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SoZ SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 02 vom 21.01.1999, Seite 16

Original und Fälschung

Eine Ausstellung über die stalinistischen Bildfälschungen

Stalins Retuschen" - so lautet der Titel einer Ausstellung, die derzeit im Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf zu sehen ist und Fotoretuschen und andere Formen der Bildmanipulation der Stalinära in der Sowjetunion zum Thema hat*.
  Zur Verfügung gestellt wurden die ausgestellten Dokumente von dem englischen Historiker und Journalisten David King, der seit fast dreißig Jahren weltweit auf der Suche nach Bildmaterial aus der Sowjetunion ist. Mittlerweile ist daraus eine Sammlung entstanden, die "jeden wichtigen Aspekt der sowjetischen Geschichte im Bild dokumentiert, mit besonderer Berücksichtigung der Alternativen zum Stalinismus".
  In Berlin ist nun eine Auswahl derjenigen Stücke dieser Sammlung zu sehen, die zeigen, wie in der Sowjetunion seit Ende der 20er Jahre Fotografien manipuliert wurden, um unliebsame Personen daraus zu entfernen - durch Retuschen oder einfach durch Wegschneiden.
  Nun sind Manipulationen dieser Art keineswegs ein Privileg des Stalinismus und Poststalinismus. Und aus Fotos Ausschnitte zu verwenden sollte prinzipiell zulässig sein. Fotografien sind kein getreues Abbild der Realität - schon gar nicht im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung.
  Das Besondere an den Retuschen der Stalin-Ära ist jedoch, daß sie systematisch in i.d.R. bewußt verfälschender Absicht betrieben wurden, vor allem aber, daß die weggeschnittenen oder mit Hilfe der Airbrush-Technik unter einer Wolke von Tusche verborgenen Personen meistens auch physisch vernichtet wurden: nach Schauprozessen (1936-1938) hingerichtet, in denen die Angeklagten angebliche Verbrechen gestanden, die sie nie begangen hatten (z.B. Sinowjew, Bucharin); in den Kellern der GPU ohne öffentliches Verfahren erschossen (Jenukidse, Rudsutak); in den Selbstmord getrieben (Joffe, Tomski); im Gulag ermordet oder verschwunden (Radek, Preobrashenski).
  Besonders schockierend, weil sie die physische Vernichtung der Personen vor Augen führen, sind jene Bilder, auf denen die Gesichter der Ermordeten zerkratzt oder mit Farbe übermalt sind. "War jemand verhaftet worden oder ‚verschwunden', so durfte weder sein Name genannt noch sein Bild aufbewahrt werden, wollte man nicht selbst in Gefahr geraten" (David King). Dies führte dazu, daß die Sowjetbürger die Bilder ihrer privaten Fotoalben oder in ihren eigenen Büchern verstümmelten.
  Opfer des Terrors und der anschließenden Austilgung auf Fotos und Gemälden waren auch seine unmittelbaren Handlanger: Stalins Schergen, die NKWD-Chefs Jagoda und Jeshow, wurden Ende der 30er Jahre ebenso aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen wie ein Jahrzehnt zuvor Stalins Widersacher Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution und seit 1923 die zentrale Gestalt der antibürokratischen kommunistischen Opposition.
  Trotzki, über den David King bereits 1972 eine Bildbiografie veröffentlichte (zuletzt erschienen 1986 bei Oxford University Press), war auch der Anlaß für die bekannteste Fotomanipulation in der Sowjetunion: Lenin spricht am 5.Mai 1920 vor dem Bolschoi-Theater in Moskau von einem Holzpodium zu Rotarmisten vor ihrem Abmarsch nach Polen, wo sie gegen die Armee Pilsudskis kämpfen sollen. Auf den Stufen rechts neben dem Podium sieht man Trotzki, der den hinter ihm stehenden Kamenew teilweise verdeckt. Diese Aufnahme - und eine, die einen Moment später aufgenommen wurde und auf der Trotzki im Profil zu sehen ist - war zu Lenins Lebzeiten weltweit verbreit. Nach Trotzkis Sturz konnte sie in der UdSSR (und später in den sog. Volksdemokratien) nie mehr vollständig öffentlich gezeigt werden. Statt dessen wurden bei der späteren Aufnahme Trotzki und Kamenew durch Holzstufen ersetzt. Das gefälschte Foto seinerseits bildete 1933 für Isaak Brodski, einen Hauptvertreter des "sozialistischen Realismus", die Vorlage für ein monumentales Gemälde, dessen Reproduktion millionenfach verkauft wurde.
  Den meisten der retuschierten Fotos sieht man deutlich an, daß sie auf diese Weise "korrigiert" wurden. Zum Glück verfügten Stalins Zensoren noch nicht über die digitalen Bildbearbeitungsprogramme, mit denen heute - je nach Geschicklichkeit des Anwenders - perfekte Fälschungen möglich sind.
 
  *Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, noch bis zum 7.Februar, geöffnet dienstags bis sonntags 12-20 Uhr.
  Buch zur Ausstellung: David King, Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion, Hamburg (Hamburger Edition) 1997, 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 48 Mark.