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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite 11

Blutauffrischung im Kurbad

Neubeginn der BAG Erwerbslose

Im ruhigen Heide-Kurort Bad Bevensen passierte Erstaunliches. AktivistInnen aus knapp 40 Initiativen reorganisierten die BAG Erwerbslose mit einer neuen Plattform sowie einem Vorschlag für eine "Kampagne '99". Erfreulich war, daß die offenen Einladung ein breites Spektrum ansprach: Bündnisse gegen Sozialabbau, autonome Erwerbsloseninis, Arbeitslosenzentren, gewerkschaftliche Erwerbslosengruppen, Sozialhilfeinitiativen, Obdachlosengruppe, lokale Euromarsch- Gruppen, die Erwerbslosenzeitung quer, ein Bildungsverein sowie der Theoriezirkel exit. Als Gäste konnten eine Vertreterin von AC! sowie ein Vertreter von MNCP (beide Frankreich) begrüßt werden.
  Im Zentrum der inhaltlichen Diskussion stand der Vorschlag für eine "Plattform für eine andere Arbeit". Darin wurde formuliert, sich "inhaltlich und organisatorisch neu (zu) besinnen". Dies wurde im 14seitigen Plattformentwurf versucht. Sympathisch war, daß klargemacht wurde, daß die Plattform ständig weiterentwickelt werden muß. Sie wird als Diskussionsangebot verstanden. Dies erleichterte sicherlich den Anwesenden die weitgehende Akzeptanz der vorgeschlagenen Thesen. Zweideutigkeiten wurden gestrichen, die Passage zum Verhältnis zu den Gewerkschaften entschärft.
  Positiv auch, daß im internationalen Bündnisbereich die Mitarbeit u.a. bei den "Europäischen Märschen gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung" ausdrücklich festgeschrieben wurde.
  Aktionsbezogen gab es den Vorschlag einer "Kampagne '99". Innerhalb dieser zeitlich auf 3-4 Monate begrenzten Kampagne will mensch sich auf "kurzfristig(e) erfüllbare Forderungen" konzentrieren:
  - 300 DM sofort - Ausgleich für gestiegene Kosten
  - Keine Anrechnung des Kindergelds auf die Sozialhilfe
  - Rücknahme aller Kürzungen und Schikanen im SGB III - insbesondere
  - der Meldekontrolle,
  - des Bewerbungszwangs,
  - der Auflösung des Berufsschutzes,
  - der jährlich dreiprozentigen Kürzung der Arbeitslosenhilfe,
  - Weg mit dem Asylbewerberleistungsgesetz!
  Dieses Paket soll mit folgender Aktionsplanung durchgesetzt werden:
  1. Die lokalen SPD-Parteibüros werden bundesweit gleichzeitig auf 3-4 Stunden befristet besetzt. Die Forderungen und die Kampagne werden bekanntgegeben. Solidarität der SPD-Ortsvereine und grüne Ortsverbände wird eingeklagt: Auch sie sollen Druck für die Verwirklichung der Forderungen auf ihre Bundesspitzen ausüben.
  2. Lokale Arbeitsämter (alternativ als "Robin-Soz"-Aktion: die Bundesanstalt) oder Sozialämter werden über Nacht besetzt. Das Arbeitsamt ist die "Fabrik" der Arbeitslosen. Die Arbeitsämter setzen das SGB III mit einigen Entscheidungsspielräumen um. Lokale Besonderheiten können zusätzlich zu den Forderungen der Kampagne aufgegriffen werden, weitere Betroffene sollen zur aktiven Teilnahme gewonnen werden. Die Kampagne wird weiter publik gemacht.
  3. (Diesen Schritt können wir auch auslassen:) Die lokalen SPD-Büros werden bundesweit gleichzeitig über Nacht befristet besetzt. Die Forderungen werden bekräftigt, Solidarität wird eingeklagt.
  4. Die lokalen SPD-Büros werden bundesweit gleichzeitig unbefristet besetzt. Wir bestimmen eine Delegation für die Verhandlungen mit den Parteispitzen. Wir bleiben solange, bis es eine Zusage für die Erfüllung unserer Forderungen gibt.
  Nahezu einstimmig wurde dem Forderungspaket sowie der Aktionsplanung zugestimmt. Allen Verbänden und Initiativen, insbesondere auch aus dem antirassistischen Spektrum, werden diese Vorschläge zur Beratung unterbreitet.
  Letztlich über diese Vorschläge entscheiden wird ein bundesoffenes Treffen am Samstag, 27. Februar 1999, 11 bis 17 Uhr, Gesamthochschule Kassel (Projekt Sozialberatung, FB 04 / Gesamthochschule Kassel, Arnold-Bode-Str. 10, 34127 Kassel).
  Konsens war, daß die "Kampagne '99" (vorläufiger Titel) neben den Aktivitäten zum EU- und G8-Gipfel der initiativenübergreifende Höhepunkt des Jahres ist.
  Damit soll der Neubeginn der BAG-Erwerbslose, die sich im Kurort in "BAG - Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen" umbenannt hat, eingeleitet werden.
  Paul Stern
 
