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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 01 vom 05.01.1999, Seite 16

Geschichte, Kampf, Revolution

Sozialistische TheoretikerInnen aus aller Welt diskutieren die Aktualität des Kommunistischen Manifests

Daß Propheten im eigenen Land nicht viel gelten, ist eine altbackene, aber immer wieder zutreffende Feststellung, die auch auf Karl Marx und Friedrich Engels zutrifft. Wer an spannenden und weiterführenden Debatten um die marxistische Theorie und Praxis interessiert ist, muß deswegen schon seit vielen Jahren vor allem eins – Englisch beherrschen. Ausgesprochen verdienstvoll ist deswegen, daß der Hamburger VSA-Verlag einen Sammelband zu den 150-Jahr- Feiern des Kommunistischen Manifests herausgebracht hat, in dem vor allem internationale Beiträge namhafter MarxistInnen und SozialistInnen dokumentiert werden.*
  Neben den Beiträgen für zwei kleine deutsche Konferenzen in Trier und Frankfurt am Main (u.a. von Joachim Bischoff, Frank Deppe und Michael Krätke), finden sich hier zahlreiche Beiträge, die für eine internationale Tagung in Paris im Mai dieses Jahres verfaßt wurden. Samir Amin, Eric Hobsbawm, Frigga und Wolfgang Fritz Haug, Boris Kagarlitzki, Georges Labica, Colin Leys/Leo Panitch, Michael Löwy, Harry Magdoff, Paul M. Sweezy, Ellen Meiksins Wood u.a. – eine illustre Gesellschaft, die zum Besten gehört, was die marxistisch inspirierte internationale sozialistische Linke gegenwärtig zu bieten hat.
  Getroffen haben sie sich auf einer weltweit beachteten, strömungsübergreifend organisierten Tagung, die sicherlich nicht zufällig in Paris stattfand, mausert sich Paris doch nach Jahrzehnten der Abstinenz zunehmend zu einem neuen Zentrum radikalsozialistischen Denkens. Offensichtlicher Hintergrund: das Wiederaufleben linkssozialistisch beeinflußter Sozialbewegungen, die ihresgleichen suchen in Europa.
 
  Die Frage der Aktualität
  Die meisten der durchaus kritisch-selbstkritischen Beiträge atmen die frische Luft dieser Bewegungen und das macht den Band zu einem anregenden Leseerlebnis. "Die Allgemeingültigkeit des Manifests ist die seines Gegenstandes selbst. Sie regiert seine Aktualität", schreibt bspw. der französische Marxist Georges Labica, der die Neuheit des Manifests in die drei schlichten Worte Geschichte, Kampf und Revolution zusammenfaßt.
  Und der Moskauer Linksoppositionelle Boris Kagarlitzki konkretisiert diese Einschätzung, wenn er schreibt: "Niemand verlangt danach, ‚Hegel zu begraben‘ oder Voltaire zu widerlegen, da auch so klar ist, daß Hegelianismus und Voltairianismus der Vergangenheit angehören. Die Ideen der alten Philosophen haben sich in modernen Theorien aufgelöst. Das ist mit Marx nicht geschehen. Es kann auch nicht passieren, da die Gesellschaft, die er analysierte, kritisierte und die zu verändern er sich erträumte, noch immer weiterlebt."
  Keine Frage, viele üben auch zum Teil recht umfassende Kritik an falschen Einschätzungen im Manifest, an veralteten Elementen desselben oder an blinden Flecken, die es endlich gilt aufzuarbeiten. Nicht untypisch: gerade die Deutschen tun sich hier besonders hervor. Doch darin sind sich alle einig, die Aktualität des Manifests ist die Aktualität einer auf den Grund gehenden Kritik am 150 Jahre später noch immer – und zwar totaler denn je – herrschenden Kapitalismus.
  Doch neben dieser allgemeinen, fast schon metahistorischen Argumentation gibt es ganz konkrete Gründe für die aktuelle Renaissance der im Manifest so meisterlich niedergelegten Kapitalismuskritik. Es ist der aktuelle Stand des in die latente Krise geratenen Neoliberalismus, der die "postmarxistischen" Illusionen des Wohlfahrtskapitalismus verfliegen läßt. "Sozialwissenschaftler und Philosophen aller Arten suchen verzweifelt nach den Bremsen der globalen kapitalistischen Entwicklung", so der in Amsterdam lebende Deutsche Michael Krätke.
 
