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Mein Bekannter ist Niederländer. Er hat eine deutsche Frau und mit ihr
eine Tochter, die jetzt 8 Jahre alt ist. Er betreibt ein kleines Gastronomieprojekt in Roermond, hinter der
deutsch-niederländischen Grenze. Sie ist Lehrerin in Köln, und weil sie die Seßhaftere
von beiden ist, lebt die Tochter hauptsächlich bei ihr. Die kleine Miriam hat zwei
Staatsbürgerschaften, die niederländische und die deutsche. Darauf ist sie mächtig stolz,
sie findet es toll, in beiden Ländern zu Hause zu sein, und der niederländische Kinderpaß
ist ihr ständig ein Ansporn, auch diese Sprache zu lernen, obwohl der Vater fließend deutsch
spricht. Identitätsprobleme hat sie keine, und bisher ist auch niemand auf die Idee gekommen, ihr
vorzuhalten, sie sei eine "Gefährdung für die Sicherheitslage", wie sich Bayerns
Ministerpräsident Stoiber auszudrücken beliebt.
Dank der Stärke der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt kommt man mit einem deutschen
Paß sehr weit. Aber die Nützlichkeit dieses Dokuments sagt nichts über die
persönliche Bindung seiner InhaberInnen an die deutsche Staatsbürgerschaft aus. Stoiber soll
nicht so tun, als sei die deutsche Vergangenheit vergessen. Im Nationalsozialismus wäre es für
viele deutsche Staatsbürger nützlich gewesen, außer ihrem eigenen auch einen
portugiesischen oder amerikanischen Paß zu haben.
Die meisten Menschen in Deutschland haben kein völkisches, sondern ein pragmatisches
Verhältnis zu ihrem Paß. Daß ihre Lebenswirklichkeit zerrissen ist, daß ihre
Familien in der Türkei, ihr ständiger Wohnort aber in Berlin ist, daran ändert kein
Paß etwas.
Mein türkischer Nachbar findet es aber leichter, mit seinem türkischen Paß nach Hause
zu fahren, als mit dem deutschen; er kommt dann als Inländer nach Hause zu seinen Verwandten, als
der er sich fühlt, nicht als Ausländer. Mein iranischer Freund dürfte ohne iranischen
Paß gar nicht mehr nach Hause. Weil er aber mit einer Deutschen verheiratet ist, die obendrein
Ungarin ist, hat er auch einen deutschen Paß. Mit dem kann er sich in Europa frei bewegen, das
könnte er mit seinem iranischen Paß nicht. Meine deutsche Freundin hingegen, die die
angeheiratete Familie kennenlernen wollte, fand es einfacher, auch noch die iranische
Staatsbürgerschaft anzunehmen, statt auf Schritt und Tritt im Iran wie eine Touristin gegängelt
zu werden.
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Sie zeigen: Pässe sind, wie der Name schon sagt,
Schlüssel zu freier Reisemöglichkeit, nicht Ausweise einer Gesinnung. Die Identität
heutiger Menschen hingegen ist mehrfach gebrochen: Kriege, Flucht, Arbeitsmigration, zerstören die
lupenreine "völkische Abstammung"; die Zusammenhänge, in denen Menschen
aufwachsen, sind längst nicht mehr stabil und überschaubar, die Familien häufig
verstreut. Diktaturen und Kriege haben das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft,
von dem eine Nation lebt und worauf sie sich ursprünglich einmal gründete, zerbrochen. Das
gilt in kaum einem Land so sehr wie in Deutschland.
Und schließlich die Globalisierung: Unternehmer fordern höchstmögliche Bereitschaft
der Arbeitskräfte zu pendeln, in vielen Berufen wird heute Mehrsprachigkeit verlangt, Ausbildung
und Berufserfahrung im Ausland gelten als karrierefördernd - wie soll da Identität sich ein
Leben lang darauf stützen können, in welchem Dorf einer zufällig aufgewachsen ist?
Das ist lebensfremd, auch für Bayern. Sie pflegen im Ausland ihre Traditionen nicht stärker als
andere Völker.
Zwei Millionen Menschen in Deutschland haben zwei Pässe; ihre Mitmenschen stört es nicht
und ihnen selber erleichtert es das Leben. Wollte man von ihnen, oder auch von den
einbürgerungswilligen Türken, Italienern, Spaniern, verlangen, den Paß
zurückzugeben, den auch der Onkel, die Großmutter und die Nichte tragen, würde man
entweder die Familie auseinanderreißen, oder man würde ihre Integration erschweren, weil sie
zu diesen Bedingungen den deutschen Paß nicht wollen. Für eine Politik der Integration ist das
kontraproduktiv.
Aber Stoibers Position (das bestehende deutsche Staatsbürgerrecht) konstruiert auch nicht
Integration, sondern Differenz. Er macht Türken zu Türken, die sich längst als Deutsche
fühlen; er zwingt Deutsche in ein Deutschtum, das sie hassen, kurzum: er balkanisiert die
bundesdeutsche Gesellschaft. Und wie auf dem Balkan zu sehen, wo die deutsche Außenpolitik
maßgeblich dazu beigetragen hat, daß Kroaten, Serben und Bosnier entstanden sind, die gar
keine sein wollten, ist das Ergebnis nur Haß.
Angela Klein