 

Plattform für eine andere Arbeit (Auszüge)


  Nach dem 1.Bundeskongreß der Arbeitsloseninitiativen 1982 in Frankfurt entstanden die "Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut". Sie verstanden sich als politisch strömungsübergreifend, themenzentriert arbeitend und basisdemokratisch organisiert.
  Ergebnisse dieser Zusammenarbeit waren u.a. der 2.Bundeskongreß 1988 in Düsseldorf, die Kampagne gegen die Bedürftigkeitsprüfung, die Kampagne gegen erzwungene Arbeit mit einer Aktion vor dem Haus der Arbeitgeberverbände in Köln, die Ausarbeitung und Begründung der Existenzgeldforderung, der Aufbau des europäischen Netzwerks "Itaka" mit mehreren internationalen Treffen.
  Bereits Mitte der 80er Jahre verließ ein Teil der gewerkschaftlichen Initiativen diese Zusammenarbeitsebene und gründete die Koordinierungsstelle der gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiativen in Bielefeld. Nach 1990 etablierte sich der Arbeitslosenverband (ALV) in Ostdeutschland. So konnten sich in den vergangenen zehn Jahren nach dem 2.Bundeskongreß die "Bundesarbeitsgruppen der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut" nicht zu dem übergreifenden Zusammenschluß der verschiedenen Jobber-, Sozialhilfe- und Erwerbsloseninitiativen entwickeln, der angestrebt war.
  Die gewerkschaftliche Koordinierungsstelle in Bielefeld, der ALV, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI), die Euromarsch-Koordination, die Bundesarbeitsgruppen - sie alle haben in der Vergangenheit eigene Organisationsstrukturen und eigene Politikformen entwickelt.
  Die Existenzgeldforderung, von den Bundesarbeitsgruppen im Februar 1992 als Grundsatzposition verabschiedet und damals von allen Zusammenschlüssen getragen, hat sich nicht zu der inhaltlich bestimmenden Klammer entwickelt, als die sie gedacht war.
  Wir müssen uns inhaltlich und organisatorisch neu besinnen. Wir formulieren deshalb in dieser Plattform unsere Position aktuell und zugespitzt. Sie ist ein offenes und solidarisches Diskussionsangebot an alle.
  Wir brauchen nicht "mehr Arbeit", sondern radikale Arbeitszeitverkürzung ...
  Wir brauchen kein "Beschäftigungswunder" im Billiglohnbereich, sondern eine gerechte Umverteilung der gesamten - auch unbezahlten - Arbeit zwischen Männern und Frauen...
  Wir brauchen keinen Arbeitszwang, keine Schikanen und Kontrollen, sondern ein existenzsicherndes Einkommen und eine - nicht nur finanzielle --Teilhabe am gesellschaftlichen Leben...
  Wir halten auch wenig von der Forderung nach einem "Recht auf Arbeit". Sie geht unter den jetzigen Bedingungen des Arbeitsmarktes eher nach hinten los, weil sie die realen Bedingungen von Lohnarbeit außeracht läßt. Arbeit an sich ist kein besonders erstrebenswertes Ziel, auch nicht mit einem Rechtsanspruch. Und auch der Zusatz, man fordere ja "sinnvolle Arbeit", ändert nichts am prinzipiell fremdbestimmten Charakter kapitalistischer Arbeit...
  Aus dieser Erfahrung betrachten wir alle "Reform"vorschläge besonders argwöhnisch, die Erwerbslose "wieder in Arbeit" bringen sollen, wenn sie nicht die Organisation und Verteilung der Arbeit überhaupt thematisieren...
