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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite 13

Der Jevermann und die Fischerbande

Zur Politik nach den Bundestagswahlen

Von bürgerlicher Seite ist das Wahlergebnis vom 27.September relativ ruhig aufgenommen worden, nicht nur der Boss der Bosse, Henkel, scheint mit den Siegern marschieren zu wollen. Die Bildung einer "rot"-grünen Regierung wird nicht als Ausdruck eines kulturell- politischen Bruchs gesehen wie 1969 die Kanzlerwahl von Willy Brandt oder 1982 die von Kohl, der die moralische Erneuerung schaffen wollte, flankiert vom Lambsdorff-Papier als sozial- und wirtschaftspolitische Grundlage.
  Es gibt keinen Sturm der Entrüstung, obwohl die Parteien links von CDU/FDP eine parlamentarische Mehrheit haben wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Sehr informativ war diesbezüglich eine Talkrunde noch am Wahlabend mit Altpolitikern aus der Phase der sozialliberalen Koalition. Was da an Gelassenheit gerade von konservativen CDU-Veteranen präsentiert wurde, hatte nichts mit Altersweisheit zu tun.
  Die Tatsache, daß die SPD mit Kanzlerkandidat Schröder ohne großartige programmatische Alternative antrat ("Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser"), kann es allein nicht gewesen sein, was die bürgerlichen Kräfte dazu gebracht hat, die "rot"-grüne Regierung zu akzeptieren.
  Folgende Gründe scheinen ausschlaggebend zu sein:
  In einem größeren Umfang als vor den Wahlen vorhergesehen, hatte sich die alte Koalition an der Regierung verbraucht.
  Es reicht nämlich nicht aus, die Interessen des Bürgertums zu bedienen, wenn die Spaltungslinien in der Gesellschaft immer näher an die erwerbstätige Bevölkerung reichen. Das System Kohlscher Politik ist dem Anspruch der CDU, Volkspartei zu sein, immer weniger gerecht geworden.
  Gerade im Osten hat die CDU den Wiedervereinigungsbonus aufgrund der sozialen Realität glatt verloren. Als Partei, die in den 50er und 60er Jahren als Volkspartei groß geworden ist, die wirtschaftspolitisch in dieser Phase nicht unwesentlich das sozialdemokratische Jahrhundert geprägt hat (soziale Marktwirtschaft, Schaffung des Systems der Sozialversicherungen), kann sie nicht permanent eine Politik der Konterreformen betreiben, ohne daß sich ihre Wählerschaft zu zersetzen beginnt.
  Man muß die Bilder im Fernsehen an den Tagen nach der Wahl mit denen vergleichen, als die SPD- Kanzlerkandidaten Vogel, Rau, Lafontaine und Scharping jeweils die Wahl verloren: Bei der SPD herrschte die Haltung, man werde jetzt ordentliche Oppositionspolitik machen. Das Personal blieb.
  Bei der CDU/CSU bis hin zur FDP traten wesentliche Personen des Führungskaders aus ihren Ämtern zurück und verkündeten ihren Rückzug aus der Politik auf Bundes- und Landesebene. Vor allem die CDU ist tief geschwächt und wird eine ganze Periode brauchen, um sich wieder als Partei präsentieren zu können, die den berechtigten Anspruch stellen kann, bundespolitisch führend zu sein.
  Allerdings sollte man vorsichtig sein, in dieser Niederlage und diesem "Sich an der Macht verbrauchen" den Kern einer Entwicklung zu sehen, wie sie sich in Italien oder Frankreich im bürgerlichen Lager abgespielt hat und noch abspielt. Auch wenn die CDU große Schwierigkeiten hat, sich politisch neu zu orientieren, ist ihr politischer Kern noch sehr homogen. Dazu kommt noch, daß ihr der organisierte Druck einer rechten politischen Formation erspart bleibt.
  Es fehlt der Druck von unten
  Anders als der Regierungsantritt Willy Brandt 1969 ist der Antritt Schröders nicht begleitet von breiten gesellschaftlichen Mobilisierungen. Vor '69 war '68, und obwohl Willy Brandt kaum Sympathien mit dem SDS und seiner Kampagne gegen den Vietnamkrieg nachgesagt werden kann, war seine Losung "Mehr Demokratie wagen" doch ein Bruch mit dem Theorem von der "Formierten Gesellschaft" Ludwig Erhards. In dem Versprechen, die Gesellschaft zu reformieren, kamen viele Motive zum Vorschein, die in den Jahren zuvor Zehntausende - nicht nur Studenten - auf die Straße gebracht hatten.
