Artikel SoZ

SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite 5

Ein Jahr freier Telefonmarkt

Realität im Weichzeichner

Ein Jahr nach der Freigabe des Telefonmarkts findet sich kaum ein Kommentar, der nicht zum Hohelied auf die Vorzüge des Kapitalismus anstimmt und in der Feststellung gipfelt: "Der Telefonmarkt ist ein Paradebeispiel für funktionierenden Wettbewerb."
  Verweise auf Preisnachlässe bis zu 70% sind die Weichzeichner in diesem Bild von der schönen neuen Welt des Telefonierens. Presseberichterstattung gerät dabei immer mehr zur kostenlosen PR-Veranstaltung für die Werbeabteilungen jener Akteure, die miteinander um ein möglichst großes Profitstück vom Kuchen des Telekommunikationsmarkts rangeln. Journalistische Recherche kommt selten über die Erstellung eines grafisch gut aufbereiteten Telefonkompasses plus textlicher Aufbereitung hinaus.
  Bei Verlegern erfreuen sich solche Ratgeber großer Beliebtheit, weil die im Tarifdschungel verloren gegangenen Telefonbenutzer nach Orientierung lechzen. Das Presseprodukt darf folglich durch solche "Dienstleistung" auf rege Nachfrage rechnen. Für den produzierenden Journalisten lockt an solchen Arbeiten die Aussicht, mit geringer Sachkompetenz und minimalem Aufwand die Zeilenhonorare einstecken zu können, die für die Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts unverzichtbar sind.
  Wo Oberflächlichkeit sich für Rechercheure in barer Münze bezahlt macht, sind fundierte Analysen und Hintergrundinformationen Mangelware. Enthält ein Jahresbilanzartikel Informationen über die Marktverluste der Telekom bei den Ferngesprächen im Festnetz (bis zu 25%) oder Aussagen über die Marktanteile der Newcomer, ist man schon gut bedient.
  Überdurchschnittliche Mühe darf man Verfassern von Artikeln bescheinigen, die zumindest andeuten, was die drastischen Gebührensenkungen der Telekom für den weiteren Verlauf des Wettbewerbs bedeuten. ("Die privaten Telefongesellschaften stellen sich auf einen harten Verdrängungswettbewerb ein", so die Wirtschaftswoche).
  Eingehendere Analysen der "Performance" der diversen neuen Anbieter sind fast so schwer zu finden wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Welchen Preis die Belegschaften der neuen Anbieter in Form von ungeschützten Arbeitsverhältnissen für die Niedrigstpreise zahlen, ist nicht interessant. Lediglich die Ankündigung von verschärftem Personalabbau bei der Telekom wird - natürlich positiv, weil kostensenkend - rezipiert.
  Wer sich mit einem Ausblick auf die Zukunft befaßt, gefällt sich im schwärmerischen Schwadronieren über die durch neue Techniken eröffneten unbegrenzten Möglichkeiten der (Tele-)
  Kommunikation. Von den Marketingabteilungen der Telekomfirmen unters Volk gestreute neue Verfahren wie Internettelefonie, Kommunikation per "Powerline" über das Stromnetz oder Versuche, mittels ASDL über das Kabelnetz Multimediadienste anzubieten, werden begierig aufgegriffen und in allen Einzelheiten breitgetreten.
  Stets wird nur beiläufig erwähnt, daß es sich jeweils lediglich um einen örtlich sehr begrenzten Pilotversuch handelt, nicht ins Bild passende Begleitumstände werden ausgeblendet. Und selbstverständlich ist nicht die Rede davon, daß die breite Masse der TelefonnutzerInnen in absehbarer Zeit diese Techniken nur vom Hörensagen kennenlernen werden - insbesondere jene Menschen, die außerhalb der Ballungsräume wohnen und nicht durch irgendeinen Zufall ins Fadenkreuz der neuen Anbieter kommen. Denn diese neuen Dienste fallen nicht mehr unter den Infrastrukturauftrag - der ohnehin nur die Telekom betrifft.
  Eine sicher nicht ungewollte Nebenwirkung der momentan verbreiteten "Visionen" ist, daß bei den Menschen das Vertrauen in die Wunderkräfte des Marktes gefördert wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese rosaroten Nebelschwaden lüften. Überrascht werden dann breite Teile der Bevölkerung feststellen, daß sie von den Möglichkeiten moderner Telekommunikation abgeschnitten sind. Das fällt momentan nicht auf, weil die BRD nach Abschluß der Digitalisierung des Telefonnetzes Ende 1997 über die modernste Telekominfrastruktur der Welt verfügt. Die dadurch eröffneten Möglichkeiten werden bisher nur von einer Minderheit der Bevölkerung genutzt.
  Wenn gegenwärtig in den diversen "Pilotprojekten" mit neuen Techniken die Weichen gestellt werden für die Aufspaltung der Gesellschaft in die - wie es neudeutsch heißt - "Communication Rich" und die "Communication Poor" ist das für die Masse der Bevölkerung nicht in Form von einschneidenden Verschlechterungen erfahrbar.
  Nach der Privatisierung verhielten sich die Dinge im Telekommunikationssektor anders als bei der Bahn. Es gab bisher nur relativ wenige offenkundige Verschlechterungen für die Bürgerinnen und Bürger, und diese wurden durch massive Preissenkungen bei den Ferntarifen in den Augen der Betroffenen mehr als wettgemacht.
  Die Ursache für die unterschiedliche Entwicklung ist in der unterschiedlichen Bedeutung der beiden Sektoren für den Kapitalismus zu finden. Während der Ausbau und die Modernisierung des öffentlichen Personen- und Güterverkehrs für wichtige Teile des Kapitals eher zweitrangig, für wichtige Sektoren wie die Autoindustrie eher unerwünscht ist, liegen die Dinge bei der Telekommunikation anders. Sie ist für die gesamte Wirtschaft von zentraler Bedeutung und somit Gegenstand permanenter Innovationen. Ähnlich wie im PC- Bereich werden dadurch vom Tisch der Reichen abfallenende Brotkrümel, sprich: gewisse Preissenkungen fürs gemeine Volk möglich, mehr nicht.
  Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß Phänomene, wie wir sie jetzt schon bei der privatisierten Bahn beobachten, künftig auch im Telekomsektor deutlicher zutage treten: Konzentration auf die Rennstrecken, Abhängen der Landstraßen, Vernachlässigung der Investitionen in die Infrastruktur, weil diese zu Lasten der schnellen Mark (bzw. des Euro) gehen, höhere Gebühren für jene abseits der Rennstrecken, usw. Eine wirtschaftliche Rezession würde solche Entwicklungen rasant beschleunigen.
  Gespannt darf man sein, mit welch schillernden Erklärungen die Medien dann aufwarten werden.
  Franz Mayer