  Unsere Antwort auf existenzielle Probleme: Existenzgeld
  Wir fordern 1500 DM plus Warmmiete monatlich als Existenzgeld, unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Familienstand und ohne den Zwang zur Arbeit. Jede deutliche Verbesserung gegenüber der Sozialhilfe begrüßen wir als einen richtigen Schritt in diese Richtung.
  Das Existenzgeld ist eine solidarische Grenze gegen Verarmung, Ausgrenzung und Ausbeutung - ein faktischer Mindestlohn, unter dem niemand arbeiten muß!...
  Gewerkschaften in Deutschland sind nur bedingt in der Lage, die Erwerbslosen tatkräftig und solidarisch zu unterstützen. Ihr Umgang mit uns bei den Demonstrationen gegen Sozialabbau, beim EuroMarsch, zuletzt bei den Aktionstagen und vor allem der geplanten bundesweiten Abschluß- Demonstration der Aktionstage am 12. September hat uns gelehrt, daß sie eher mit Unterstellungen, Spaltung und Abgrenzung gegenüber eigenständigen Bewegungen an der Basis reagieren, als nur einfach einmal souverän und praktisch solidarisch zu sein. Eine eigenständige, unabhängige Protestbewegung oder gar Organisation der Ewerbslosen bedeutet offensichtlich praktische Kritik an der Gewerkschaftspolitik, mit der sie nicht solidarisch umgehen können...
  Die Aktionstage der Erwerbslosen im vergangenen dreiviertel Jahr haben gezeigt, daß entgegen allen "wissenschaftlichen" Untersuchungen Erwerbslose sehr wohl in der Lage sind, sich zu organisieren und Widerstand zu leisten. Über 50000 Menschen in mehr als 200 Städten sind über Monate regelmäßig auf die Straße gegangen und haben mehr oder weniger radikal gegen ihre Ausgrenzung und Verarmung protestiert. Dieser Protest muß inhaltlich, organisatorisch und praktisch weitergeführt werden!
  Die Aktionstage haben aber auch gezeigt, daß wir uns mit unseren Positionen in einer Minderheit befinden. Es tat weh zu sehen, wie in den Medien die radikalen und konsequenten Aktionen völlig ausgeblendet und dafür die Jammer- und Opferhaltung einiger Erwerbsloseninitiativen in den Vordergrund gespielt wurden...
  Wo wir unsere gesellschaftliche Ohnmacht durchbrechen, wo gegenseitige Hilfe zur Aneignung von unten wird, wo wir Erfahrungen von Macht, Selbstbestimmung und Autonomie machen, werden wir zu einer Sozialen Bewegung. Trotz aller Kritik sind die Protesttage der erfolgreichste (und einzige?) praktische Organisationsansatz der letzten Jahre in dieser Richtung...
  Die Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen müssen sich neu auch auf Bundesebene organisieren: Autonom und politisch selbstbestimmt, aber in Bündnissen mit anderen Initiativen. Schon bald nach dem Regierungswechsel wird es auch eine neue Bereitschaft und Einsicht vieler Menschen innerhalb der Gewerkschaftsorganisationen geben, eine oppositionelle Praxis mit den Erwerbslosen und anderen Gruppen zu entwickeln. Ein Gelingen dieser Bündnisse wird überlebensnotwendig sein - für beide Seiten.
  Bad-Bevensen, Januar 1999
  Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen