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Stalins Retuschen" - so lautet der Titel einer Ausstellung, die derzeit im
Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf zu sehen ist und Fotoretuschen und andere Formen der
Bildmanipulation der Stalinära in der Sowjetunion zum Thema hat*.
Zur Verfügung gestellt wurden die ausgestellten Dokumente von dem englischen Historiker und
Journalisten David King, der seit fast dreißig Jahren weltweit auf der Suche nach Bildmaterial aus der
Sowjetunion ist. Mittlerweile ist daraus eine Sammlung entstanden, die "jeden wichtigen Aspekt der
sowjetischen Geschichte im Bild dokumentiert, mit besonderer Berücksichtigung der Alternativen zum
Stalinismus".
In Berlin ist nun eine Auswahl derjenigen Stücke dieser Sammlung zu sehen, die zeigen, wie in der
Sowjetunion seit Ende der 20er Jahre Fotografien manipuliert wurden, um unliebsame Personen daraus zu
entfernen - durch Retuschen oder einfach durch Wegschneiden.
Nun sind Manipulationen dieser Art keineswegs ein Privileg des Stalinismus und Poststalinismus. Und aus
Fotos Ausschnitte zu verwenden sollte prinzipiell zulässig sein. Fotografien sind kein getreues Abbild
der Realität - schon gar nicht im Zeitalter der digitalen Bildbearbeitung.
Das Besondere an den Retuschen der Stalin-Ära ist jedoch, daß sie systematisch in i.d.R.
bewußt verfälschender Absicht betrieben wurden, vor allem aber, daß die weggeschnittenen
oder mit Hilfe der Airbrush-Technik unter einer Wolke von Tusche verborgenen Personen meistens auch
physisch vernichtet wurden: nach Schauprozessen (1936-1938) hingerichtet, in denen die Angeklagten
angebliche Verbrechen gestanden, die sie nie begangen hatten (z.B. Sinowjew, Bucharin); in den Kellern der
GPU ohne öffentliches Verfahren erschossen (Jenukidse, Rudsutak); in den Selbstmord getrieben (Joffe,
Tomski); im Gulag ermordet oder verschwunden (Radek, Preobrashenski).
Besonders schockierend, weil sie die physische Vernichtung der Personen vor Augen führen, sind jene
Bilder, auf denen die Gesichter der Ermordeten zerkratzt oder mit Farbe übermalt sind. "War
jemand verhaftet worden oder ‚verschwunden', so durfte weder sein Name genannt noch sein Bild
aufbewahrt werden, wollte man nicht selbst in Gefahr geraten" (David King). Dies führte dazu,
daß die Sowjetbürger die Bilder ihrer privaten Fotoalben oder in ihren eigenen Büchern
verstümmelten.
Opfer des Terrors und der anschließenden Austilgung auf Fotos und Gemälden waren auch seine
unmittelbaren Handlanger: Stalins Schergen, die NKWD-Chefs Jagoda und Jeshow, wurden Ende der 30er
Jahre ebenso aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen wie ein Jahrzehnt zuvor Stalins
Widersacher Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der Oktoberrevolution und seit 1923 die
zentrale Gestalt der antibürokratischen kommunistischen Opposition.
Trotzki, über den David King bereits 1972 eine Bildbiografie veröffentlichte (zuletzt erschienen
1986 bei Oxford University Press), war auch der Anlaß für die bekannteste Fotomanipulation in
der Sowjetunion: Lenin spricht am 5.Mai 1920 vor dem Bolschoi-Theater in Moskau von einem Holzpodium
zu Rotarmisten vor ihrem Abmarsch nach Polen, wo sie gegen die Armee Pilsudskis kämpfen sollen.
Auf den Stufen rechts neben dem Podium sieht man Trotzki, der den hinter ihm stehenden Kamenew teilweise
verdeckt. Diese Aufnahme - und eine, die einen Moment später aufgenommen wurde und auf der
Trotzki im Profil zu sehen ist - war zu Lenins Lebzeiten weltweit verbreit. Nach Trotzkis Sturz konnte sie in
der UdSSR (und später in den sog. Volksdemokratien) nie mehr vollständig öffentlich
gezeigt werden. Statt dessen wurden bei der späteren Aufnahme Trotzki und Kamenew durch
Holzstufen ersetzt. Das gefälschte Foto seinerseits bildete 1933 für Isaak Brodski, einen
Hauptvertreter des "sozialistischen Realismus", die Vorlage für ein monumentales
Gemälde, dessen Reproduktion millionenfach verkauft wurde.
Den meisten der retuschierten Fotos sieht man deutlich an, daß sie auf diese Weise
"korrigiert" wurden. Zum Glück verfügten Stalins Zensoren noch nicht über
die digitalen Bildbearbeitungsprogramme, mit denen heute - je nach Geschicklichkeit des Anwenders -
perfekte Fälschungen möglich sind.
*Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, noch bis zum 7.Februar, geöffnet dienstags bis sonntags
12-20 Uhr.
Buch zur Ausstellung: David King, Stalins Retuschen. Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion,
Hamburg (Hamburger Edition) 1997, 192 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 48 Mark.