  Die Frage der Bourgeoisie
  Fragt man, warum das Kommunistische Manifest gerade auch bei bürgerlichen Intellektuellen nicht ungern gelesen und gelegentlich ausgiebig zitiert wird, so stößt man schnell auf Marxens grandiose Darstellung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie bei der permanenten Umwälzung der althergebrachten gesellschaftlichen Verhältnisse.
  Und selbstverständlich gibt es kaum eine treffendere Beschreibung des Kerns bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft als jene, daß die Bourgeoisie nicht existieren kann, "ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren", und daß sie "in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen (hat) als alle vergangenen Generationen zusammen". So richtig diese Sicht auch sein mag, sie diente und dient doch oft dazu, den herrschenden Kapitalismus modernisierungstheoretisch zu idealisieren.
  Marxistische Selbstkritik im Sinne einer feineren, differenzierten Analyse ist hier angebracht, das betont bspw. der Franzose Michael Löwy, wenn er diesbezügliche Beschränkungen, Verzerrungen und Widersprüche im Manifest "aus einer zu unkritischen Einstellung zur modern- bürgerlichen industriellen Zivilisation herrühren" sieht.
  Daß hier eine genauere Lektüre weiterhelfen kann, bemerkt Krätke, wenn er betont, "daß die Bourgeoisie [im Manifest] keineswegs das seiner selbst und seiner Sache bewußte ‚revolutionäre Subjekt‘ der kapitalistischen Entwicklung ist, vielmehr ein ‚Träger‘, ein Akteur in vielerlei Umwälzungen, der keineswegs weiß, was er da in Gang setzt, der nicht bewußt Revolutionen ‚macht‘ und daher auch nicht weiß, wie ihm und anderen geschieht."
  Die in Kanada lehrende Britin Ellen Meiksins Wood, seit kurzem Herausgeberin der bedeutenden Monatszeitschrift Monthly Review und z.Z. eine der produktivsten MarxistInnen weltweit, geht dabei noch ein bißchen tiefer. Sie führt aus, daß die von Marx und Engels damals so gepriesene revolutionäre Bourgeoisie nicht zu verwechseln ist mit dem, was wir unter kapitalistischer Klasse verstehen. Es handelte sich dabei vielmehr um Intellektuelle aus dem Mittelstand, die im Bündnis mit Handwerkern und "einfachen Leuten" nicht die Freisetzung des Kapitalismus wollten, sondern bürgerrechtliche Gleichstellung und "freie Bahn für Tüchtige". "Diese bürgerlichen Ziele sind nicht diejenigen einer Gesellschaft, die den kapitalistischen Reichtum als höchsten Zweck setzt."
  Gegen zeitgenössische Modernisierungstheoretiker gerade auch von links, sowie gegen Apologeten kapitalistischer Zivilgesellschaft beharrt sie auf den Erkenntnissen des alten nachmarxschen Arbeiterbewegungsmarxismus, der scharf zwischen Bourgois und Citoyen unterschied: "Der Kapitalismus braucht ein diszipliniertes und gefügiges Herr an Arbeitskräften. Er hat überhaupt keinen Bedarf an einer kritischen Bürgerschaft."
 
  Die Frage des Proletariats
  Komplementär zur Frage der Bourgeoisie stand und steht im Mittelpunkt der Diskussion um das Erbe des Manifests die Frage nach der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats. Daß Marx und Engels hier etwas vorschnell urteilten, das ist nicht nur nicht zu bestreiten, das betonen auch die meisten der hier versammelten AutorInnen. So haben bspw. Eric Hobsbawm und Wolfgang Fritz Haug sicherlich recht, wenn sie übereinstimmend darauf hinweisen, daß wir im Manifest Reste von Geschichtsmetaphysik finden.
  Verzerrend wird jedoch ihre Darstellung, wenn sie nicht auch angeben, wie sich die Marxsche Analyse der modernen Lohnarbeiterschaft nach 1848 weiter entwickelt. Der anfänglich ‚philosophisch‘ formulierte Kommunismus, der den Schwerpunkt seiner geschichtsphilosophischen Hoffnung auf den pauperisierten, total entfremdeten Proletarier legt, macht sehr bald einem ebenfalls bereits im Manifest vorhandenen ‚wissenschaftlichen‘ Kommunismus Platz, der die revolutionäre Rolle der lohnarbeitenden Klasse aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß, aus ihrer Stellung in den Produktionsverhältnissen und den damit verbundenen Qualifikationen (Zentralität, produktive Leitungsmacht, Organisation und Kollektivität) ableitet.
  Diese Koexistenz strukturell verschiedener Analyselogiken im Manifest selbst ist selten verstanden worden. Marx und Engels betonen mehrfach gerade auch im Manifest, daß für sie das Proletariat nicht mehr und nicht weniger als die zeitgenössische Fassung der Lohnarbeiterklasse bezeichnet, daß also historisch-spezifische Elemente wie die Pauperisierungstendenz nicht den strukturellen Ausgangspunkt ihrer Analyse ausmachen.
  Die typische Konsequenz dieses Mißverständnisses ist die unvermittelte Koexistenz von Determinismus und Voluntarismus. Am stärksten trifft man sie bei Eric Hobsbawm, dessen (nicht zufälligerweise auch schon von der linksliberalen Frankfurter Rundschau veröffentlichter) Text Marx zuerst des unreifen Determinismus überführt, um anschließend zu betonen, daß das Manifest trotzdem "kein deterministisches Dokument", sondern "ein Dokument der Alternativen, der politischen Möglichkeiten" sei.
  Auch bei Wolfgang Fritz Haug läßt sich diese ungeklärte Dichotomie verfolgen, wenn er einerseits zuspitzt, daß "die Begriffe von der Arbeiterklasse … ihren Zugriff auf die Wirklichkeit verloren" haben und andererseits mit den wunderschön-voluntaristischen Worten endet: "Warum nicht wahrnehmen, daß wir in einer Welt ohne Garantien, aber mit Möglichkeiten leben, einer Welt voller Widersprüche, in der es auf unsere Tätigkeit und Fähigkeit zur praktischen Dialektik desto mehr ankommt?" Das beides zusammenzudenken ist und in der Tat bei Marx und Engels zusammengedacht wurde, das hätte man als marxistische Aufklärung zum Thema erwarten dürfen.
  Klassen sind eben nicht etwas statisches oder fixiertes. Sie verändern sich beständig, und es kommt ganz wesentlich auf die einzelnen Menschen an, wie sie diesen Prozeß interpretieren und wie sie in ihn aktiv intervenieren. Darauf weisen auch Colin Leys und Leo Panitch, ihres Zeichens Herausgeber des internationalen Jahrbuches Socialist Register, in ihrem Beitrag zum politischen Vermächtnis des Manifests hin. Einheit der Klasse, revolutionäres Klassenbewußtsein, das war schon immer eine explizit politische, um nicht zu sagen voluntaristische, d.h. aktiv herzustellende Aufgabe. Nicht erst heute, sondern schon im Manifest. Und so ist das Manifest nicht nur ein Selbstverständigungsdokument einer aufkommenden sozialen Bewegung, es ist auch das voluntaristische Fanal, dieselbe bewußt zu konstruieren.
  Stichhaltiger ist da schon die an die Substanz gehende Kritik von Frigga Haug, daß, "sobald wir die Problematik der Geschlechterverhältnisse in den Blick nehmen, gut erkennen, daß die Vereinheitlichung zu einer Klasse mit gleichen Bedingungen und Interessen nicht stattfindet, und daß dies Konsequenzen für die Reproduktion und Stabilisierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse hat. Die Prognosen im Manifest erweisen sich nach dieser Seite hin als zutiefst illusionär. Und die Weglassung der Problematik der Geschlechterverhältnisse als grundlegend problematisch für die Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer Entwicklung."
  Daß dies auch politisch von zentraler Bedeutung ist, betont sie zu Recht, denn es geht dabei schließlich um die Frage der Bündnis- und Hegemoniefähigkeit. Unklar ist jedoch, ob sie damit eine Aussage wie die von Michael Löwy, daß die Masse der vom Kapital ausgebeuteten Lohnabhängigen mittlerweile die Mehrheit der Erdbevölkerung stellt und "bei weitem die Hauptkraft im Klassenkampf gegen das kapitalistische Weltsystem und die Achse für den möglichen und notwendigen Zusammenschluß mit anderen Kämpfen und anderen sozialen Akteuren" ist, unterstützen kann oder kritisieren muß. Eine entscheidende Frage, deutet sich doch an diesem Punkt ein möglicher und strategisch weitreichender Konsens der hier versammelten politischen Linken an.
 