  Dieses Moment des Bürgerschrecks beim Regierungswechsel fehlt heute. Fortschrittliche gesellschaftliche Mobilisierungen laufen auf Sparflamme.
  Die großen dynamischen Kundgebungen und Demonstrationen gab es in der Anfangsphase der Kohlregierung:
  - die Friedensdemonstrationen mit bis zu einer Million Menschen
  - der Kampf um die 35-Stunden-Woche, gegen den §116 AFG, gegen den Weltwirtschaftsgipfel in Berlin.
  Viele größere Mobilisierungen danach hatten nicht mehr in erster Linie die Regierungspolitik im Visier, wie die Aktionen gegen rassistische Anschläge und Aufmärsche von Nazis.
  Wie stark sich die Kraft der außerparlamentarischen Opposition verbraucht hat, zeigte die geringe Beteiligung an den Demonstrationen gegen die Beseitigung des Asylrechts.
  Meine These ist also: Weder Regierung noch Bürgertum brauchten am 27.September zu befürchten, daß eine breite gesellschaftliche Bewegung eine "rot"-grüne Regierung mit eigenständigen Forderungen unter Zugzwang setzen könnte. Diese Bewegung hat sich an der Festung Kohl aufgerieben. Selbst die große Sympathie in der Bevölkerung für die Arbeitslosenbewegung kann darüber nicht hinwegtäuschen.
  Wegen der Schwäche der CDU und zeitgleich der Schwäche der sozialen Bewegungen sitzt die neue Regierung fest im Sattel. Die bestehenden Konfliktpunkte kommen auch nicht durch das Verhältnis zwischen Grünen und SPD zustande.
  Meines Erachtens hat die SPD von den Grünen kaum ernsthafte Störungen zu erwarten. Die Aussage Kurt Biedenkopfs nach der Wahl, die SPD werde die Grünen so zurichten, daß auch eine CDU/Grünen-Regierung möglich wird, ist falsch. Nicht die SPD biegt die Grünen zurecht. Das erledigt die Grüne Partei selbst.
  Man soll sich nicht täuschen lassen von den Stimmen, die auf dem letzten Parteitag nicht bereit waren, die Koalitionsvereinbarungen zu schlucken. Opposition gibt es in jeder Partei. Entscheidend ist das Ausmaß der Zustimmung zur Koalition. Entscheidend ist die Zustimmung zum Kosovo-Einsatz der Bundeswehr, die Zustimmung zur Kontinuität in der Außenpolitik.
  In der Sozialpolitik steht Andrea Fischer rechts von Rudolf Dressler, in der Finanzpolitik steht der Experte der Grünen Metzger rechts von Lafontaine. Andrea Fischer ist kompatibel mit Riester, ebenso wie Metzger mit Clement steuerpolitisch an einem Strang zieht.
  Bei den Grünen geht es nicht darum, ihre politische Unschuld in der Realpolitik der Regierung zu verlieren. Diese Phase hat die Partei schon hinter sich. Sie wird praktisch zu dem, was sie soziologisch schon immer war: Der politische Ausdruck einer neuen Schicht im Kleinbürgertum, die mit gesellschaftlicher Solidarität nichts am Hut hat, sozialpolitisch individualistisch/egozentrisch ist und ihre darüber hinausgehende Orientierung an Gefühlsschwankungen orientiert.
  Wirtschaftspolitik umstritten
  Mit wem sich die SPD tatsächlich rumzuschlagen hat, ist mit sich selber.
  Schröder hat ausgereicht, die Wahl zu gewinnen. Ein auf die Person bezogener Medienwahlkampf hat auch in der Bundesrepublik gewirkt, und in einem der Jever-Reklame nachempfundenen Werbetrailer wirkt der einsame Mann am offenen Meer natürlich kultivierter, attraktiver als das Sinnbild geistiger und körperlicher Verfettung, das auch äußerlich ein Hohn auf den Typus des modernern Staatsmanns geworden ist.
  1998 ist das Jahr des smarten Politikers mit jugendlicher Damenbegleitung. Tony Blair läßt grüßen. (Allerdings hat die Dame sich um Krankheiten zu kümmern und nicht um Wirtschaftspolitik, auch wenn frau von den einen keinen Schimmer hat und bei der anderen Expertin ist.) Und wenn es bei Schröder in seiner Studienzeit zum Mitglied einer Band gereicht hat, konnte die Attitüde der Pop-Nähe mit ausgeliehenen Rockfiguren nachgeholt werden, die den "Wind of Change" besungen haben. Mehr scheint Schröder nach dem 27.September nicht zu sein.
  Was sich an Konflikten in der SPD abspielt, ist eine Auseinandersetzung um Rolle und Politik von Lafontaine.
