Dabei bietet er gleichzeitig eine gut lesbare und prägnante Einführung in die marxistische Staatstheorie.
  Durch die Renaissance "antiautoritärer" und anarchistischer Positionen nach dem Scheitern der maostalinistischen K-Gruppen und der damit einhergehenden Infragestellung marxistischer Grundpositionen in der Linken seit den 80er Jahren hat Harichs dreißig Jahre alter Essay seine Aktualität bewahrt. Das Buch sollte auf keinem linken Büchertisch fehlen.
  hgm
 
  * Wolfgang Harich, Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus, Berlin (Verlag 8.Mai) 1998, 168 Seiten; 16,80 DM, ISBN 3-931745-06-6.
 


zum
Anfang
script