  Die Frage der politischen Strategie
  Die latente Krise des herrschenden Neoliberalismus führt nicht nur zur Radikalisierung der unter ihm in vielfältigster Form leidenden Menschen. Die Verschärfung der systemimmanenten Widersprüche erleichtert nicht nur, daß ökonomische Kämpfe zunehmend politischen Charakter annehmen. Beides bewirkt auch eine Neuaneignung alter Denktraditionen auf der Linken.
  Höhepunkt dieser Radikalisierung ist der erfrischend mutige Beitrag von Boris Kagarlitzki, der als essentielle Bedingung effektiver, politischer Praxis vehement ein undogmatisches Zurück zu den rauhen, einfachen Wahrheiten des klassischen Marxismus einfordert. Alles andere als altbackenem Dogmatismus verdächtig, konstatiert er kämpferisch: "Die Gesellschaft bedarf neuer Ideen und starker Traditionen in gleichem Maße. Der Neoliberalismus vermag es nicht länger, das eine oder das andere zur Verfügung zu stellen. Die Linke könnte beides liefern, aber ihr fehlt der Wille, dies auch zu tun. Eine Rückkehr zum Marxismus bedeutet vor allem, der Klasse wieder eine zentrale Stellung im politischen Denken der Linken einzuräumen."
  Heutige antikapitalistische Politik, so Kagarlitzki, muß vor allem eines sein muß: defensiver Widerstand gegen die Offensive des Kapitals. Doch die Defensivität in der politischen Praxis dürfe nicht zur Defensivität in der theoretischen Praxis führen: "Jeder, der von Reformen träumt, muß zuerst dafür kämpfen, das Kräfteverhältnis zu verändern, und das bedeutet, zum Revolutionär und zum Radikalen im traditionellen Sinne zu werden."
  Auch Colin Leys und Leo Panitch gehen davon aus, daß wir in aufregenden Zeiten leben. Noch herrsche die Reaktion vor, doch zunehmend unsicherer und schwächer. Noch gebe es keine ausgewiesene politische Alternative, doch sammele "die Gegenströmung progressiver Vorstellungen und Ideen ihre Kräfte". Und schließlich: Immer deutlicher sichtbar werden die Widersprüche des ungezügelten Neoliberalismus "und immer mehr Menschen erkennen seinen wahren Charakter".
  Auf ihrer Suche nach dem politischen Vermächtnis des Kommunistischen Manifests stoßen sie auf den dort formulierten Grundsatz, daß der erste Schritt der Revolution die Erkämpfung der Demokratie sei. Sie plädieren in bester Tradition für eine umfassende Demokratisierung von unten, die die Imperative von kapitalistischem Markt und bürgerlichem Staat zunehmend in Frage stellt.
  Anders als in der deutschen politischen Theorie vermeiden sie die Fallstricke linksradikaler Ineinssetzung von Demokratie und Kapitalismus ebenso wie die einer zivilgesellschaftlichen Apologie des herrschenden Status quo, in der allenfalls graduelle Demokratisierung bürgerlicher Institutionen vorstellbar ist.
  "In der politischen Sphäre mag eine Art von Demokratie vorwalten, aber in kapitalistischen Gesellschaften verbringen die Menschen die wachen Stunden ihres Lebens meist mit Tätigkeiten und in Verhältnissen, wo es überhaupt keine demokratische Rechenschaftspflicht gibt. Das gilt nicht nur für den Arbeitsplatz, wo sie direkte Kontrolle durch andere zu gewärtigen haben, sondern in allen Lebensbereichen, die den Geboten des ‚Marktes‘ unterliegen", schreibt Ellen Meiksins Wood. Deutsche Linke täten gut daran, an diesem Punkt weiterzudenken.
 
  Christoph Jünke
 
  *Eric Hobsbawm u.a., Das Manifest heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg (VSA-Verlag) 1998; 304 Seiten, 39,80 DM.
 


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