  Es geht um die Frage: Wer hat in Partei und Fraktion das Sagen? und um die Frage: Kann und soll Politik wieder einen eigenständigen Stellenwert gegenüber der Ökonomie haben?
  Die Forderung Lafontaines an die deutsche und europäische Zentralbank, ihre Zinspolitik zu ändern, hat wütende Proteste losgelöst. Vordergründig ging es darum, den Angriff auf die Geldwertstabilität abzuwehren. Dahinter aber wurde ein Angriff Lafontaines auf das fünffache Credo des Neoliberalismus vermutet, nämlich:
  - Alles Heil kommt vom Wirtschaftswachstum.
  - Staat und Politik sind für den Markt nur hinderlich.
  - Steuern sind Diebstahl.
  - Der Markt schafft Gerechtigkeit.
  - Politik ist nur sinnvoll und erträglich als Magd der Ökonomie.
  Lafontaines vorsichtige Vorstöße in Richtung einer nachfrageorientierten Politik, die nicht über massive Steuersenkungen angeschoben werden sollte, stieß nicht nur auf massive Kritik in den konservativen Blättern, sondern auch in Zeitungen wie Taz und Stern.
  Ins gleiche Horn stieß auch der Brief aus der Staatskanzlei von NRW, wo Clement meinte, neben drastischen Senkungen des Spitzensteuersatzes auch die Anhebung der Mehrwertsteuer vorschlagen zu müssen, um den Mittelstand zu entlasten.
  Was hier läuft, ist kein Kasperlespiel. Es ist die innerparteiliche Auseinandersetzung um zwei Varianten sozialdemokratischer Finanz- und Wirtschaftspolitik. Eine verhaftet der neoliberalen Ideologie, die andere, die versucht, diese einseitige Ausrichtung aufzuweichen. Wie gesagt: aufzuweichen, mehr nicht.
  Man könnte vielleicht sagen, die französische und die britische Sozialdemokratie streiten sich im Bonner Kabinett. Der Konflikt wird anhalten.
 
  Neue Kleider
  Viele Elemente der neuen Regierungspolitik zeichnen sich durch eine besondere Art der "Normalisierung" aus, die neben positiven Elementen auch viele negative Züge hat.
  - Die ersten Aussagen hat die Regierung zur Frage der Immigration gemacht.
  Wie halbherzig auch immer die Antworten zur doppelten Staatsbürgerschaft sind: Hier wird ein Bruch mit dem ius sanguis vollzogen, wenn auch die automatische Staatsbürgerschaft erst in der zweieinhalbten Generation zugestanden wird. Auch die Gleichstellung von nichtchristlichen Religionsgemeinschaften ist positiv und zunächst einmal ein Zustand, wie er in den meisten europäischen Ländern längst selbstverständlich ist.
  Gleichzeitig wurde allerdings eine Debatte losgetreten, ob die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Was von der SPD zu befürchten war, aber so klar von den Grünen noch nie ausgesprochen wurde: im Regierungslager herrscht Common sense, daß das Boot "voll" ist und nicht einmal eine gesteuerte Zuwanderung erwünscht ist.
  Wie weit fällt diese Position doch hinter die von vor 2-3 Jahren zurück, als die gleichen Politiker eine geregelte Zuwanderung befürworteten? Beide Themen so miteinander zu verbinden ist politisch allerdings ein geschickter Coup: er neutralisiert die Wirkung konservativer Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft und vertieft die vorhandene Spaltung zwischen der hier lebenden Arbeitsimmigration und Flüchtlingen.
  l Eine Normalisierung scheint sich auch im Verhältnis zur türkischen Politik in Kurdistan anzudeuten. Mir scheint, daß der Auslieferungsantrag vom PKK-Chef Öçalan nicht nur aus innenpolitischen Gründen nicht gestellt worden ist. Die neue Bundesregierung reiht sich praktisch in die europäische Phalanx der Kritiker Ankaras ein, und es scheint denkbar, daß eine gemeinsame EU-Linie zustande kommt, die den EU-Beitritt der Türkei mit dem Frieden in Kurdistan in Verbindung bringt.
  - Eine moderate Ausstiegspolitik aus der Atomenergie ist ebenso denkbar wie die Aufgabe des Projekts Transrapids - auch wenn Clement etwas anderes sagt und will.
  Meine vorsichtige These ist: Die "rot"-grüne Regierung betreibt eine gewisse Normalisierung dort, wo Hinterlassenschaften von 16 Jahren Kohl auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Das hat nichts mit einer Wende in den Grundzügen zu tun, das bleibt bürgerliche Politik, allerdings ohne Blödsinn, eine Politik, die sich den Realitäten stellt.
  Bündnis für Arbeit
  Wie eine in ihrem Sinn erfolgreiche Politik von "rot"-grün aussehen könnte, zeichnet sich am Bündnis für Arbeit ab.
  Die Einbindung von Unternehmerlager und Gewerkschaften muß gelingen. Bei den Gewerkschaften scheint das kein Problem zu sein. Der DGB geht mit Wischiwaschipositionen in die Verhandlungen; die IG BCE ist bereit, sich tarifpolitisch zurückzuhalten; und die IG Metall soll nach den Worten Harald Schartaus vom Bezirk NRW auch bereit sein, auf Forderungen der Kapitalseite einzugehen.
  Wie sich deren Verbandsvertreter in den Gesprächen verhalten werden, ist noch unklar. Sie werden es sich nicht leisten können, das Maul so groß aufzureißen, wie sie es beim ersten Bündnis für Arbeit getan haben. Ihre Unpopularität scheint ihnen mittlerweile bekannt geworden zu sein. Und sie werden nichts so fürchten wie eine Umkehr des Kräfteverhältnisses.
  Sie werden sich den Verhandlungen kaum entziehen können, allerdings auch keine Zurückhaltung an den Tag legen.
  Ein wesentlicher Verhandlungspunkt werden die Themen sein, die die IG Metall einbringen wird: Senkung von Mehrarbeit; Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche; Neuregelung der Altersteilzeit und Finanzierung der Senkung des Rentenalters auf 60 Jahre.
  Alle drei Punkte sind in der Öffentlichkeit, in den Betrieben, unter den gewerkschaftlich Aktiven sehr populär. Ihre Durchsetzung würde begrüßt werden. Das Maß der Zustimmung hinge allerdings von den entsprechenden Modalitäten ab.
  Der Trick dabei wird sein, die Kosten für die Unternehmen gering zu halten, staatliche Zuschüsse zu garantieren und einen Teil der Kosten und Folgen der Vereinbarungen auf die Beschäftigten abzuwälzen.
  Ganz deutlich wird das in der Frage des Tariffonds, wo alle Signale dahin deuten, daß dieser Fond ohne Beteiligung der Unternehmen zustande kommt.
  Damit wäre nach den Zuzahlungen bei Arzneimitteln, Krankenhaustagegeld und Pflegeversicherung eine weitere Tür aufgestoßen, das paritätische Solidarprinzip der Sozialversicherung zu durchlöchern.
  Hier würden sich die Vorstellungen von Walter Riester, Andrea Fischer und dem Arbeitgeberverband mit denen der Gewerkschaften decken. Dann wäre es auch nicht mehr weit bis zur Bedürftigkeitsprüfung beim Arbeitslosengeld.
  Die Bereitschaft, ein bundesrepublikanisches Poldermodell zu schaffen, ist in den Gewerkschaften sehr groß; selbst in der IG Metall gibt es einen Flügel, der zu weitreichenden Konzessionen bereit ist.
  Käme dies zustande, würde das einerseits einen Bruch mit der Konfrontationspolitik der Kohl- Regierung gegenüber den Gewerkschaften bedeuten. Es würde allerdings auch jede eigenständige Politik der Gewerkschaften auf absehbare Zeit in Frage stellen, einschließlich der Lohn- und Arbeitszeitpolitik.
  Schließlich wird sich die "rot"-grüne Regierung in ganz anderem Maße gegenüber oppositionellen Bewegungen als dialogfähig präsentieren, wird versuchen zu integrieren und zu vermeiden, Kritiker vor den Kopf zu stoßen. Es ist leicht sich vorzustellen, wie Trittin, Fischer, Vollmer, Riester auf Veranstaltungen Verständnis für ihre Kritiker zeigen werden und gleichzeitig in der Lage sind, für ihre Position zu werben.
  Darüber hinaus werden sie sich häufig in die Rolle des Moderators begeben, wo staatliche Verordnungen solange zurückgehalten werden, wie eine Lösung gesetzliche Intervention möglich scheint.
  In der Hinterhand bleibt immer noch die Möglichkeit, per Gesetz klare Verhältnisse zu schaffen. Riester hat dies in Richtung Arbeitgeber angedeutet mit seinen Überlegungen über die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen.
  Und Schily, der, um die Kontinuität aller Innenminister der BRD zu wahren, auf das rechte Spektrum der SPD gerückt ist, hat sich dafür ausgesprochen, nötigenfalls auch als Law-and-Order-Politiker aufzutreten.
  Im Zweifel "no tolerance".
  Udo Bonn
 
  Dieser Beitrag wurde als Einleitungsreferat auf einem Ratschlag der VSP Anfang Dezember gehalten und dort einhellig unterstützt.